Rüdiger, Wolfgang

„Im Komponieren ist das ganze Leben“

Im Gespräch mit Annette Schlünz

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2000 , Seite 25

Annette Schlünz ist eine der profiliertesten Komponistinnen der jüngeren Generation. Geboren 1964 in Dessau, gehört sie zu den ersten Absolventen der 1976 von Hans Jürgen Wenzel gegründeten Kinderkomponistenklasse Halle-Dresden. An diesen einzigartigen Ausbildungsgang schloss sich ein Kompositionsstudium an der Musikhochschule Dresden bei Udo Zimmermann und an der Akademie der Künste Berlin bei Paul-Heinz Dittrich an. Nach eigener Lehrtätigkeit an der Dresdner Musikhochschule und intensiver Mitarbeit im Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik lebt und arbeitet Annette Schlünz heute als freie Komponistin in Strasbourg. Zur Eröffnung der EXPO in Hannover wurde vor kurzem ihre Oper “TagNachtTraumstaub” uraufgeführt.

Liebe Annette, wie bist du Komponistin geworden?

Mit vier Jahren habe ich mit der Blockflöte angefangen und damals schon viel Musik gehört und aufgeschrieben. Dann bin ich mit sieben Jahren in die Musikschule gekommen, lernte später Oboe, parallel dazu privat Klavier. Mein Theorielehrer dort war auch Komponist und hat uns im Unterricht komponieren lassen, z. B. Melodien und Musikstücke im modalen Stil oder kleine Vertonungen von Gedichten zu Weihnachten. Wir hatten eine sehr kleine Theorieklasse, nur zu dritt oder zu viert, und haben für uns selber geschrieben und alles selbst aufgeführt.

1976 hat der Hallenser Komponist Hans Jürgen Wenzel die so genannte Kinderkomponistenklasse gegründet.1 Er war vorher immer in Schulen gegangen, hatte dort über seine Arbeit als Komponist berichtet und gemerkt, wie interessiert und kreativ Kinder von sich aus sind, auch Kinder, die nicht aktiv Musik machten, und daraus ist dann bei ihm die Idee erwachsen, mit der Kreativität von Kindern umzugehen, ohne sie unbedingt zu professionellen Komponisten ausbilden zu wollen. Dies hat er dann in die Musikschule getragen und meinen Theorielehrer gefragt, ob er nicht mitmachen und Schüler schicken wolle. Wir wurden also in unserem Theorieunterricht gefragt, ob wir nicht Lust hätten, das Erfinden von Musik noch intensiver zu betreiben, und da habe ich damals ja gesagt: Ich hatte Lust zu lernen, wie man noch mehr von dem aufschreiben kann, was man hört, fühlt und denkt.

Ich bin dann in diese Einrichtung gegangen und habe zusammen mit anderen 1976 eine Art Probejahr durchlaufen, in dem wir getestet wurden, was wir alles so musikalisch machen konnten, angefangen von ganz einfachen Wahrnehmungsübungen. Eine Aufgabe war z. B., dass wir uns immer zur selben Zeit ans Fenster stellen und Klänge hören, aufschreiben und verbalisieren sollten, alles, was in der Umwelt passiert. Wichtig war auch die unterschiedliche Altersstruktur der Kinderkomponistenklasse – von acht bis achtzehn Jahren. Die Idee war, erst mal ein Bewusstsein zu wecken für alles, was klanglich um uns herum passiert, und zu versuchen, das zu notieren, ohne schon in bestimmten Stilen zu schreiben. Wir haben natürlich auch sehr viel Musik gehört, Partituren kennen gelernt und Unterricht bei einem der vier Komponisten bekommen, insgesamt etwa 20 Schülerinnen und Schüler. Zweimal im Jahr sind wir in einen Ferienkurs gefahren, 2 auf dem dann intensiv gearbeitet und komponiert wurde, aber auch viele andere, grenzüberschreitende Dinge zu erfahren waren. Wir sind z. B. zu Malern ins Atelier gegangen, haben Schauspieler, Schriftsteller, bekannte Komponisten und Musiker eingeladen, die über ihre Arbeit berichtet haben. Das primäre Ziel war nicht, Komponist zu werden, sondern einfach ein musikalisch gebildeter Mensch, der vielleicht später mal selbst als Arzt in ein Konzert für neue Musik geht und Musik anders hört und versteht als jemand, der nie damit in Berührung gekommen ist. Für jeden, der es konnte, war es ein Glücksfall, diese Einrichtung zehn Jahre zu durchlaufen, neben dem normalen Schul- und Instrumentalunterricht. Zunächst auf Privatinitiative in Halle gegründet, weitete sich die Klasse auf Dresden aus, wurde auf Betreiben von Hans Jürgen Wenzel staatlich finanziert und war für uns kostenlos – im Gegensatz zum Instrumentalunterricht. Sie existiert immer noch, ist heute ans Konservatorium Halle angeschlossen, aber trotzdem unabhängig, mitfinanziert von Eltern und von einem Verein geleitet. Auch die Fördermittel für die Ferienkurse müssen heute auf komplizierte Weise jährlich neu beantragt werden. Insgesamt sind bisher mehr als hundert Schüler und Schülerinnen durch die Klasse gegangen, immerhin 25 oder mehr haben ein Kompositionsstudium aufgenommen, andere sind Orchestermusiker oder Dirigenten geworden. Einige der jungen Komponisten sind selber wieder in die pädagogische Richtung gegangen, und ihnen ist es auch mit zu verdanken, dass die Klasse weiter lebt und eine Art Tradition gebildet hat.

Interessant ist ja, dass gerade der Theorieunterricht, der in der Musikschulausbildung oft zu kurz kommt, für dich den Ausschlag gegeben hat, in die Kinderkomponistenklasse einzutreten. War Musiktheorie als Unterrichtsfach üblich in der DDR?

Ja, das gehörte dazu. An der Musikschule war Theorie sozusagen Pflicht, Instrumental- und Theorieunterricht waren immer gekoppelt. Im normalen Theorieunterricht waren die Klassen größer, aber interessiertere und begabtere Schüler wurden in Dessau in kleinere Klassen gesteckt. Wir waren z. B. nur zu dritt, und die Anforderungen waren ziemlich hoch, wenn ich es mit den Anforderungen an der Hochschule vergleiche. Ich habe dort schon Harmonielehre, Satzlehre, Analyse bis hin zum Modulieren gelernt. Und dann überschnitt sich der Theorieunterricht natürlich ein bisschen mit der Komponistenklasse, in der wir ja auch Kontrapunkt- und Instrumentenkundeunterricht und Musikgeschichte hatten – mehr natürlich in der Komponistenklasse, aber der Theorieunterricht selbst ging auch schon ziemlich weit. Und unsere Prüfungen in fortgeschrittenem Stadium, mit sechzehn, siebzehn Jahren, waren auch nicht ganz ohne, denn Liedbegleitung, Satzspiel und solche Sachen, das war alles schon da und durchaus auf Hochschulniveau, wie ich feststellen konnte, als ich selber an der Hochschule unterrichtet habe.

Würdest du sagen, dass ein anspruchsvoller, praxisorientierter Theorieunterricht in Verbindung mit dem Instrumentalunterricht ganz natürlich zum Komponieren führt?

Wichtig finde ich, dass bei uns Theorie und Komposition immer getrennt waren. Wir haben zwar im Theorieunterricht auch “komponiert”, aber mehr im Sinne einer Handwerkslehre und der Vermittlung bestimmter Satztechniken, wir waren dort keine Komponisten, sondern Theorieschüler, die mit dem Material umzugehen lernten. Man ging dort nicht hin, um seine Kompositionen zu zeigen, sondern um Tonsatz zu lernen, Partituren zu studieren und in verschiedenen Stilen zu schreiben. Zum Kompositionslehrer hingegen bin ich wirklich nur mit meinen eigenen Stücken gegangen. Wir haben natürlich auch über andere Musik gesprochen und analysiert, aber ich habe immer nur meine eigene Musik bei ihm geschrieben. Und das fand ich eben so schön bei dieser Idee mit der Kinderklasse: Wir haben zwar das andere alles gelernt, aber das Komponieren war immer frei von überkommenen Techniken. Du konntest beim Komponieren einen Dreiklang schreiben oder Zwölftonmusik machen oder Minimal Music, wenn dich das gerade interessiert hat, aber es war nie ein Durchlaufen oder Abhaken eines bestimmten Curriculums; d. h. es wurde nie gesagt, du darfst nicht komponieren, bevor du nicht einen richtigen Chorsatz schreiben kannst. Wir haben zwar gelernt, einen richtigen Chorsatz zu schreiben, aber beim Komponieren konnten wir auch parallele Quinten schreiben, wenn es im Sinne des Stückes war. Dort stand immer die Förderung von Originalität und Kreativität im Mittelpunkt, alles andere fand im Theorieunterricht statt.

In welchen Formen wurde Komposition unterrichtet? War das mehr Einzel- oder Gruppenunterricht?

Beides zusammen, meist gemischt. Die meisten Lehrer hatten vier bis fünf Schülerinnen und Schüler, bei meinem Lehrer Günther Eisenhardt bekam ich Einzelunterricht, aber die anderen konnten durchaus noch bleiben und zuhören. Wir wussten immer, woran der andere gerade arbeitete, nahmen Anteil daran und diskutierten über die Werke und ihre Entstehung. Es kam kein Konkurrenzdenken auf. Alle haben mit Lust und Laune an dem gearbeitet, was ihnen Spaß machte, natürlich auch mit dem typischen Ehrgeiz, etwas zustande zu bringen, und mit ein bisschen Druck von außen, wenn etwas sich nicht entwickeln wollte oder man die Sache schleifen ließ. Die Ausbildung wurde ja aus den Mitteln des DDR-Kulturfonds finanziert und war für uns kostenlos, da lag dann eine etwas lockerere Einstellung nahe, aber dann konnte man auch ausgeschlossen werden.

Es waren zwar Ferienkurse, aber es sollte auch Arbeit sein und Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit in einer Mischung aus Spiel und Ernst, und das hat uns gegenseitig Motivation gegeben. Wir haben oft zu dritt oder zu viert in einem Zimmer geschlafen, meistens in Jugendherbergen oder Musikschulen. Na dann komponier’ mal bei drei Kindern im Zimmer! Da macht der eine dies und der andere das, und du musst dich sehr konzentrieren, deine Ideen auf Papier zu bringen. Und dann wurden die Stücke ja auch aufgeführt, und zwar von professionellen Ensembles und Musikern, die Hans Jürgen Wenzel eingeladen hatte und die uns zeigten, was instrumental machbar war und was nicht.

Das Ziel war auf der einen Seite also eine Art Breitenförderung in Sachen musikalischer Kreativität, auf der anderen Seite dann aber doch ein gewisser Leistungsanspruch im Sinne der Begabtenförderung…

Ja, richtig. Bei der Förderung kompositorischer Kreativität gab es zwar keine festen Regeln, aber höchste Ansprüche an die Umsetzung unserer Ideen. Dieser Prozess wurde von unseren Lehrern – die eigentlich weniger Lehrer waren als vielmehr Anreger, Berater, Lernhelfer und die uns wie Komponistenkollegen behandelt haben – partnerschaftlich begleitet. Und der Anreiz eines Konzerts machte natürlich bei uns Kindern viel aus. Es ist wie bei einem Interpreten, der weiß, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Programm öffentlich spielen will. So war das bei uns mit der Fertigstellung unserer Partituren für die Uraufführung in einem Konzert. Wenn ich sie da nicht abgegeben habe, dann konnte das Stück nicht gespielt werden. Die Stücke aber, die fertig wurden, die wurden dann auch aufgeführt. Das war so eine natürliche Auslese, die auch mit gegenseitiger Kritik verbunden war. Wir haben manchmal unsere Sachen auch gegenseitig aufgeführt, z. B. die Älteren Stücke von den Jüngeren, die dabei viel gelernt haben. Durch die gemischte Altersstruktur bildeten sich Geschwisterverhältnisse, der 10-Jährige ging eher zum 16-Jährigen als zum Lehrer und fragte ihn um Rat und Hilfe.

Kannst du noch weitere praktische Übungen und Beispiele für elementare Kompositions- oder Gestaltungsaufgaben geben, über das berühmte Beispiel mit dem Lauschen auf die Klänge der Umwelt und Notieren hinaus?

Es ging generell um ein Entwickeln von dem, was einen gerade beschäftigt hat. Die Kleinen wollten z. B. ein Gewitter schreiben oder verschiedene Naturvorgänge in Klang umsetzen oder alltägliche Begebenheiten vertonen und Geschichten erzählen beim Komponieren. Wobei das Ausdrucksbedürfnis natürlich oft über die Notationsfähigkeit hinausging und manche Vorstellungen dann auch ganz illustrativ übertragen wurden.

Was ich daran pädagogisch gut fand, war, dass zunächst alles möglich war. Ein Beispiel für diese pädagogische Freiheit war ein Stück von einem kleinen Jungen, der heute im Leipziger Gewandhausorchester Bratsche spielt und damals ein Stück geschrieben hat, in dem er am Ende mit höchster Konzentration eine Spielzeugpistole oder einen Luftballon knallen ließ. Das haben die seriösen älteren Musiker, die das aufgeführt haben und zwischen denen er saß, durchaus ernst genommen und akzeptiert.

Wichtig waren auch die täglichen Kontrapunktübungen, die viele Musik, die wir gehört haben, und die Vorträge, z. B. über die zweite Wiener Schule oder das Verhältnis von Musik und Malerei – das schärft natürlich das Denken und beeinflusst dich schon unbewusst. Dann denkst du eben auch anders über das, was du selber machen kannst. Wir haben also immer viele Eindrücke von Musik und anderen Kunstrichtungen erhalten, das war ein wichtiges pädagogisches Konzept.

Habt ihr auch einschlägige Techniken des 20. Jahrhunderts kennen gelernt wie z. B. Zwölfton- und Reihentechnik, Rhythmuskomposition, Zitat- und Collagetechniken?

Ja, aber wir haben nicht sofort mit komplexen Techniken wie Zwölfton angefangen, sondern mit einfacheren Intervall- und Reihenmodellen, haben gelernt, mit Sechston- und Siebentonreihen umzugehen und mit verschiedenen Akkordformen und Rhythmen zu komponieren. Ein Komponist, der die Jüngeren unterrichtet hat, hat natürlich auch sehr viel mit grafischen Modellen gearbeitet.

So wurde uns gezeigt, was möglich ist, entscheiden aber mussten wir selbst. Das war neben der Entwicklung musikalischen Denkens auch eine sehr gute Schulung des Gefühls. Bei einem 16-Jährigen fließt ja sehr viel Herzblut, und wenn der komponiert, so steckt ein ganzer Schwall von Gefühlen dahinter; und die gilt es dann zu hinterfragen, woher sie kommen, wie sie entstehen und wie man sie authentisch ausdrücken kann, gerade in unserer medien- und hollywoodgeprägten Zeit mit ihren oftmals fremdbestimmten, unechten Gefühlen. Es ist auch oft ganz schwer, über Gefühle und ihre Darstellung zu reden, und da kommt man dann über einen bestimmten Klang oder ein Intervall und mit pädagogischem Geschick an die Menschen heran und hinterfragt die Gefühls- und Vorgehensweise, ohne sie zu zerstören. Insofern hat Erfinden von Musik auch etwas mit Intelligenz der Gefühle zu tun und ihrer Schulung. Die Jugendlichen lernen, noch mehr in die Tiefe zu gehen, nachzudenken und sich selbst zu reflektieren.

Kann man Komponieren lernen wie ein Instrument? Kann jeder Komponist werden?

Ja, da gab es 1978 diesen DEFA-Film “Ist Komponieren erlernbar?” – Ich denke, in gewissem Sinne schon. Jemand, der Musik lernt, der Noten lernt, der kann auch in gewissem Sinne Komponieren lernen und Musik aufschreiben. Das ist aber in erster Linie eine Frage des inneren Bedürfnisses, des inneren Zwangs, sich so auszudrücken und nicht anders. Ein anderer hat vielleicht stärker das Bedürfnis, sich auf seinem Instrument auszudrücken, für einen anderen bleibt es bei der Befriedigung zu hören, ohne selber schreiben zu wollen. Sicherlich gehört eine gewisse Musikalität dazu, eine Begabung für eine spezielle Sache. Und bei vielen jungen Menschen gibt es verschiedene musikalische Begabungen, die ineinander greifen und sich verbinden, Instrumentalspiel und Komposition zum Beispiel. Entscheidend ist auch ein offenes, unterstützendes Elternhaus wie bei mir, in dem viel Musik gehört und gemacht wird, auch wenn das meist mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts aufhört.

Nun ist es ja heute so, dass das Aufschreiben von Noten, wie sich das traditionelle Komponist-Sein definierte, beileibe nicht mehr das einzige Kriterium für das Erfinden von Musik ist. Spätestens seit Cage hat sich ja der Begriff Komponieren oder Komponist-Sein immens ausgeweitet, von offenen Werken und Konzeptionen über verbale und grafische Muster bis hin zu Klanginstallationen und vielen anderen Dingen.

Ja, aber da weiß ich eben nicht, inwieweit man so etwas unterrichten kann. Ich glaube, dies ist eine Sache für Leute, die aus anderen Bereichen kommen, z. B. aus dem Bereich der Bildenden Kunst, wobei heute die Übergänge zwischen den Künsten natürlich fließend sind. Wir haben damals auch mit Geräuschinstrumenten gearbeitet, ich erinnere mich an ein sehr schönes Stück nur mit Haushaltsgeräten, Kochtöpfen, Sieben, Reiben und Löffeln, jedoch alles in Partiturform notiert; und das haben wir dann auch ausgeführt. Ein beliebtes Instrument war z. B. der Eierschneider, der als Klangerzeuger genauso vollwertig war wie ein konventionelles Instrument. Und das Experimentieren damit hat uns dann vielleicht auch wieder dazu bewogen, zur Geige zurückzukehren, weil auf einer Geige doch manches besser geht und vielfältiger ausgedrückt werden kann als auf einem Eierschneider mit seinen fünf Tönen.

Es gibt von Rousseau bis Adorno immer wieder die Forderung, dass jemand, der Musik verstehen oder wiedergeben will, auf welchem Instrument auch immer, auch im Stande sein sollte, sie zu komponieren. Eigentlich eine Forderung des Zusammenseins von Spielen und Erfinden, von Denken und Gestalten von Musik.

Ja, Interpretation und Komposition liegen ganz nah beieinander. Jede Interpretation ist ja selbst schon ein Neuschaffen eines Werkes aus der Einsicht in seine Entstehung und Gestalt, ein Nachkomponieren gewissermaßen. Und viele Kompositionen entstehen aus dem Kontakt und der Zusammenarbeit mit den Interpreten, aus der genauen Kenntnis ihrer Instrumente und Klangmöglichkeiten.

Wir haben auch viel gesungen, haben jeden Morgen Chorsätze gesungen und für uns selber Chorsätze, Kanons und Lieder geschrieben. So entstehen aus dem Singen und Spielen neue Ideen für Werke und umgekehrt befruchten und verändern neue Werke wiederum das Instrumentalspiel. Diese Wechselwirkung sollte in der Ausbildung an Musikschulen und Hochschulen viel mehr bedacht und gefördert werden.

Was würdest du den Instrumental- oder Gesangslehrern an Musikschulen raten, wenn sie merken, dass ihre Schülerinnen und Schüler Lust zum Komponieren haben? Oder anders herum, wenn Instrumentallehrer ihre Schüler zum Komponieren anleiten wollen, aber nicht richtig wissen, wie?

Das ist zunächst eine Sache der Erfahrung, ob der Lehrer es sich zutraut, dem Schüler Anregungen zu geben, sich schöpferisch zu äußern. Am besten wäre es natürlich, wenn Instrumentallehrer selber im Komponieren ausgebildet wären, wenn Komposition Pflichtfach im Musikerziehungsstudium wäre. Und dann gibt es ja Einrichtungen und Komponisten, an die man interessierte Schüler weiterleiten kann.

Wenn du selber eine Schule des elementaren Komponierens entwerfen solltest, womit würdest du da anfangen, was wären die ersten Schritte?

Ich fand damals schon ganz wichtig dieses Aufmerksamwerden auf unsere Klangwelt, auf Klänge, die uns umgeben, und sich auf eine Klangsuche zu machen. Und dann muss auch ganz viel vom Schüler kommen. Es muss eine Wechselwirkung entstehen, nicht ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern ein offenes, kollegiales Miteinander, auch über das Musikmachen und -erfinden hinaus, wie wir es in der Kinderkomponistenklasse erlebt haben. Insofern würde ich eine solche Schule wahrscheinlich gar nicht schreiben – weil es da keine Rezepte gibt und das so individuell auf die Persönlichkeit hin angelegt ist, von beiden und von mehreren. Man kann eigentlich mehr aus gemeinsamer Erfahrung lernen als aus Schulen und Büchern, Erfahrung weitertragen und gemeinsam etwas ausprobieren. Das Komponierenlernen beruht auf einem sehr privaten und persönlichen Verhältnis, einem Vertrauensverhältnis zwischen Komponist und Schüler, wie es eigentlich auch zwischen einem Instrumentallehrer und seinem Schüler sein sollte. Im Komponieren ist das ganze Leben, und so wenig wie das Leben kann man das Komponieren jemandem beibringen. Das einzige, was man vermitteln kann, ist: Man kann Anregungen geben und die Welt öffnen und jemanden zur Offenheit anleiten. Aber man kann jemandem nicht beibringen, welche Intervalle er jetzt schreiben muss. Da muss jeder seinen eigenen Weg finden.

Was regt dich am meisten zum Komponieren an? Woher kommt deine Inspiration?

Ich erhalte viele Anregungen aus der Literatur und von Texten, die ganz oft den letzten Auslöser geben. Aber ganz oft auch von Instrumenten oder Klangverbindungen mehrerer Instrumente, wenn ich an meine Kammermusik denke. Und von der Vorstellung einer bestimmten Klangentwicklung innerhalb eines Abschnitts. Ich habe z. B. einen bestimmten Zeitraum, den ich mit Klang füllen will, und dieser Klang muss sich irgendwohin bewegen, von A nach B. Und auf welchem Weg er sich dorthin begibt, das ist immer wieder aufs neue eine spannende Frage.

Du komponierst nicht aus dem Bauch heraus, du reflektierst deine Vorgehensweise?

Ja. Es gibt immer Pläne, wie ich vorgehen will, aber wenn ich über einen längeren Zeitraum in solch einem Planungsgeflecht drin bin, dann geschieht manches auch von selbst, dann spielen Kopf und Bauch, Verstand und Intuition zusammen; und plötzlich ergibt sich ein Überblick über das Ganze, von dem ich nie gedacht hätte, dass er möglich wäre.

Was ist für dich das Wichtigste beim Komponieren?

Die Arbeit mit dem Interpreten und die Aussicht darauf, dass das adäquat zum Klingen gebracht wird, was man sich ausgedacht hat. Und dass Musik bei mir und anderen etwas auslösen muss. Es gibt unheimlich viel Musik, die geschrieben wird, weil man damit einen Auftrag erfüllt. Dann wird Komponieren zum Routinebetrieb. Ich hoffe und wünsche mir, dass das eigene Arbeiten immer den höchsten musikalischen und existenziellen Ansprüchen genügt. Es darf nie beliebig werden und nur irgend etwas ausfüllen.

Du hast eine Kinderoper geschrieben mit dem schönen Titel “Un jour d’été”, die 1997 in Frankreich uraufgeführt wurde…

Ja, das ist ein Stück nach dem Libretto von Pierre Garnier, von dem ich vorher schon eine ganze Reihe von Texten vertont hatte. Es war ein Auftrag eines Konservatoriums, das jedes Jahr einen Komponisten um ein Stück bittet, das nur von Kindern aufgeführt wird, auf der Bühne und im Orchester. Ich hatte eine Liste mit zur Verfügung stehenden Instrumenten und mit ungefährem Schwierigkeitsgrad, wie das an Musikschulen so üblich ist.

Die Story von Garnier ist sehr zeitgemäß und sehr poetisch, es geht um einen Ferientag, an dem die Kinder sich langweilen und ihre Träume ausleben. Es gibt in der Oper eine Gruppe von Marionettenspielern, eine Gruppe von Sternforschern und eine Gruppe von Forschern allgemein, die eine Insel entdecken wollen, und diese Gruppen habe ich musikalisch durch verschiedene Geräuschinstrumente charakterisiert. Die Forscher z. B. spielen alles, was mit Wassergeräuschen verbunden ist, die Sternforscher alles, was mit Papier zu tun hat, und die Puppenspieler alles, was mit Holz zu tun hat.

Am Anfang wussten die Kinder bei den Proben noch nicht, wie sie damit umgehen sollten, aber als sie dann merkten, dass ich die Geräusche nicht dem Zufall überlassen hatte und sie wie kompositorisches Material benutzt worden sind, da bekamen sie eine ganz andere Bedeutung. Es war dann fast wichtiger, das Wasser klingen zu lassen oder den Stein im richtigen Moment zu heben und fallen zu lassen, als das, was im Orchester und mit der Stimme passierte. Es war sehr interessant zu beobachten, wie die Kinder merkten: Aha, das ist ja Musik, was ich da mache, und es hat genauso viel Bedeutung wie der Text und die Melodien, die ich singe. Und die Kinder haben zusammen mit ihren Eltern ihre Kostüme selber gemacht und Schüler aus dem Bereich Bildende Kunst haben das Bühnenbild gestaltet. Das war eine sehr schöne Inszenierung und eine tolle Erfahrung für alle Mitwirkenden, trotz mancher Schwierigkeiten bei den Proben.

Du hast eine zweijährige Tochter, die dein Leben stark verändert hat. Wie hat sich dies auf deine Arbeitsweise, dein Komponieren ausgewirkt?

Ich arbeite jetzt viel konzentrierter und ökonomischer, weil die Zeit viel knapper bemessen ist. Es sind auch ganz andere Dinge wichtig geworden, die früher nicht wichtig waren. Plötzlich sieht man, wie ein Kind mit Klängen, Sprache und Lautmalerei umgeht; die ersten Klänge sind natürlich musikalisch sehr interessant. Oder auch, wie ein Kind auf Musik reagiert, wie es Musik hört. Meine Tochter ist z. B. unheimlich fasziniert von Stimmen, von Singstimmen. Und ich sehe immer mehr, wie wichtig das Liedersingen für Kinder ist, wie kreativ selbst kleine Kinder schon mit Liedern umgehen, zwischen früher Nachahmung und Neuerfindung. Und daran, denke ich, gilt es anzuknüpfen in der musikalischen Entwicklung, das muss gefördert werden wie bei uns in der Kinderkomponistenklasse.

Bei E. T. A. Hoffmann heißt es irgendwo, dass das Thema eines Liedchens, das man aus der Erinnerung in etwas veränderter Form singt, vielleicht den ersten eigenen Gedanken darstellt und, gespeist von verschiedenen Einflüssen, den Beginn einer kompositorischen Entwicklung markieren kann. Und diese Ursprünge und Einflüsse sollten so weit wie möglich gefördert werden. Dazu müsste es viele solcher Einrichtungen wie die Kinderkomponistenklasse geben, da müsste unsere Musikkultur und vor allen Dingen unsere Ausbildungsform viel innovativer, offener, fortschrittlicher sein.

Ja, angefangen von der Kinderkrippe, im Kindergarten, bei guten Kinderliedern über das Singen, das Instrumentalspiel und eine sinnvolle Theorieausbildung an der Musikschule bis zur Hochschulausbildung, mit vielfältigen Anregungen und Anlässen, schöpferisch tätig zu werden. Ich erinnere mich: Das erste Lied, das ich geschrieben habe, war für mein Meerschweinchen Struppi, mein Vater musste noch den Text über die Noten schreiben….

Liebe Annette, herzlichen Dank für das Gespräch!

1 siehe dazu auch: Matthias Roth: “Eine Kompositionsklasse für Kinder in Halle. Ein Gespräch mit dem Leiter Hans Jürgen Wenzel”, in: Das Orchester 7-8/91, S. 834 ff.

2 siehe dazu auch: Ingo Burghausen: “Neue Musik von Kindern. Die Ferienkurse der Komponistenklasse Halle-Dresden”, in: Üben & Musizieren 2/96, S. 9 ff.

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