Puls, Hartmut

Erfahrungen aus der Körperarbeit mit MusikstudentInnen

Prophylaxe von Spielerkrankungen als Lehrfach an der Musikhochschule „Hanns Eisler“ Berlin

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2000 , Seite 27

Die physiologische Situation von Musikstudierenden eröffnet dem Bewegungslehrer ein weites, praktisches und wissenschaftliches Betätigungsfeld. In seinem Buch Lebensschule schreibt Yehudi Menuhin: “Meine Grundregel für das Spielen ist umfassend und ganz einfach: nach Gleichgewicht streben. Das vollkommene Gleichgewicht ist freilich ein unerreichbares Ideal, eine vielschichtige und unendlich komplizierte Angelegenheit. Dennoch kann man eine Art statisches Gleichgewicht erreichen, wenn man begreift, daß kein Körperteil sich bewegt, ohne eine entsprechende Reaktion in einem anderen Körperteil auszulösen. […] Unser höchstes Ziel ist also, ein Gefühl für geringste Gewichtsverlagerungen und Schwankungen zu entwickeln. Dieses Gefühl kann nicht fein genug sein. […] Jeder Teil des Körpers bewegt sich dann am besten, wenn er sich in Harmonie mit den anderen Knochen, Muskeln und Gliedern bewegt. Für mich ist das Geigen ein Vorgang, bei dem sich der Körper des Spielers seiner selbst und seiner inneren Harmonie bewußt wird.”1 Wie störanfällig diese Harmonie ist, weiß jede ausübende Musikerin, weiß jeder Lehrer.

Musizieren ist ein in höchstem Maße integrativer Prozess, der Hören und Sehen, theoretische Kenntnisse und Gedächtnis, Muskeltraining und Körpergefühl, Klangsinn und Ausdruckskraft in ganz besonderer Weise miteinander verbindet. Erst durch diese Verbindung entsteht die Leistung des Musikers, erst durch die Integration aller Seiten der Persönlichkeit gelangt man über das “bloß” Handwerkliche der Musik hinaus zum Musizieren als Kunst.2 Dahinter verbirgt sich eine in zahllosen Übestunden erreichte Anpassung des Körpers an das Instrument und seine Anforderungen.

Jede Bewegungsleistung, die das natürliche Gleichgewicht der Muskulatur (die muskuläre Balance) verändert – sei es durch übermäßigen Gebrauch oder durch Nichtgebrauch -, birgt gesundheitliche Risiken am Bewegungssystem des Menschen in sich. Die Probleme, die MusikerInnen dabei haben können, sind nicht erst heute entstanden. Bereits seit dem 18. Jahrhundert – beginnend mit Ramazzini und seinem Buch Die Krankheiten der Musiker und Künstler – beschäftigen sich Ärzte mit tätigkeitsspezifischen Krankheiten. Als Summe können diese Ergebnisse allerdings bis heute noch nicht befriedigen. Eine Vielzahl von aktuellen Veröffentlichungen – ich verweise nur auf Wagner, Wurz, Mahlert und Bastian in dieser Zeitschrift3 und auf den Beitrag von Schuppert/Altenmüller vom Mai dieses Jahres in Das Orchester4 – zeigt, wo wir stehen: Bis zu 80 Prozent aller BerufsmusikerInnen haben mindestens ein gesundheitliches Problem, das sie beim Musizieren beeinträchtigt. Eindringlich wird gefordert, die Vermittlung von musikphysiologischem Wissen, Unterrichtung über die physischen Grundlagen des Musizierens und geeignete Präventionsprogramme in die Ausbildung zu integrieren.5 Die in Untersuchungen ermittelte Expositionszeit von 11 bis 24 Jahren vom Beginn des intensiven Instrumentalspiels bis zur Manifestierung einer Spielerkrankung zeigt nicht nur, wie lange der Körper Belastungen toleriert, sondern weist auch den Weg, die Möglichkeiten der Vermeidung von Spielerkrankungen in der Veränderung des Umgangs des Musikers mit dem eigenen Körper zu suchen.

Die Ursachen von Spielerkrankungen sind äußerst vielfältig. Teils ergeben sie sich aus der anatomischen, biomechanischen und mentalen Individualität jedes Künstlers bzw. in deren unzureichender Beachtung, teils resultieren sie aus dem Umfang und der Art des Übens und einer womöglich einseitigen Belastung, aus technischen Schwierigkeiten verbunden mit Leistungsdruck (Stress) und dem unbedingten Streben nach Perfektion. Jochen Blum stellt die Frage: Ist das Verhältnis des Musikers zum eigenen Körper gestört und bildet dies die Grundlage für Überlastungen und Erkrankungen?6

Viele ungelöste Probleme sind in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Musikpädagogen, Medizinern, Physiologen und Bewegungslehrern zu untersuchen. Viele Fragen sind auch schon beantwortet; es fehlt jedoch noch an einer umfassenden Umsetzung in der Ausbildungspraxis. Eine Antwort ist dabei unbestritten: Auf dem langen Weg vom Talent zur Meisterschaft ist die Prophylaxe die beste Maßnahme.

Viele Risikofaktoren kann die Musikerin bzw. der Musiker – ob AnfängerIn, StudentIn oder MeisterIn – selbst beeinflussen. Vorausgesetzt, er oder sie weiß wie. MusikerInnen bewegen sich in ihren körperlichen Spielräumen und Grenzen. Die individuelle Konstitution bestimmt ihre Belastbarkeit, wozu neben der Morphologie insbesondere Muskelkraft und Gelenkbeweglichkeit als biomechanische Determinanten zählen.

Untersuchungen zeigen eindeutig: MusikerInnen, die sich mit Entspannungstechniken, Yoga oder Feldenkrais-Übungen beschäftigen oder die Sport treiben (Gymnastik, Schwimmen, Radfahren, Krafttraining), kommen relativ gut mit dem beruflichen Alltag und der psychophysischen Belastung zurecht. Wer körperlich fit ist und insgesamt einen guten Muskeltonus besitzt, bleibt zumeist resistent gegen Gesundheitsschäden am Instrument. Dies stellte Brandfonbrener fest.7

Ein PräventionskonzeptSeit 1987 beschäftige ich mich an der Musikhochschule “Hanns Eisler” in Berlin mit der Vermeidung von Spielerkrankungen. Dazu habe ich ein Lehrkonzept erarbeitet und erprobt, das ich im Folgenden vorstellen möchte. Dieses Lehrkonzept, das sich ständig weiterentwickelt, habe ich zunächst “Prophylaxe von Spielerkrankungen” genannt, dann aber – in Diskussion mit den HauptfachlehrerInnen – den Begriff “Physioprophylaxe” gewählt, weil der erste Name zu eng erschien. Das Wort “Physioprophylaxe” ist eigentlich nicht richtig. Wörtlich wäre es mit “Körpervorbeugung” zu übersetzen. Der Vorteil des Begriffs liegt darin, dass er eine Assoziation zum Wort “Physiotherapie” herstellt. Das kennt jeder. Und jeder weiß, dass es eine unangenehme Situation ist, wenn man diese in Anspruch nehmen muss. Der Begriff Physiotherapie zeigt die Richtung, deckt aber nicht vollständig den Inhalt des entwickelten Konzepts ab.

Welche Ziele werden verfolgt? Im Mittelpunkt steht die Vermeidung von Spielerkrankungen. Das ist eine sehr komplexe Aufgabe, die ein vielfältiges Herangehen erfordert. Dazu gehören sowohl die Vermittlung von Kenntnissen über die Funktionsweise von Muskeln, Bändern, Gelenken und ihr Zusammenspiel, praktische Übungen im Ausgleichen einseitiger Belastungen und ein vielseitiges allgemeines Fitnesstraining als langfristige Aufgabe. Aktuell muss das Training so gestaltet sein, dass die TeilnehmerInnen Erfahrungen im richtigen Umgang mit ihrem Körper sammeln, unmittelbar ihr Körperbewusstsein und ihre physiologischen Voraussetzungen für das Üben optimieren.

Zu Letzterem gehören die allgemeine Kondition, Verbesserung der Kraftausdauer, Erkennen von entstehenden muskulären Dysbalancen und deren Ausgleich; wichtig ist ferner eine nach innen gerichtete Sensibilität, um Ermüdungszeichen des Körpers zu erkennen und zu beachten. Nicht vernachlässigt werden darf die Entwicklung von Einstellungen des Musikers, beispielsweise zu seinem Körper, und die Förderung seiner Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere seines Selbstbewusstseins und seiner Ausstrahlungskraft.

Um diese Ziele zu erreichen und auch die individuellen Interessen der einzelnen Studierenden zu berücksichtigen, gibt es unterschiedliche Kurse über den Zeitraum eines Semesters.

Insgesamt werden in den einzelnen Kursen physioprophylaktische Übungsformen und Gymnastikprogramme vermittelt, die auf Körperhaltung, Pflege der Wirbelsäule, Ökonomisierung der Muskeltätigkeit und Sicherung der Gelenke (Erhaltung der muskulären Balance) zielen. Insbesondere die beim instrumentalen Üben entstehende einseitige körperliche Belastung wird ausgeglichen. Die Teilnehmer erwerben Kenntnisse und praktische Erfahrungen im richtigen Umgang mit ihrem Körper in Prophylaxe und Kompensation einseitiger Belastungen des Binde- und Stützgewebes durch ausgleichende Bewegungstätigkeit.

Gleichzeitig erhalten die TeilnehmerInnen in den einzelnen Kursen schriftliche Übungsprogramme (bis hin zu Ausgleichsprogrammen für einzelne Instrumente), die sie bei Bedarf oder vorbeugend zu Hause oder in den Übungspausen anwenden können. (Nach unserer Erfahrung ist allerdings bei jungen und gesunden Menschen eine Berücksichtigung der Spezifik des Instruments erst sinnvoll, wenn sie übergreifende Kenntnisse und Erfahrungen in ausgleichender Körperarbeit besitzen.)

Organisatorische Informationen

“Physioprophylaxe” ist an der Hochschule für Musik “Hanns Eisler” seit 1990 ein Lehrfach mit wahlobligatorischen Kursangeboten, d. h. die Studierenden müssen bis zum Vordiplom zwei der angebotenen Kurse absolvieren. Die Teilnahme wird testiert. Weitere fakultative Teilnahme ist möglich, wenn die Kurskapazität ausreicht. Eine Teilnahmebegrenzung auf 15 Studierende wird angestrebt, ist aber in einigen Kursen auf Grund der Nachfrage nicht einzuhalten. Die große Teilnehmerzahl erschwert leider ein differenziertes Eingehen auf individuelle Probleme.

Für das Fach stehen eine hauptamtliche Lehrkraft mit 22 Semesterwochenstunden, ein Lehrauftrag zur Atemtechnik sowie zwei ergänzende Lehraufträge zur Verfügung. Ferner wird den Studierenden (und ihren Lehrkräften) seit dem Wintersemester 1999/2000 regelmäßig wöchentlich eine musikmedizinische Beratung durch einen erfahrenen Mediziner als Leistungsangebot des Faches “Physioprophylaxe” angeboten.

Der Kurs “Theorie und Praxis der Physioprophylaxe”Was müssen MusikerInnen, was müssen ihre LehrerInnen über den Körper und sein Funktionieren wissen? Welches ausgleichende Bewegungskonzept (einschließlich Lebensweise) ist für den Einzelnen das richtige? Der Kurs “Theorie und Praxis der Physioprophylaxe” ist das Basisprogramm des Gesamtkonzepts. Es soll die TeilnehmerInnen jedoch auch neugierig auf andere Möglichkeiten machen, denn mit der praktischen Erfahrung in verschiedenen Aktivitäten entsteht Entscheidungskompetenz. Für den Kurs des Sommersemesters 2000 habe ich einen Lehrplan aufgestellt. Man kann über den Inhalt und seine methodische Reihenfolge streiten. Der Orthopäde wird andere Vorschläge zu Inhalt und Reihenfolge haben als der Pädagoge. In jedem Fall erfordert das praktische Üben und Trainieren der Körperfunktionen einige Kenntnisse. Wissen benötigt man etwa zum richtigen Dehnen von Muskeln oder zu der Frage, welchem Bewegungstyp man zugehört (Hypermobile müssen das Verhältnis von Kraftausdauertraining und Dehnen anders gestalten als steife Typen – ich komme darauf noch zurück). Deshalb sind einige theoretische Themen in Übereinstimmung mit dem praktischen Üben vorgesehen. Die in der Spalte “Übungspraxis” genannten Programme erhalten alle TeilnehmerInnen nach hinreichender Einübung schriftlich – sozusagen als berufsbegleitende Gedächtnisstütze. Mit diesem “Basis”-Kurs versuche ich bei den TeilnehmerInnen eine (wissenschaftlich begründete) Grundorientierung zu erreichen, die sie befähigt, andere Bewegungskonzepte, die für MusikerInnen sinnvoll sind oder gerade für sie entwickelt wurden (z. B. Dispokinesis oder Musikkinesiologie), zu verstehen und für sich zu nutzen.

Nach meiner Beobachtung orientieren sich die StudentInnen, die Bewegung trainieren, selten an nur einem Bewegungskonzept. Vielmehr suchen und probieren sie und nehmen für ihr eigenes Bewegungsrepertoire aus den ausprobierten Möglichkeiten das für sie beste und strukturieren es nach ihren Bedürfnissen.

Es ist vorgesehen, die theoretische Unterweisung aus dem übungspraktischen Unterricht herauszunehmen und in einer kleinen Vorlesungsreihe zusammenzufassen. Gleichzeitig kann der Inhalt erweitert werden. (Im Plan sind fünf Vorlesungen, von denen drei auswahlweise obligatorisch sein sollen.)

Beobachtungen, Erfahrungen, Probleme

1. Bei der Mehrzahl der TeilnehmerInnen sind bereits bei Eintritt in die Hochschule Formveränderungen der Wirbelsäule sichtbar: Hohlkreuz, Rundrücken, leichte Skoliosen oder Versteifungen in der Lendenwirbelsäule. Diese Veränderungen zeigen sich deutlich bei bestimmten Bewegungsanforderungen.

Solche Abweichungen sind nicht besorgniserregend, solange durch Entwicklung und Kräftigung der die Wirbelsäule stützenden Muskulatur die Lage der Wirbelkörper gesichert bleibt und weitere Bewegungseinschränkungen durch Ausgleichen muskulärer Dysbalancen vermieden werden. Da die besagten Formveränderungen jedoch die Belastbarkeit der Wirbelsäule mindern, können sie – unbeachtet – auf lange Sicht zu Schmerzen führen.

2. Bei vielen StudentInnen zeigt sich eine unterschiedliche Dehnbarkeit (und Elastizität) gleicher Muskelgruppen der linken und rechten Körperseite. Durch die Art und Intensität ihrer Beanspruchung verkürzen sich Muskeln oder schwächen sich ab und verändern damit ihr Zusammenspiel. Sie werden so nicht nur zu einem gesundheitlichen Risiko, sondern beeinflussen auch die Spielqualität. Solche Dysbalancen können mit relativ geringem persönlichen Aufwand ausgeglichen werden. Geschieht dies jedoch nicht, ist die Chance verpasst, Jahre später (möglicherweise oder wahrscheinlich) auftretende Schmerzen zu verhindern.

Hierin liegen ein methodisches und ein erzieherisches Problem. Das erzieherische: Man kann junge Leute nicht mit der Gefahr eventueller künftiger Erkrankungen – die sie ja erst gar nicht erfahren sollen – “bedrohen” und sie so motivieren wollen. Das methodische: Die bewegungsorientierte (sportliche), körperliche Belastung, die letztlich zur Vervollkommnung der körperlichen Leistungsfähigkeit führt, muss unmittelbar Wirkung auf das Wohlbefinden haben, Spaß machen und gleichzeitig motivieren, aktuell Einfluss auf die Übequalität und Langzeitwirkung auf die Gesundheit haben.

3. Immer wieder reagieren StudentInnen auf einzelne Dehn- oder Kräftigungsübungen mit der Bemerkung: Dabei tut mir die Schulter, die Hand, der Rücken am Schulterblatt usw. weh. Gemeinsam stellen wir dann schnell fest, dass diese Schmerzen nicht von dieser einen Dehnung oder Bewegungsserie herrühren können, sondern ein Signal sind für eine beim Üben auf dem Instrument erworbene Verhärtung, Überlastung u. ä., die durch solche ausgleichenden Körperübungen erkannt werden, bevor sie sich beim weiteren Üben auf dem Instrument manifestieren und dann oft einen Arztbesuch veranlassen.

Hier ist es nötig, dass die StudentInnen beim körperlichen Training ihr Muskelgefühl, ihr Körperempfinden so sensibilisieren, dass sie die Ermüdungszeichen des Körpers oder Spannungsveränderungen der Muskulatur rechtzeitig erkennen und sie dann auch beachten (rechtzeitig Pause machen, sich räkeln, spezielle “entmüdende” Dehnungen ausführen usw.).

4. Beim Beobachten des “gymnastischen Tuns” der Studenten im Gruppenunterricht können wir drei (eigentlich vier) Bewegungstypen feststellen:

– Den steifen, wenig beweglichen Typ, der zu Verspannung und Verkürzung von Muskelgruppen neigt, aber im Allgemeinen wenig Probleme mit seinem Bewegungsapparat hat. Bei Schmerzen ist zuerst an eine Verspannung zu denken.

– Den überbeweglichen Typ, der sich durch Überstreckung der Gelenke bei Dehnung und große Beweglichkeit auszeichnet. Diese Beweglichkeit stellt eine große Belastung der Gelenke dar, die unzureichend muskulär geschützt sind. Schmerzen treten oft in den Gelenken auf.

– Den mittelmäßig bis gut beweglichen, ausreichend kräftigen Typ, der im Allgemeinen alle Belastungen ausreichend toleriert.

– Der (sozusagen in Klammern genannte) vierte Typ hat sowohl hypermobile als auch steife Gelenke in unterschiedlichsten Kombinationen.

Es ist klar, dass diese verschiedenen Typen beim Bewegungstraining unterschiedlich orientiert werden müssen und dass sie lernen müssen, ihre körperlichen Möglichkeiten – ihre Chancen und Grenzen – zu erkennen und zu verändern.

Aus all dem ergibt sich, dass bei fast allen KursteilnehmerInnen unterschiedliche Erwartungen, Ansprüche und Notwendigkeiten zu realisieren sind, dass gleiche Übungen häufig unterschiedliche Wirkung haben. Dazu kommt noch die Spezifik des Instruments. Ohne die bewusste, auf das Körperempfinden gerichtete Mitarbeit des einzelnen ist Gruppenunterricht kaum möglich. Und umgekehrt muss ein Bewegungsunterricht in Gruppen die Beachtung der Befindlichkeiten und Besonderheiten des einzelnen ermöglichen. (Dazu habe ich Lösungen, die aber den Rahmen dieses Aufsatzes überschreiten würden.)

5. Jetzt komme ich zu einer komplexen Schwierigkeit, die drei Teilprobleme beinhaltet.

a. Viele StudentInnen besuchen zwar die Kurse und schätzen ihre Wirkung, verabsäumen es aber zu Hause, im Verlauf des instrumentalen Übens ihre Erfahrungen und Kenntnisse anzuwenden. Sie üben zum Beispiel in den Schmerz hinein, führen in den Pausen keine ausgleichenden Bewegungen aus. b. Es kommt immer wieder vor, dass StudentInnen zwei, drei Semester Physioprophylaxe absolvieren, dann jedoch wegbleiben und erst wieder erscheinen, wenn sich Schmerzen ankündigen oder bereits da sind. Das Problem zeigt sich auch darin, dass helfende Literatur8 zwar gekauft, dann aber nicht oder kaum genutzt wird.

c. Ferner ist zu beobachten, dass besonders zum Semesterende hin – Vorspiele, Vordiplom, Diplomkonzerte – zunehmend StudentInnen, die aktuell keinen Kurs belegt haben, zu mir kommen, um Hilfe einzufordern: “Mir tut es da und da weh, bitte zeigen Sie mir Übungen, können Sie mir helfen?” Die Hilfe ist nicht so einfach. Der Augenblick, wenn jemand ins Wasser fällt, ist der denkbar schlechteste, um anzufangen Schwimmen zu lernen. In solchen Fällen muss ich zunächst prüfen, ob das Problem noch in meine Kompetenz fällt oder ob ich das Aufsuchen der musikmedizinischen Beratung empfehlen muss. Dann muss ich den Ratsuchenden sagen, dass die meisten Schmerzerscheinungen ein wochen-, monate- oder oft jahrelanges Vorspiel haben, dass sie mit Geduld und Beharrlichkeit zusammen mit dem Hauptfachlehrer und eventuell mit dem Arzt nach den Ursachen forschen und die von mir oder vom Therapeuten empfohlenen Übungen über einen langen Zeitraum ausgeführt werden müssen.

Forderung

Bei vielen künftigen MusikerInnen, die bereits im Studium, oft schon im ersten Semester über Schmerzen oder Behinderung beim Spiel klagen, teilweise dadurch im Studium, sicher in der Ausformung ihrer Begabung behindert werden, wäre überhaupt keine spezielle Therapie nötig, wenn sie von Kindheit an ihre körperliche Kondition trainierten, vielfältige sportliche Übungen und Spiele und bewegungsorientierte Beschäftigungen in ihr Leben einbezögen. Hier liegt die Verantwortung und die Notwendigkeit verständnisvoller Voraussicht bei den Eltern, den ersten Lehrern, deren Forderungen die Kinder meist mit Hingabe folgen. Die kindliche Bewegungsfreude, ihr Darstellungsdrang und -talent dürfen nicht nur auf das Instrument gerichtet werden, sondern müssen auch eine Vielfalt körperlicher Anstrengungen, Aktivitäten und Bewegungsfreuden berücksichtigen.

Selbstverständlich sollen und können die Kinder nicht mit dem gleichen Anspruch zu ausgleichender Tätigkeit geführt werden, wie es im Studium notwendig und praktikabel ist.9 Die Bewegungsanregungen und -vorschläge können durchaus vom Instrumentallehrer ausgehen. Empfehlenswert wäre, dass Kinder an der Musikschule neben ihrer Instrumentalausbildung auch in Tanz unterrichtet werden – zumal es ihr Verständnis für Musik fördert, wenn sie ein Menuett auch tanzen und nicht nur spielen können. Ideenreiche LehrerInnen finden immer Möglichkeiten, die Tänze so zu gestalten, dass ausgleichende Bewegungen enthalten sind.

Bleibt die Frage nach dem Zeitaufwand im Studium! Körperliche Leistungsfähigkeit ist nicht “speicherbar”. Wie viel Zeit soll investiert werden? Bei vielen StudentInnen kann beim instrumentalen Üben weniger mehr sein: konzentrierter, intensiver Üben und sich Zeit nehmen für den Körper. Ein bis zwei Mal wöchentlich 30 bis 60 Minuten konditionierende oder spezielle Bewegungsübungen aus der Physioprophylaxe oder aus alternativen Bewegungsrichtungen wären optimal. Wichtiger ist jedoch das übungsbegleitende Körpertraining: bei Ermüdungszeichen – sinnvolle Pausengestaltung – und bei Bedarf. Der Körper meldet sich, wer seine Signale zu deuten gelernt hat, kann auch richtig reagieren.

Für Menschen mit Kreislauferkrankungen wurde einmal eine einfache – für MusikerInnen sicher zu einfache – Rechnung aufgemacht: Wenn sie die Stunden, die sie im Wartezimmer oder in der Therapie zubringen, für Bewegung genutzt hätten, würden sie nicht dort sitzen.

Fazit

Der Umgang mit dem eigenen Körper, seine zielstrebige Vervollkommnung, das Kennenlernen seiner körperlichen Möglichkeiten und das Erleben, dass diese Möglichkeiten veränderbar sind, kann für junge MusikerInnen von großer psychischer Wirkung sein. Der hohe Anteil psychischer Faktoren am Entstehen von Spielerkrankungen veranlasst uns, das Trainieren der Körperfunktionen als integrativen Prozess zu gestalten, in dem vielfältige Sinne und Empfindungen in die Bewegungsaufgaben und -ausführungen einbezogen werden. Das bedeutet, dass

– die innere Sensibilität erhöht, Ermüdungszeichen früher erfühlt werden

– mit dem Erleben der Körperfunktion sich Körpergefühl und Körperbewusstsein

verbessern

– die jungen MusikerInnen lernen, die Entspannung der großen Muskelgruppen auf die Psyche zu übertragen, sie auch als psychische Entspannung zu praktizieren

– das Erlebnis, seinen Körper verändern zu können, das Selbstbewusstsein stärkt

– man keine Angst mehr vor Verspannungen und Bewegungseinschränkungern hat

– man sich Bewegungsreserven schafft und nicht an den Grenzen seiner Möglichkeiten übt.

“Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.” (Jean Baptiste Poquelin, genannt Molière)

1 Yehudi Menuhin: Lebensschule, hg. v. Christopher Hope, München/Zürich 1987, S. 12.

2 Claus C. Schnorrenberger: “Körpergefühl beim Musizieren”, in: Das Orchester 9/91, S. 966-978, vgl. S. 970.

3 Christoph Wagner: “Instrumentalausbildung, eine ,Rechnung ohne den Wirt’?”, in: Üben & Musizieren 2/91, S. 3 ff.; Hans Wurz: “Medizinische Probleme bei Instrumentalisten: Ursachen und Prävention. Ein internationales Symposion von Ärzten und Musikern”, in: Üben & Musizieren 4/93, S. 11 ff.; Ulrich Mahlert: “Diagnosemängel im Instrumenalunterricht”, in: Üben & Musizieren 2/91, S. 2; Hans Günther Bastian: “Wen unterrichten Sie eigentlich, Frau Kollegin, Herr Kollege?”, in: Üben & Musizieren 2/91, S. 11 ff.

4 Maria Schuppert/Eckart Altenmüller: “Berufsspezifische Erkrankungen bei Musikern”, in: Das Orchester 5/00, S. 24.

5 Christoph Wagner: “Zeit für Musikphysiologie”, in: Musikforum – Referate und Informationen des Deutschen Musikrates, Sonderdruck aus Heft 80, Juni 1994; Ulrich Mahlert: “Auf der Suche nach einer ,gesunden’ Musikausbildung. Zum Verhältnis von Musikphysiologie und Musikpädagogik”, in: Das Orchester 12/99, S. 17 ff.; Jochen Blum/ Thomas O. Mastroianni/Richard N. Norris: “Musikschulen und -hochschulen und ihre präventive Aufgabe bezüglich zukünftiger Erkrankungen bei Musikern”, in: Jochen Blum (Hg.): Medizinische Probleme bei Musikern, Stuttgart/New York 1995.

6 Jochen Blum: “Der Musiker und sein Verhältnis zum eigenen Körper – eine gestörte Beziehung als Grundlage für Überlastung und Krankheit”, in: Musikforum – Referate und Informationen des Deutschen Musikrates, Sonderdruck aus Heft 80, Juni 1994.

7 Alice G. Brandfonbrener: “Epidemiologie berufsspezifischer Erkrankungen bei Musikern”, in: Blum (Hg.), Medizinische Probleme bei Musikern, a. a. O., S. 113.

8 beispielsweise das Buch von Gerd Schnack: Gesund und entspannt musizieren, Stuttgart 1994.

9 Regina Brennscheidt: “Frühe Instrumentalförderung erfordert frühe medizinische Prävention – Konsequenzen aus der musikmedizinischen Beratung auf Musikschulebene”, in: Musikphysiologie und Musikermedizin 1/00, S. 22

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