Wüstehube, Bianka

Auch Vorbilder müssen hinterfragt werden

Zur Beziehung von didaktischen Theorien und instrumentalpädagogischer Praxis

Rubrik: Werkstatt
erschienen in: üben & musizieren 4/2002 , Seite 53

Im Fach Lehrpraxis in der Studienrichtung Instrumental- und Gesangspädagogik (bzw. Diplom-Musikerziehung) an einer Musikhochschule unterrichten viele Studentinnen das erste Mal. Sie sind sehr engagiert, wollen ihre Sache gut machen und stehen verständlicherweise auch unter einer gewissen Anspannung. Die Lehrpraxislehrerin und andere Studentinnen schauen zu und im Anschluss wird die gehaltene Stunde besprochen. Natürlich bereiten die Studentinnen eine solche Instrumentalstunde besonders gut vor. Sie wollen z. B. Konzepte, Methoden, Unterrichtsprinzipien, Tipps und Tricks, die sie in der Didaktik gelernt haben, verwirklichen.

Es wird mit hoher Motivation unterrichtet, aber meistens stellt sich in der Nachbesprechung heraus, dass von den neu erworbenen Methoden wenig bis gar nichts umgesetzt wurde. Die Studentinnen unterrichten eher so, wie sie es von ihrem eigenen Instrumentalunterricht her kennen. Wenn sie eine Videoaufnahme ihres Lehrversuchs betrachten, sind sie oft überrascht, wie sehr ihr Lehrverhalten dem ihrer jetzigen oder auch dem früherer Lehrerinnen gleicht. Somit stellt sich die Frage, ob der Didaktikunterricht überhaupt eine Chance gegenüber dem prägenden Einfluss des Hauptfachunterrichts hat bzw. wie man die Studentinnen dazu bringen kann, didaktische Einsichten wirklich in ihr Lehrverhalten zu integrieren.(1)

Selbst Studentinnen, die im Seminar für  Allgemeine Didaktik neuen Methoden gegenüber aufgeschlossen sind und Positionen vertreten, die sie selbst entdeckt und nicht in ihrem Instrumentalunterricht kennen gelernt haben, fallen beim Unterrichten in jene Verhaltensmuster zurück, die sie von ihren Lehrerinnen her kennen. Das geht nicht nur Instrumentallehrerinnen so. Auch in der Schulpädagogik unterrichten Lehrerinnen oft so, wie sie es aus ihrer Schulzeit kennen, ein Phänomen, das Jochen und Monika Grell wie folgt beschreiben: „Die meisten Praktikanten laufen schnurstracks der Unterrichtstradition in die Arme. […] Man erinnert sich an den Unterricht, den man jahrelang als Schüler erlebt hat und zitiert aus diesen Memorien, ein Vorgang, der bei vielen offenbar ganz automatisch und ohne bewußte Kontrolle abläuft.“(2)

Sicherlich spielt hier der Zeitfaktor eine große Rolle. Fünfzehn Jahre Erfahrung im Instrumentalunterricht sind wirksamer als vier Semester Didaktik und offensichtlich ist das Lernen am Modell auch wesentlich intensiver als das theoretische Erarbeiten neuer Konzepte und Methoden. Studentinnen geben in Umfragen an, dass die Didaktik, die Methodik und das Verhalten der Hauptfachlehrerin am prägendsten für ihr eigenes Verhalten als Lehrerin sind. Vielleicht ist die besondere Zweierbeziehung zwischen Instrumentallehrerin und Schülerin mit der zwischen Eltern und ihren Kindern zu vergleichen. Wie oft hört man von jungen Eltern: „So wie meine Mutter/mein Vater werde ich das mit meinen Kindern nie machen.“ Und dann brechen, vor allem in Stresssituationen, genau die erlebten und gelernten Verhaltensmuster durch.

Natürlich ist es nicht auf jeden Fall schlecht, wenn Instrumentallehrerinnen so unterrichten, wie es die eigenen Lehrerinnen getan haben. Denn sicherlich gibt es viele Dinge, die zu übernehmen und weiterzuführen sind. Es geht vielmehr um ein Bewusstwerden. Die Lehrerin sollte bewusst entscheiden, was sie in ihren Unterricht übernehmen will und was nicht.

Wenn also die Studentinnen selbst sagen, dass das Verhalten ihrer Instrumentallehrerinnen ihr eigenes Lehrverhalten am meisten prägt, dann ist es unbedingt notwendig, dass die Studentinnen den selbst erlebten Instrumentalunterricht beobachten und analysieren. Dazu kann das Seminar Allgemeine Didaktik anregen. Bevor es in diesem Seminar um neue Konzepte und Methoden geht, sollten vielmehr pädagogische Muster bewusst gemacht und der Studentin geholfen werden, Distanz zum eigenen Unterricht zu bekommen. Aus der Reflexion heraus sollte man dann fähig sein Entscheidungen zu treffen, welchen Teil des „pädagogischen Erbes“ man antreten will und welchen nicht. Darüber hinaus kann das Seminar auch helfen, dass die Studentinnen ihren Hauptfachunterricht nicht nur passiv entgegennehmen, sondern aktiv mitgestalten. In einem Didaktikseminar am Bruckner-Konservatorium Linz wurde versucht, diesen Weg zu gehen.

Erste Sitzung

Die Studentinnen werden von der Seminarleiterin als „Experten“ begrüßt. Anders als in anderen Studiengängen haben sie bereits jahrelange Erfahrung mit dem Gegenstand des Studiums, also mit Instrumentalunterricht. Da sie meistens schon bei drei oder mehr Lehrerinnen Unterricht genommen haben, haben sie schon viele Methoden und Unterrichtskonzepte kennen gelernt. Somit geht es in diesem Seminar eher darum, die Erfahrungen der Teilnehmerinnen zu sammeln und zu analysieren. Allerdings muss ihnen auch bewusst sein, dass sie ganz besondere Schülerinnen sind, nämlich solche, die Musik zu ihrem Berufswunsch gemacht haben und die es bis zur Musikhochschule geschafft haben: Diese Schülerinnen hatten vermutlich kaum Motivationsprobleme, es ist ihnen eher leicht gefallen, die Instrumentalbewegungen zu lernen und sie sind wahrscheinlich überdurchschnittlich musikalisch begabt. Daraus folgt, dass Studentinnen der Instrumentalpädagogik klar sein muss, dass sie für ihre künftigen Schülerinnen vermutlich noch andere Methoden und didaktische Ansätze brauchen als jene, die bei ihnen selbst erfolgreich waren. Aber beginnen wir mit den methodischen und didaktischen Erfahrungen aus dem eigenen Unterricht: Für die Studentinnen war ein Plakat vorbereitet worden mit der Aufschrift „Instrumentalunterricht macht Spaß, wenn…“. Sie wurden aufgefordert, diesen Satz zu ergänzen.

Um einige Beispiele zu nennen:

– Instrumentalunterricht macht Spaß, wenn die Lehrerin die Schülerin auch mal lobt.

– Instrumentalunterricht macht Spaß, wenn die Schülerin geübt hat.

– Instrumentalunterricht macht Spaß, wenn die Schülerin ausgeschlafen und konzentriert ist.

– Instrumentalunterricht macht Spaß, wenn Stücke gespielt werden, die auch die Schülerin mag.

Anschließend wurden alle Aussagen diskutiert und verallgemeinert, um zu grundsätzlichen Fragestellungen zu gelangen. So führte z. B. der erste genannte Satz zu einer Diskussion über Lob und Kritik, über verschiedene Methoden des Beurteilens und zu der Frage, was denn die Instrumentallehrerin eigentlich überhaupt zu beurteilen hat. In diesem Zusammenhang wurden die Teilnehmerinnen von der Seminarleiterin dann gefragt, ob auch sie nach einer guten Stunde ihre Lehrerin loben. Fast alle Studentinnen reagierten verdutzt auf diese Frage. Auf diese Idee war bis jetzt niemand gekommen, man empfand es teilweise sogar als anmaßend die Lehrerin zu loben oder gar zu kritisieren. Man könne sich eventuell höflich bedanken, aber mehr nicht. Überhaupt fiel nun auf, dass sich mehrere Beiträge um das Verhalten der Schülerinnen drehten. Für viele Studentinnen war es ein völlig neuer Gedanke, dass auch die Schülerin für das Gelingen des Unterrichts mit verantwortlich ist.

Die Studentinnen wurden gebeten, zur nächsten Sitzung eine persönlich bedeutsame Geschichte aus ihrem Instrumentalunterricht aufzuschreiben. Die Seminarleiterin stimmte sie auf diese Aufgabe ein, indem sie einige Geschichten über den Instrumentalunterricht vorlas.(3)

Zweite Sitzung

In der zweiten Sitzung wurden diese Geschichten von der Seminarleiterin – natürlich ohne Angabe der Autorinnen – vorgelesen. Besonders erstaunlich war, dass nahezu jede Studentin bei dieser Aufgabe offensichtlich ins Nachdenken gekommen war, da keine Arbeit weniger als drei Seiten hatte und manche sogar zwei oder drei Begebenheiten schilderten. In den Geschichten ging es fast immer um pädagogische Fragen im engeren Sinn, also weniger um methodische Details als vielmehr um grundsätzliche Probleme des pädagogischen Bezugs wie: Ermuntert die Lehrerin oder behandelt sie ihre Schülerin herabwürdigend, ist sie fürsorglich oder drillt sie ihre Schützlinge, kann sie begeistern und ist sie ein Vorbild oder ist sie ignorant?

Es folgen zwei exemplarische Aufzeichnungen. Der erste Bericht zeigt ein Lehrverhalten, das scheinbar positiv und ermutigend daher kommt, hinter dessen freundlicher Fassade sich jedoch Ignoranz zu verbergen scheint:

Ich klopfe zaghaft an die Türe – wie jede Woche erwarte ich auch heute keine Antwort. Ich öffne die Türe langsam, erblicke den Schüler, der gerade eine Etüde zum Besten gibt, sehe den Lehrer auf seinem Stuhl sitzen, berühre die Türklinke von innen, schließe die Türe so leise wie möglich, um meinem „Vorgänger“ ja nicht zu stören und stelle mich unsicher und überflüssig fühlend in eine Ecke des Raumes und höre zu. 20 Minuten nach meinem Eintritt in den Raum stelle ich mir die Frage, ob mein Lehrer mich überhaupt schon bemerkt hat. Sollte er mich nicht eigentlich unterrichten?

Endlich – er fordert mich zum Auspacken meines Instrumentes auf. Meine Nervosität steigt: „Wird er diesmal merken, wie unvorbereitet ich in die Stunde komme? Wird er mir diesmal endlich eine Standpauke halten? Abwarten!

Ich spiele den ersten Ton – Lippenbindung, Dreiklänge, Tonleitern, chromatische Übungenfolgen. Nur selten vernehme ich die Stimme meines Lehrers, die mir verrät, dass ich doch nicht alleine im Zimmer bin. Viel öfter höre ich meine innere Stimme, die mir immer wieder sagt. Spiel nicht so schlampig!

Ich spiele das nächste Stück, bin selbst über all die kleinen Fehler unzufrieden, warte auf einen kritischen Kommentar meines Lehrers – doch diesem scheint alles zu gefallen. Wieder einmal höre ich den mir mittlerweile total verhassten Satz: Super, sehr schön, viel besser geht es nicht!

Mein Erregungszustand ist bereits auf 1000. Das gibt’s doch nicht! Zweifel an der Kompetenz meines Lehrers kommen auf: Ist er schon so alt, dass seine Ohren die Unsauberkeiten nicht mehr wahrnehmen? Hat er bereits so viele Dienstjahre hinter sich, dass er das „Tröten“ der Schüler nicht mehr ertragen kann und einfach weghört? Oder glaubt er, ich kann nicht besser spielen?

Total frustriert wegen der Teilnahmslosigkeit meines Lehrers versuche ich zu experimentieren. Temposchwankungen, schlecht artikulierte Töne, unreine Intonation werden von mir in das Konzert eingebaut. Darauf muss er doch reagieren! Tatsächlich, er fängt an zu sprechen: Sehr schön gespielt, sehr gut gelungene Interpretation. Innerlich kochend vor Wut verlasse ich den Unterrichtsraum. Die Entschlossenheit meinen Lehrer zu wechseln ist wieder ein wenig gewachsen.

Aber es gibt auch Positives zu berichten:

Am meisten fasziniert mich die Art und Weise, wie mein Klavierlehrer die Stunden bzw. den Unterricht gestaltet. Es ist für mich eine völlig neue, unbekannte Welt. Ich habe zuvor Unterricht nach der ganz strengen Art genossen und Musik als unerreichbare und strenge Disziplin empfunden. Es enthält für mich nun etwas völlig Neues, nämlich Freiheit und Gefühl, etwas mit dem ich zuvor den Begriff Musik überhaupt nicht verband. Er handelt, so glaube ich sagen zu können, sehr intuitiv und situationsbezogen, wodurch sich immer neue und spannende Situationen im Unterricht ergeben. Es ist eigentlich nie langweilig. Am glücklichsten bin ich, wenn er mir die Stücke vorspielt, die wir dann gemeinsam erarbeiten. Er spielt mir immer vor und ich darf auch auswählen. Ich beobachte ihn auch beim Spielen,… Natürlich habe ich dann zuhause beim Üben dieses Bild oft vor mir und versuche es ihm gleich zu tun.

Ich genieße es auch, wie wir über musikalische Phrasierung und Gestaltung an den einzelnen Stücken sprechen. Er animiert mich immer, etwas von mir, von meinen Gedanken, in die Stücke einfließen zu lassen, wodurch ich natürlich noch motivierter werde. Es ist ja schließlich etwas von mir!

Besonders angetan bin ich von der Art, wie er mich als Schüler behandelt. Ich erfahre durch ihn immer wieder, wie wichtig es ist, eine eigene Meinung zu haben und diese artikulieren zu können. Diese Gespräche gehen oft weit über das Thema Musik hinaus. Für mich ist er nicht nur ein Lehrer, sondern fast auch ein Freund.

Auf der Grundlage der ausgewerteten Geschichten haben die Studentinnen ein Beobachtungsraster für den Instrumentalunterricht herausgearbeitet. Wie schon erwähnt ging es vor allen Dingen um pädagogische Kriterien. Ich betone das deshalb, weil die Didaktik oft dazu neigt, methodische und didaktische Fragen zu klären und sich weniger um pädagogische zu kümmern. Den Studentinnen aber scheint zunächst wichtig zu sein, was da für ein Mensch vor ihnen steht und wie er sie behandelt. Und natürlich ergeben sich daraus auch Methoden und didaktische Ansätze. Anhand der hier abgedruckten Geschichten z. B. konnten die Studentinnen über verschiedene Bedürfnisse der Schülerinnen in Bezug auf Lob und Kritik diskutieren, über die Körpersprache der Lehrerin, über verschiedene Methoden des Lernens wie Vor- und Nachmachen, Erarbeiten des Verfahrens usw. Aber vermutlich nützt – drastisch formuliert – die beste Methode nichts bei einer Lehrerin, die ihrer Schülerin gegenüber ignorant ist und diese verächtlich behandelt. So ergaben sich für die Teilnehmerinnen diese Seminars aufgrund der Auswertung ihrer eigenen Erfahrungen folgende Beobachtungskriterien für den Instrumentalunterricht:

Verhalten der Lehrerin

– Musikalische Kompetenz

– Sprachliche Kompetenz

– Verhältnis zur Schülerin

– Körpersprache

– Führungsqualität

– Reaktion auf unvorhergesehene Ereignisse

Verhalten der Schülerin

– Verhältnis zur Sache

– Verbale Ausdrucksweise

– Verhältnis zur Lehrerin

– Körpersprache

– eigenes Engagement

– Stellung in der Gruppe

Stundenablauf

– Unterrichtsablauf

– Methodenwahl

– Stundenplanung

Beobachtungskriterien für den Instrumentalunterricht

Selbstverständlich war den Studentinnen bewusst, dass dies keine vollständige Liste von möglichen Beobachtungskriterien für den Instrumentalunterricht ist. Sie wollten sich aber aufgrund ihrer Erfahrungen zunächst mit diesen auseinander setzen. Man einigte sich darauf, die Liste der Beobachtungskriterien später noch zu erweitern, um die im Studienplan vorgeschriebenen Hospitationsstunden, die jede Studentin absolvieren muss, sinnvoll zu nutzen und wirklich beobachten zu lernen. Im Seminar wurden dann einige Beispiele für den Unterricht prominenter Lehrerinnen auf Video gezeigt und anschließend anhand der Beobachtungskriterien diskutiert.

Nachdem das Beobachten und Reflektieren auf diese Weise schon ein wenig geübt worden war, sollten die Studentinnen zur nächsten Sitzung ihren eigenen Instrumentalunterricht unter die Lupe nehmen.

Dritte Sitzung

In der dritten Sitzung sollten die Studierenden berichten, was sie beobachtet hatten. Im Vergleich zur ersten Sitzung war festzustellen, dass die Studentinnen ihren Unterricht sehr viel detaillierter und analytischer beschreiben konnten. Vor allen Dingen war festzustellen, dass sie begonnen hatten, ihren Unterricht nicht mehr nur als gegeben („Das ist halt so“) wahrzunehmen, sondern als veränderbare Größe, als Prozess,  an dessen Gelingen sie als Schülerinnen maßgeblich beteiligt sind. Sie sollten auch beschreiben, was ihre Lehrerin besonders gut kann und was ihnen an ihr nicht so gut gefällt. Genauso sollten sie aufschreiben, was ihre eigenen Qualitäten als Studentin sind und wo sie ihre Defizite sehen. Dabei gab es neue Einsichten. Um ein Beispiel zu nennen: Viele Studentinnen kritisierten an ihren Lehrerinnen, dass alles vorgegeben werde und sie z. B. nicht das zu erarbeitende Repertoire mitbestimmen dürfen. Sie waren nun überrascht zu hören, dass ihre Lehrerinnen genau dasselbe an ihnen kritisierten. Die Seminarleiterin hatte nämlich gleichzeitig die Lehrerkolleginnen gebeten, einmal aufzuschreiben, was sie an ihren Schülerinnen generell loben und kritisieren würden. Die Lehrerinnen hielten ihre Studentinnen überwiegend für zu zurückhaltend und zu antriebsarm. Sie wünschten sich, dass die Studentinnen sich mehr einbringen würden. Offensichtlich bedurfte es der Kommunikation zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen, um diese Problematik anzugehen, d. h. aber auch,  dass die Studierenden von sich aus mit Engagement an die Problemlösung gehen konnten.

Die Aufgabe zur nächsten Sitzung wurde nun etwas modifiziert: Es sollte versucht werden entweder die Lehrerin auf kritische Punkte anzusprechen oder durch eine Veränderung des eigenen Verhaltens Einfluss auf den Unterricht zu nehmen. Natürlich wurde kein Zwang ausgeübt: Nur wer sich dieser Herausforderung wirklich stellen wollte, sollte das auch tun.

Vierte Sitzung

In der vierten Sitzung wurde berichtet, dass sich tatsächlich bei vielen etwas im Instrumentalunterricht bewegt hatte. Das waren teilweise ganz kleine Veränderungen, teilweise auch große Schritte. Eine Studentin hatte z. B.  gestört, dass in ihrem Instrumentalunterricht immer wieder das Handy der Lehrerin klingelte. Angeregt durch das Seminar sprach sie mit einigem Herzklopfen das Problem bei ihrer Lehrerin an. Diese zeigte sich sehr verständnisvoll und versprach, das Handy in Zukunft ausgeschaltet zu lassen. Eine andere Studentin fand sich selbst immer ziemlich zurückhaltend, traute sich aber auch nicht, aktiver im Unterricht zu sein, weil die Lehrerin auch sehr zurückhaltend war. Das Seminar ermutigte sie mehr Engagement zu zeigen und sie berichtete völlig begeistert, dass plötzlich auch ihre Lehrerin viel aktiver und engagierter unterrichtete.

Der Transfer vom Seminar Didaktik zum Instrumentalunterricht hin war also in Gang gekommen. Die Studentinnen hatten ihre Lehrerin beobachtet, gemeinsam hatten sie im Seminar über die verschiedenen Verhaltensweisen von Lehrerinnen diskutiert. Sie hatten sich Gedanken über ihre eigenen Verhaltensweisen gemacht und aktiver in den Unterrichtsprozess eingegriffen. Die Studentinnen sollten nun für sich klären, welche Unterrichtsprinzipien und Methoden sie von ihren Lehrerinnen dauerhaft übernehmen wollten. In den verbleibenden Seminarsitzungen und natürlich auch in der Fach- und in der allgemeinen Didaktik würden die Studentinnen dann weitere Ansätze kennen lernen, um auch völlig anderen Unterrichtssituationen und anderen Typen von Schülerinnen gerecht zu werden. Sie konnten neue Methoden und Unterrichtskonzepte durch das Bewusstmachen ihres eigenen Unterrichts nun sehr viel offener entgegennehmen und vor allen Dingen die neuen Lernstoffe mit bereits vorhandenen eigenen Erfahrungen verknüpfen. In der Lehrpraxis war zu beobachten, dass die Studentinnen ihrem Lehrverhalten gegenüber viel aufmerksamer waren und nicht so schnell in Verhaltensmuster ihrer Lehrerinnen verfielen.

Vielleicht sollte jede Lehrerin einmal in sich gehen und sich an Unterrichtssituationen erinnern, in denen sie als Schülerin mit Lust musiziert hat. Und dann sollte sie diese Situationen, an die sie sich mit Lust erinnert und in denen sie das Instrumentalspiel wirklich genossen hat, möglichst oft den Schülerinnen ermöglichen.

(1) Marion Saxer gibt in ihrem Artikel „Erinnern und Verstehen“, in: Üben & Musizieren 2/02 viele Anregungen, wie man sich als Instrumentallehrerin mit der eigenen Lernbiografie auseinander setzen kann.

(2) Jochen Grell/Monika Grell: Unterrichtsrezepte, Weinheim und Berlin 1983, S. 15.

(3) z. B. aus folgenden Büchern: Patrick Süskind: Die Geschichte des Herrn Sommer, Diogenes, Zürich 1991, die Szene im Klavierunterricht mit Fräulein Funkel, S. 79 ff., Erna Ronca: Fis, Schätzchen. Sechs Klaviergeschichten, Einsiedeln 1995 (Dieses Buch wird in dem Artikel von Marion Saxer näher vorgestellt.) sowie Ruth Rehmann: Abschied von der Meisterklasse, München 1985.

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