Mahlert, Ulrich

Identität und Offenheit

Überlegungen zur Klärung des Faches Rhythmik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2000 , Seite 08

Prof. Dr. Ulrich Mahlert ist Professor für Musikpädagogik an der Hochschule der Künste Berlin und derzeit deren Vizepräsident für den Bereich Musik.

Es könnte besser stehen um das Fach Rhythmik. Im immer härter werdenden Verteilungskampf um öffentliche Gelder für musikpädagogische Ausbildungsbereiche hat die Rhythmik einen schweren Stand. Von einer allgemeinen Akzeptanz kann keine Rede sein; selbst Musikerinnen und Musikern sind ihre Inhalte und Methoden oftmals nicht vertraut. Dafür grassieren vielerlei Klischees und Vorurteile über die Rhythmik und ihre Vertreterinnen. Schwer tut sich das Fach nicht nur in der Berufspraxis, sondern auch in der Ausbildung: Die Bewerberzahlen für die betreffenden Studiengänge an den Hochschulen sind rückläufig. Kein Wunder, denn ein absolviertes Rhythmik-Studium bietet nur diffuse und unsichere berufliche Perspektiven. Kurzum: Das Erscheinungsbild der Rhythmik ist derzeit nicht sonderlich attraktiv.

Was sind die Ursachen dieser Misere? Als Nicht-Rhythmiker berufe ich mich zunächst auf eine umsichtige Einschätzung einer Fachautorität. Im kürzlich erschienenen Artikel “Rhythmik” der neuen Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart schreibt Holmrike Leiser-Maruhn: “Demokratisierungs- und Novellierungsbestrebungen in Lehrbetrieb und Studieninhalten nach 1968 haben keinen nennenswerten Einfluß auf die

Rhythmik. / Anstelle der gemeinsamen Frage nach dem Leistungsvermögen des Faches und einer Konzentrierung der vielfältigen Inhalte und auf viele Gebiete verstreuten Möglichkeiten setzt sich die persönlichkeitsgebundene Konturierung von Fach und Ausbildung fort.”1 Nimmt man diese Diagnose beim Wort, dann besteht dringender Handlungsbedarf: Die Rhythmik bedarf einer fachlichen Konsolidierung. Ich verstehe dabei die Aussage der Autorin über die “persönlichkeitsgebundene Konturierung von Fach und Ausbildung” nicht etwa als prinzipielle Kritik an der Profilierung einer Disziplin durch große Persönlichkeiten (- gut, dass es solche gibt!), wohl aber als Verweis auf ein fortbestehendes, auf Dauer gefährliches, ja für das Fach lebensgefährliches Manko. Bildlich gesprochen: Der Rhythmik fehlt ein stabiles Rückgrat. Mir scheint: Die Rhythmik franst zusehends in ihre vielfältigen Anwendungsbezüge aus; es mangelt ihr an einem tragfähigen Selbstverständnis, sie weiß nicht, wo ihre wirkliche Mitte ist und kann daher keine rechte Identität entwickeln. Dabei ist das Leistungspotenzial der Rhythmik offenkundig. Es zeigt sich eindrucksvoll in der Vielfalt der Berufsbereiche, in denen Bedarf und Interesse an Rhythmik-Fortbildungen besteht – man denke vor allem an “Erzieher, Erwachsenenbildner,Grundschullehrer, Gymnastiklehrer, Heilerziehungspfleger,

Instrumentalpädagogen, Krankengymnasten, Musiklehrer, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen, Musiktherapeuten”.2 Um so schlimmer allerdings, wenn das Fach Rhythmik von diesen und anderen Berufsfeldern aufgesogen wird und gewissermaßen in ihnen verschwindet. Dann wird fraglich, was die Rhythmik eigentlich ist. Dann sind die meisten derjenigen, die rhythmisch arbeiten, alles mögliche, aber nicht primär Rhythmikerinnen.

Man mag es als einen Zwang zum Überleben ansehen, wenn die Rhythmik sich zu Zeiten schmaler öffentlicher Budgets nach der Devise “Auch hierfür habe ich was zu bieten!” allen möglichen Anwendungsbereichen andient, sich überall unentbehrlich zu machen sucht. Eine Öffnung zu verschiedensten Wirkungsfeldern kann jedoch nur dann überzeugen, wenn dabei eine gewisse fachliche Identität gewahrt bleibt bzw. entwickelt wird.

Damit bin ich beim Begriffsduo im Titel meines Beitrags: Identität und Offenheit. Beide Phänomene bedingen einander, und sie stehen, wenn sie sich befriedigend realisieren, in einem Balanceverhältnis. Die Identität eines Subjekts bildet sich im Austausch mit seiner Umwelt. Im Kindes- und Jugendalter werden viele Identitätsangebote ausprobiert und teilweise wieder verworfen, und erst mit dem Abschluss der Adoleszenz gewinnt ein Mensch (nach der Theorie E. H. Eriksons) eine tragfähige persönliche Identität. “Tragfähig” meint: Es ist ihm nun möglich, seine verschiedenen Potenziale auszuleben, sich als mündige Person seinen Mitmenschen gegenüber offen zu verhalten und den Erwartungen der Außenwelt gerecht zu werden, ohne orientierungslos herumzuexperimentieren und sich selbst dabei zu verlieren. Überträgt man dieses entwicklungspsychologische Modell auf die Rhythmik,

dann bleibt schonungslos zu konstatieren: Die Rhythmik ist bis heute noch nicht recht erwachsen geworden. Bildlich gesprochen: In kräftigen Pubertätsschüben hat sie sich im Lauf ihrer nun mittlerweile etwa hundertjährigen Geschichte für viele Ideen begeistert (häufig, ohne ihnen intellektuell gewachsen zu sein), vieles ausprobiert, sich oftmals heftig verliebt und dabei viele Beziehungsprobleme durchgemacht. Zu soliden, gereiften, gleichberechtigten Beziehungen beider Partner ist es dabei selten gekommen. Vielmehr ließ sich die Rhythmik häufig bis zum Gesichtsverlust ausnutzen, und in etlichen Partnerschaften wirkt sie bis heute nicht als eigenständige Persönlichkeit, sondern nur mehr als wenig beachtetes Anhängsel ihres Kompagnons. Ihre Freunde haben ihr oft das Blaue vom Himmel versprochen, und die Rhythmik hat die Versprechungen häufig gutgläubig und arglos als ihr persönliches Eigentum verbucht. Mit diesem Fundus ausgestattet, meinte sie oft, als Heilsbringerin die Welt verbessern zu können: Durch sie sollten die Menschen rundum glücklich werden – fantasievoll, kreativ, sensibel, individuell, sozial, interaktiv, mündig, physisch und psychisch stabil, “heil”, gesund, intelligent, sinnlich verfeinert, genussfähig, musikalisch empfänglich und was noch alles.

Ich möchte den Vergleich nicht weiter strapazieren. Als Summe allerdings erscheint mir das Postulat unabweisbar: Es ist an der Zeit, dass die Rhythmik endlich erwachsen wird. Sie ist jetzt in einem Alter und in einer Situation, in der sie, um in Zukunft befriedigend existieren zu können, intensiv an ihrer Identität arbeiten muss. Und diese Identität wird sich nicht zuletzt darin erweisen, dass sie einen Ausgleich zwischen selbstbewusster Eigenständigkeit und zuträglicher Offenheit zu ihren Partnerdisziplinen findet. Die folgenden Ausführungen sind von der Bemühung getragen, der Rhythmik “den Rücken zu stärken”. Ich möchte das von Zersplitterung bedrohte Fach zu einer Konsolidierung animieren. Denn nur dann, wenn es an konzeptueller Klarheit gewinnt und mit sich selbst theoretisch und praktisch ins Reine kommt, wird es auch in der Öffentlichkeit das ihm gebührende hohe Ansehen gewinnen und eine seinem Bildungspotenzial entsprechende Position im Ausbildungsbereich erlangen. Auch für eine Reform der Rhythmik gilt wohl der Satz: “Wir sahen unsere Feinde – wir waren es selbst.” In meinen vier Überlegungen thematisiere ich folgende Aspekte: erstens die Identität der Rhythmik, die ich in ihrem künstlerisch-pädagogischen Kern sehe; zweitens das Erfordernis, die Anwendungsbezüge der Rhythmik zu klären und eine Rhythmik-Wissenschaft zu begründen; drittens eine Ausbildung, die dem Verhältnis von Identität und geklärten

Anwendungsbezügen Rechnung trägt; und viertens die Bezeichnung des Faches.

Die erste Überlegung hat für die folgenden grundlegenden Charakter und benötigt daher den meisten Raum. Bevor ich mit dem ersten Aspekt beginne, dürfte eine Standortbestimmung meiner Überlegungen angebracht sein. Als Musikpädagoge, der im Bereich der Instrumentaldidaktik zu Hause ist, kann ich das Fach Rhythmik nur als Außenseiter betrachten. Die Chance dieser Perspektive mag darin liegen, dass sie Wahrnehmungen und Eindrücke ermöglicht, die bei einer distanzlosen Nähe vielleicht nicht mehr deutlich aufkommen. Das ist meine Hoffnung. Ihr gegenüber steht die Befürchtung, den Fachleuten der Rhythmik nur Naheliegendes, längst Bekanntes und oft Gedachtes vorzutragen. Um meine Sichtweise noch etwas näher zu bestimmen, berichte ich kurz über meine Haupterfahrungen mit dem Fach Rhythmik. Bereits in ihnen scheinen mir einige prinzipielle Schwierigkeiten, aber auch Vorzüge und Qualitäten des Fachs hervorzutreten. Meine erste Begegnung mit der Rhythmik zu Beginn eines Instrumentalpädagogik-Studiums verlief negativ. Das, was ich da erlebte, konnte ich nicht zusammenbringen mit dem, was ich mir unter dem Begriff “Rhythmik” vorstellte: Wieso war das eine Rhythmusschulung, wenn ich mich zu einer mir unsympathischen, gymnastikstundenhaften Musik durch

den Raum bewegen musste? Was sollte und konnte ich dabei lernen? Besonders unangenehm waren mir Aufforderungen, mich in meinen Bewegungen spontan zu verhalten. Deutliche Anweisungen wären mir lieber gewesen. Da ich das Fach wegen dieser Erstbegegnung nicht mochte, “erledigte” ich es durch gezieltes Schwänzen. Weder ein künstlerischer Wert noch auch ein Nutzen von Rhythmikunterricht für mein künstlerisches Hauptfach (das Klavier) ist mir im Studium recht klar geworden.

Später unterrichtete ich an einer Musikhochschule Studierende verschiedener Ausbildungsgänge im Haupt- und Pflichtfach Klavier. Dabei erlebte ich die Rhythmikerinnen – männliche Vertreter gab es in diesem Bereich nicht – im Vergleich zu Studierenden anderer Hauptfächer häufig als musikalisch aufgeschlossener, weniger konservatorial geprägt: Sie waren interessierter etwa an Neuer Musik, an Improvisation, zeigten sich oft fantasievoller beim bildhaften Versprachlichen musikalischer Strukturen. Zu meinem Erstaunen bemerkte ich allerdings, dass ihre Ansprechbarkeit auf eine musikadäquate Profilierung von Bewegungen beim Musizieren häufig nur zu schwachen Resultaten führte. Das Missverhältnis

der in ihrem Hauptfach hervorragend entwickelten Bewegungsfähigkeit zu den instrumentalen Spielbewegungen war nicht zu verkennen. Diese Unstimmigkeit blieb ein ungelöstes Problem für mich.

Tiefere Einblicke in den Reichtum des Faches Rhythmik gewann ich später als “fachfremdes” Mitglied von Prüfungskommissionen der Hauptfachausbildung und überdies durch die wertvolle, auch im Hinblick auf allgemein pädagogische und instrumentaldidaktische Fragen anregende Zusammenarbeit mit meiner Berliner Kollegin, Professorin Gisela Schwartz.

Meine Liebe zur Rhythmik basiert hauptsächlich auf diesen Erfahrungen. Mich fasziniert vor allem die schier unübersehbare Vielfalt der Möglichkeiten, Musikalisches in Bewegungen darzustellen, Musik durch Bewegung intensiver zu verstehen und zu interpretieren. Und im Zusammenhang damit staune ich immer wieder über den Reichtum musikbezogener Gruppenprozesse. Wenn ich also meine Kontakte mit der Rhythmik überblicke, stelle ich fest: Das Potenzial des Faches ist mir aufgegangen an künstlerisch qualifizierten Vorführungen sowie an gelungenen Anleitungen zum Erarbeiten von Erlebnis- und Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich Musik und Bewegung. Dieser persönliche Befund bestätigt mich in meiner Überzeugung, dass das Zentrum der Rhythmik als ein künstlerisches bzw. künstlerisch-pädagogisches bestimmt werden muss. Eine Begründung möchte die erste meiner vier Überlegungen zur Klärung des Faches Rhythmik geben.

1. Überlegung

Das Fach Rhythmik sollte sich auf seinen künstlerischen bzw.

künstlerisch-pädagogischen Kern besinnen und aus ihm seine Identität bilden. Bei der Beschäftigung mit zahlreichen Definitionen oder Umschreibungen des Gegenstandes Rhythmik 3 fällt mir auf, dass von Kunst meist gar nicht und wenn, dann eher beiläufig die Rede ist. Ob Rhythmik nun als Fach, als Unterrichtsprinzip oder als beides zusammen bestimmt wird – der künstlerische Aspekt steht, von einigen Ausnahmen abgesehen,4 im Hintergrund. Die Autorinnen und Autoren sparen bei ihren Klärungsversuchen und Zielbestimmungen nicht mit vielerlei Zuschreibungen von wohlklingenden Qualitäten und Potenzialen. So ist etwa die Rede von “Selbsterfahrung (Selbsteinschätzung – Selbstregulierung – Identitätsfindung), […] Fremd- und Umwelterfahrung (Einschätzung und Regulierung – Solidaritätsfindung), […] der individuellen Entwicklung in den sozialen Bezügen (individuell optimales Sozialverhalten: selbständig-flexibel-anpassungsfähig)”,5 von

“biologisch-leiblichen, geistigen und psychosozialen”6 Prozessen, von “kybernetische[m] Erziehungssystem”,7 von “pädagogischen, therapeutischen und präventiven Perspektiven”8 und von vielem anderen. Dass Rhythmik aber primär und als Basis aller weiteren Leistungsmöglichkeiten eine künstlerische Dimension hat, dass sie zunächst künstlerische Erfahrungen ermöglichen soll, das wird nirgends ausgesagt.

Dieser Fehler wiegt schwer: Er bedingt nämlich den besagten Mangel an fachlicher Identität. Die inhaltliche Verzettelung und Verwässerung der Rhythmik, ihr unscharfes Profil und ihr Mangel an öffentlichem Ansehen hängen mit der Tatsache zusammen, dass das künstlerische bzw. künstlerisch-pädagogische Moment allenfalls als eine Möglichkeit diversen anderen Erscheinungsformen der Rhythmik nebengeordnet, nicht jedoch als einigender Bezugspunkt und als Grundlage der Produktivität auch in den Anwendungsbereichen herausgestellt wird.

Inwiefern ist die Basis der Rhythmik eine künstlerische bzw.

künstlerisch-pädagogische? Bei aller verwirrenden Vielfalt der Rhythmik-Bestimmungen scheint mir die Aussage konsensfähig zu sein, dass die Rhythmik in erster Linie die Zusammenhänge von Musik und Bewegung thematisiert. Musik und Bewegung – was sind das für Phänomene? Die Musik darf man den Künsten zuordnen, ohne Zweifel. Bewegung 9 dagegen muss nicht Kunst sein: Sie ist zunächst ein Phänomen der Natur, sodann ein menschliches Grundvermögen, das sich unwillkürlich in allen Verrichtungen entfaltet, “auslebt”, darüber hinaus aber auch gezielt kultiviert bzw. verwendet wird – im Sport, in der Gymnastik, in der Therapie oder in der Prävention. Sport und Gymnastik dienen primär der körperlichen Entwicklung; Therapie und Prävention haben somatische oder psychische Ziele. Es sind zweckbestimmte Disziplinen, jedoch keine Künste. Die

Bewegungsschulung dient hier außerkünstlerischen Absichten. Im Zusammenwirken mit der Musik aber wird Bewegung zu einem künstlerischen Phänomen. Rhythmik als das Fach, in dem es um die Zusammenhänge von Musik und Bewegung geht, agiert also mit Bewegung als einem Medium der Kunst.

Das gilt auch dann noch, wenn die Rhythmik sich in den Dienst diverser Anwendungsbereiche stellt. Der Zusammenhang von Musik und Bewegung als künstlerische Ausdrucksformen ist ein konstituierendes Moment der Rhythmik. Diese Grundeinsicht scheint mir im heutigen Selbstverständnis des Faches zu wenig präsent zu sein. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Natürlich wird man die Spezifik von Bewegungen im Rhythmik-Unterricht nicht ausschließlich unter künstlerischen Gesichtspunkten betrachten. Unverzichtbar ist zweifellos auch, sich im Studium über die anatomischen und physiologischen Grundlagen von Bewegungen Klarheit zu verschaffen. Aber diese Wissensbedürfnisse haben einen Zweck: Sie sollen helfen, die auf Musik abgestimmte künstlerisch geprägte Darstellungsfähigkeit durch Bewegungen und deren pädagogische Vermittlung zu verbessern. Ebendiese Kompetenzen aber stehen im Mittelpunkt des Faches Rhythmik.

Man mag einwenden, es sei prekär, der von Identitätskrisen geschüttelten, zwischen vielen Gebieten herumirrenden Rhythmik zur vermeintlichen Selbstklärung nun auch noch den Begriff Kunst aufzuhalsen; die dann unvermeidlichen kunsttheoretischen Diskussionen würden endgültig zu einer

heillosen Verwirrung führen. Ich glaube nicht, dass dies der Fall sein muss. Im Gegenteil: Die Fundierung der Rhythmik in der Kunst stiftet die dringend gebotene Identität des Faches. Zur Beantwortung der Frage, was denn in Bezug auf die Rhythmik mit dem Begriff “Kunst” gemeint sei, genügt mir die knappe Kennzeichnung von Kunst als “Darstellung” im Verständnis des griechischen Begriffs “Mimesis”. Dazu führt der Philosoph Georg Picht aus: “Der Satz ,Kunst ist Darstellung’ bedeutet, dass Kunst uns etwas sichtbar macht, was wir ohne sie weder sehen noch hören noch überhaupt entdecken könnten. Musik läßt erklingen, was unhörbar ist; Malerei und Plastik machen das Unsichtbare sichtbar; Dichtung ist die Kunst, das Unsagbare zu sagen.”10 Und die Rhythmik, was stellt sie dar? Ihr Zentrum ist die Umsetzung von Musik in Bewegung. Sie ist die Kunst, etwas Hörbares (d. h. etwas in der Regel körperlich Hervorgebrachtes, jedoch primär akustisch in Erscheinung Tretendes) körperlich darzustellen. Sie macht musikalische Bewegungen (im weitesten Sinn des Wortes) in einer ganz

besonderen, einmaligen Weise erfahrbar; ohne diese Art der Darstellung könnten wir die betreffenden musikalischen Phänomene – Strukturen, Ausdruckspotenzen – so nicht erleben.

Die Rhythmik greift ein unmittelbares menschliches Bedürfnis auf: Musik ästhetisch befriedigend in Bewegungen auszudrücken. In allen Zeiten und Kulturen lassen sich das Umsetzen musikalischer in körperliche Bewegungen sowie das Interagieren zwischen Musizieren und Bewegen als primäre menschliche Ausdrucksformen beobachten. Indem die Rhythmik diesen anthropologisch konstanten Bedürfnissen gerecht wird, hat sie eine Rechtfertigung ihrer Existenz, und zwar vor allen Anwendungsbezügen. Anders herum gewendet: Nur eine solche die Einheit des Faches garantierende künstlerische Identität kann die Rhythmik davor bewahren, sich in unübersehbare, auf unmittelbaren Nutzen hin konzipierte Anwendungsbezüge zu zerfasern und ihre Existenz allein durch diese unterschiedlichen Zwecke rechtfertigen zu müssen. Indem sie den Zusammenhang von Musik und Bewegung als Ausdrucksmedien der Kunst zum Gegenstand hat, trifft auch für sie zu, was nach Georg Picht für alle Kunst gilt: Sie ist eine “primäre, unreduzierbare, aber für alles Wissen und Können konstitutive Form der Erkenntnis von Welt”. Ohne Zweifel hat auch (und gerade) eine primär künstlerisch verstandene, “anwendungsfreie” Rhythmik als Verfeinerung des besagten menschlichen Bedürfnisses und Vermögens einen hohen Bildungswert: Das hier Erfahrene strahlt in vielfältige außerrhythmische Aktivitäten ab, und dies wahrscheinlich um so

eher, je seriöser es nach künstlerischen Kriterien ausgeübt und vermittelt wird und je weniger die künstlerischen Möglichkeiten von vornherein reduziert werden auf einen bestimmten Anwendungszweck. Festzuhalten ist der Unterschied zwischen Zwecken und Funktionen: Die Indienstnahme einer künstlerischen Praxis für bestimmte außerhalb ihrer selbst liegenden Zwecke verengt zwangsläufig die Möglichkeiten dieser Praxis und reduziert damit die durch ästhetische Erfahrungen freigesetzten Funktionen. Verzweckte Anwendungen mögen das gesetzte Ziel erreichen – der darüber hinausreichende ästhetische “Überschuss” jedoch wird vergleichsweise

begrenzt bleiben.

Es mag der Verdacht entstehen, mit der Betonung der kunstspezifischen Grundlagen der Rhythmik solle das Fach in einen hohen Elfenbeinturm eingewiesen und den Niederungen der vielfältigen Anwendungsbezüge enthoben werden. Dies ist keineswegs der Fall. Auch hier gilt das Gegenteil: Die künstlerisch geprägte Identität der Rhythmik macht das Fach viel freier, sich selbstbewusst, ohne Gesichtsverlust, Profilneurosen und Orientierungsprobleme den verschiedenen Bereichen zu öffnen, in denen sie nützlich wirken kann. Eine klare Identität beugt Verwechslungen mit den Anwendungsdisziplinen vor und verhindert, dass die Rhythmik allenfalls als eine hübsche Spielart oder als nette spielerische Arbeitsweise des betreffenden außerrhythmischen Gebiets erscheint.

Wer ein Rhythmik-Studium absolviert hat, ist gleichermaßen künstlerisch wie pädagogisch ausgebildet. Im Berufsbewusstsein von Rhythmikerinnen aber scheint mir das künstlerische Selbstbewusstsein häufig zu verkümmern.

Darin unterscheiden sich Rhythmikerinnen etwa von Instrumentalpädagoginnen: Bei ihnen bilden in der Regel pädagogische und künstlerische Qualifikation eine Einheit, die ihnen Identität und Befriedigung gibt. Für viele Instrumentallehrerinnen ist es selbstverständlich, neben der Unterrichtstätigkeit weiterhin intensiv zu üben und künstlerisch hervorzutreten. Und ihre Reputation als Pädagoginnen verdankt sich nicht nur ihren Unterrichtserfolgen, sondern sehr häufig auch ihren künstlerischen Leistungen.

Bei der Rhythmik ist das anders. Außerhalb des Hochschulbereiches erlebt man selten von Rhythmikerinnen ausgeführte bzw. erarbeitete Rhythmik-Darbietungen auf hohem künstlerischem Niveau. Diesem Defizit entsprechend fehlt in der Öffentlichkeit eine rechte Vorstellung von den künstlerischen Möglichkeiten des Faches. Stattdessen begegnet man immer wieder und immer noch den sattsam bekannten Klischees, in denen “Rhythmik” als seltsam altertümliches, blaustrümpfiges, vom Jugendstil angehauchtes Bewegungsgewabere erscheint. Um es unumwunden zu sagen: Mit der Vernachlässigung ihrer künstlerischen Dimension verfällt die Attraktivität

der Rhythmik. Und es trifft leider zu, was Holmrike Leiser-Maruhn kritisch zur gegenwärtigen Situation ihres Faches diagnostiziert: “Bemühungen um eine künstlerische Weiterentwicklung bleiben Bekenntnisse einzelner.”11 Öffentlichkeitswirksame, ästhetisch überzeugende Innovationen des Faches setzen voraus, dass sich das Fach seiner künstlerischen Identität bewusst wird. Wenn dies geschieht, werden ansehnliche Projekte auch außerhalb des Hochschulbereichs folgen, und das so gewonnene Ansehen der Rhythmik wird gewiss auch deren Anwendungsformen zugute kommen. Damit bin ich bei meiner

zweiten Überlegung.

2. Überlegung

Die Offenheit der Rhythmik ist ein wertvolles Potenzial des Faches. Damit sie seriös praktiziert werden kann, müssen die spezifischen Möglichkeiten und Aufgaben der Rhythmik in den jeweiligen Partnerdisziplinen geklärt werden. Die Rhythmik benötigt eine wissenschaftliche Aufarbeitung ihrer

Anwendungen und ihrer Grundlagen in historischer und systematischer Hinsicht.

Die Rhythmik vertritt traditionell die Ansicht, dass sie für alle

möglichen menschlichen Aktivitäten und Disziplinen förderlich sei. So bezeichnete bereits Emile Jaques-Dalcroze seine “rythmique” im Jahre 1906 als eine “allgemeine Erziehungsmethode […], [die] Anfangspunkt werden [könne] für jeden Unterricht, sowie für jede selbständige Tätigkeit des Kindes”;12 fünf Jahre später nannte er seinen Unterricht außerdem “eine Vorbereitung auf alle Künste, denn der Rhythmus ist die Grundlage aller”.13 Und in seinem 1921 erschienenen Buch Rhythmus, Musik und Erziehung schrieb Jaques-Dalcroze noch kühner: “Die Rhythmik stellt sich dar als eine der elektrischen und den großen chemischen und physischen Naturgewalten ähnliche Gewalt, als eine kräfte- und seelenstrahlende Macht, die uns durch ihr Wirken uns selber zurückgibt, und uns nicht nur unsrer eigenen, sondern auch fremder Kräfte, ja der Kräfte der ganzen Menschheit bewußt werden läßt.”14

Schon in dieser Frühzeit beginnen also die Ideologiegeschichte und der Schwulst des Faches. Die Rhythmik gewissermaßen als Nabel der Welt, als Vorbereitung für vielerlei, als Heil für alles – man kann nur staunen darüber, wie vollmundig und bisweilen geradezu missionarisch die Rhythmik immer wieder ihre überall hin ausstrahlenden segensreichen Wirkungen behauptet und verkündet hat. Weil ihr liebevoller Totalitarismus so

wohlmeinend, gutgläubig und arglos ist, löste er meist wenig Widerstand aus. Allerdings wurde und wird er häufig belächelt. Das schadet dem Fach auf Dauer. Schon deshalb braucht die Rhythmik den Mut zur Klärung ihrer Wirkungsmöglichkeiten. In jedem Fall muss das grandiose Selbstbewusstsein in vielen Fachkonzepten mit Skepsis betrachtet werden. Denn nicht anders als in der menschlichen Psyche ist wohl auch hier eine

Omnipotenzmentalität nur die Kehrseite eines tief verwurzelten Minderwertigkeitsgefühls, eines Mangels an stabiler Identität. Die Wirklichkeit sieht so aus: Da die Rhythmik sich nicht auf einer klaren fachlichen Basis orten kann, verschwimmen die Konturen, zerfließt das Fach ins weite Umland.

Auch an dieser Stelle möchte ich einem Missverständnis vorbeugen. Meine Forderung, die Rhythmik möge mehr als bisher ihren Geltungsbereich klären, will keineswegs ihre fruchtbare Einbeziehung in diverse Anwendungsbereiche

in Frage stellen. Eher im Gegenteil: Es gilt, die Offenheit der Rhythmik als ein wertvolles Kapital des Faches zu bewahren. Dazu aber muss die Art und Weise ihrer Mitwirkung in anderen Disziplinen genauer reflektiert und bestimmt werden. An die Stelle von blumigen Beschwörungen muss zunächst nüchterne, sachliche Forschungsarbeit treten. Die Hauptfrage lautet: Was genau sind die bisherigen und die möglichen Funktionen der Rhythmik z. B. in der Elementaren Musikpädagogik, im Instrumentalunterricht, in der Sozial-, Heil-, Behindertenpädagogik, in der Erwachsenenbildung, in der Musiktherapie? Mit dieser Frage eröffnen sich weit reichende Forschungsaufgaben, und zwar historische wie systematische.

Historisch wäre zu untersuchen, wann, wie und wo Elemente der Rhythmik in welcher Gestalt in außerrhythmische musik- und allgemein pädagogische Arbeitsbereiche eingedrungen sind. Davon ist im Allgemeinen wenig bekannt. Denn die Infiltrationen und Adaptionen haben sich – nicht zuletzt aufgrund der unklaren Identität der Rhythmik – meist unauffällig vollzogen, so dass viele Ideen und Praktiken der Rhythmik heute anderswo höchst produktiv wirken, ohne dass jemand sich der Herkunft bewusst wäre. Es ist an der Zeit, diese stillschweigenden Befruchtungen und Kapitalzuwächse anderer Fächer durch die Rhythmik in ihrer historischen Entstehung und Entwicklung differenziert aufzuarbeiten und damit die faktische Bedeutung der Rhythmik

ins rechte Licht zu rücken. In systematischer Hinsicht müsste zur Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen von Anwendungsbezügen der Rhythmik mehr als bisher eine

wissenschaftliche (einschließlich: didaktische) Kooperation mit Fachleuten der jeweiligen Disziplin treten. Nur so lässt sich der spezifische Bedarf für die betreffenden Komponenten der Rhythmik präzisieren, und nur so können gezielte Konzepte für eine angemessene und wirkungsvolle Arbeit der Rhythmik im einzelnen Anwendungsbereich entwickelt werden. Um ein Beispiel zu geben und meine eingangs angesprochenen Erstbegegnungsprobleme mit dem Fach aufzugreifen: Es ist meines Wissens bis heute nicht fundiert erörtert worden, was die Rhythmik im Einzelnen für die Instrumentalpädagogik leisten kann (- und was nicht). Zu fragen wäre etwa: Wie verhalten sich die in der Rhythmik dominierenden Bewegungsweisen zu den Bewegungsanforderungen beim Instrumentalspiel? Was kann die Rhythmik methodisch zu einer verbesserten Vermittlung von Spielbewegungen beitragen? Was sind die Übereinstimmungen und Differenzen? Was ist der

“Bildungswert”, der in der Umsetzung von Musik in Bewegungen liegt und inwiefern kommt er auch der instrumentalen Darstellung von Musik zugute?

Viele solcher Fragen könnten zu fruchtbarer gemeinsamer Arbeit von Rhythmikerinnen und Instrumentalpädagogen führen. Ähnliches gilt für andere Fachkonstellationen. Immerhin liegen inzwischen Ansätze zu interdisziplinärer Kooperation vor.15

Aber nicht nur die Anwendungspotenziale der Rhythmik wären sorgfältiger zu untersuchen. Auch die Grundlagen des Faches selbst, seine tragenden Ideen und das damit verbundene Vokabular bedürfen einer kritischen Prüfung. Das gilt etwa für die immer noch herumgeisternden lebensphilosophischen Ausdeutungen des Wortes Rhythmik, für Begriffe wie “Ganzheit”, “Kreativität” usw., die meist unreflektiert und vor allem unspezifisch gebraucht werden, d. h. über das Einmalige der Rhythmik nichts aussagen:Denn natürlich beansprucht nicht nur die Rhythmik, sondern auch sonstiger Musikunterricht, die Schüler “ganzheitlich” zu bilden und ihre “Kreativität” zu entwickeln – und mittlerweile tauchen diese Vokabeln wie Spielmarken ja auch in den Selbstdarstellungen vieler weiterer Aktivitäten wie Sport, Tanz und diverser Körpertechniken auf, zu schweigen von den Angeboten etwa eines “CreativCoiffeurs” und Aktivitäten wie “ganzheitlichem Töpfern”… Auch die Ästhetik der Rhythmik, speziell die der Bewegungsgestaltung, wäre

geschichtlich zu durchleuchten. Mir scheint, dass rhythmische Umsetzungen von Musik immer noch hier und da befangen bleiben in einer unbedacht tradierten Bewegungsästhetik, die auf die Jugendstilzeit zurückgeht. Man muss diese Ästhetik nicht verpönen, aber sie sollte relativiert und bewusst praktiziert werden als eines von vielen vorhandenen bzw. denkbaren Bewegungskonzepten. Eine Aufarbeitung der Geschichte des Faches kann zu einem bewussteren Umgang mit den vielfältigen Arbeitsweisen und Techniken führen, die die Rhythmik im 20. Jahrhundert entwickelt hat. Sicher liegt hier – nicht anders als etwa in der Instrumentaldidaktik – ein großer Fundus an praktischen Erfahrungen und methodischen Möglichkeiten vor, der nicht über Bord geworfen, sondern differenziert genutzt werden sollte. Vielleicht ist die Rhythmik als primär praktisches Fach damit überfordert, die hier angeregte, meines Erachtens unerlässliche wissenschaftliche Aufarbeitung allein zu leisten. Hilfe bieten kann die wissenschaftliche Musikpädagogik. Für musikpädagogische Dissertationen eröffnet die Rhythmik

ein reiches Themenfeld. Damit solche Forschungsarbeiten in Gang kommen, sind mehr Kontakte und Kooperationen zwischen Vertretern beider Fächer nötig. Eine Öffnung der Rhythmik zur Wissenschaft steht jedenfalls an. Auch hier gilt: Offenheit und Identität bedingen einander. Die Rhythmik

braucht wissenschaftliche Klärung, um sich ihrer selbst zu vergewissern und sich weiterentwickeln zu können.

Als ersten Schritt auf diesem Wege schlage ich die Erstellung eines sachkundig und kritisch kommentierten Sammelbands mit Quellentexten zur Geschichte der Rhythmik vor. Bislang ist es schwierig und zeitraubend, sich anhand von Primärquellen in diese Materie einzuarbeiten. Dementsprechend gering sind die fachgeschichtlichen Kenntnisse mancher Rhythmik-Absolventinnen. Ein kompetent angelegter Quellenband hätte für die Konsolidierung des Faches einen hohen Wert. Besonders die Rhythmik-Studierenden würden enorm davon profitieren. Das führt mich zu meiner dritten Überlegung.

3. Überlegung

Für die Zukunft des Faches Rhythmik ist eine Ausbildung wünschenswert, die dem Verhältnis von künstlerisch-pädagogischer Identität und geklärten

Anwendungsbezügen Rechnung trägt. Die bestehenden Identitätsprobleme der Rhythmik werden verstärkt durch ein

häufig nur geringes theoretisches Wissen der Rhythmiker um ihr Fach. Drastisch ausgedrückt: Das Fach “schwimmt” nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch in den Köpfen mancher Fachvertreter. Diese Defizite wirken sich auf die Öffentlichkeitsarbeit der Rhythmik sehr nachteilig aus. Erst

wenn Rhythmikerinnen ein theoretisch fundiertes Bewusstsein von der Identität ihres Faches, von seinen Leistungspotenzialen, aber auch von seinen Ideologien und fragwürdigen Erscheinungsformen haben, werden sie ihr Metier professionell öffentlich vertreten, legitimieren, klären, verteidigen und stärken können.

Reformbedarf für das Studium der Rhythmik ergibt sich aber vor allem aus dem Verhältnis von künstlerisch-pädagogischer Identität und geklärten Anwendungsbezügen. Dazu möchte ich zunächst bemerken: Mir erscheint die Rhythmikausbildung wie bisher an den Musikhochschulen gut aufgehoben. Die dortige Verankerung entspricht der Tatsache, dass es bei aller

Anwendungsvielfalt der Rhythmik doch einen ihre Erscheinungsformen zusammenhaltenden künstlerisch-pädagogischen Kern gibt. Ferner hat die

Rhythmikausbildung an Musikhochschulen ihren Sinn, weil sie die anderen dort vertretenen künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Studienrichtungen enorm bereichern kann und weil überdies die Rhythmik-Absolventen durch die Zusammenarbeit mit diesen Studienrichtungen

ihr künstlerisch-pädagogisches Selbstbewusstsein stärken können. Nur dann müsste eine grundständige Ausbildung von Rhythmikerinnen primär an Musikhochschulen in Zweifel gezogen werden, wenn der künstlerisch-pädagogische Aspekt des Faches lediglich ein möglicher unter vielen anderen, nicht aber der zentrale wäre. In diesem Falle wäre darüber nachzudenken, spezielle Rhythmik-Ausbildungen auch oder sogar hauptsächlich an therapeutische, sportliche und heilpädagogische Studiengänge zu delegieren – womit freilich die Aufsplitterung des Fachs befördert würde.

Das Problem einer seriösen und berufsadäquaten Rhythmik-Ausbildung liegt darin, wie auf der Grundlage eines künstlerisch-pädagogischen Basisstudiums Qualifizierungen in bestimmten Anwendungsbereichen vermittelt werden können. Identität und Offenheit bedingen einander. Es existiert kein prinzipieller Gegensatz zwischen einer künstlerisch-pädagogischen und einer auf bestimmte Erfordernisse hin funktionalisierten Rhythmik. Wohl aber sollte zwischen beiden unterschieden werden, und dieser Unterscheidung hätte die Rhythmik-Ausbildung Rechnung zu tragen. Sinnvoll wäre meines Erachtens eine Konzeption von Rhythmik-Studiengängen, in denen die Studierenden

neben den künstlerisch-pädagogischen Fähigkeiten eine gezielte Qualifikation für eine bestimmte Anwendungsdisziplin der Rhythmik erwerben. Möglich wären beispielsweise Instrumentalpädagogik, Sozialpädagogik, Heilpädagogik, Behindertenpädagogik, Musiktherapie. Auf diese Weise könnte das Rhythmik-Studium berufsbezogener gestaltet werden; es würde vor der bis dato bestehenden Gefahr des “Alles und Nichts” bewahrt bleiben. Ein unspezifiziertes Rhythmik-Studium ist doch wohl hoffnungslos überfordert damit, allen Anwendungsbereichen gleichermaßen Rechnung zu tragen. Damit differenziert ausgebildet werden kann, müssten die Hochschulen sich untereinander abstimmen und auf Schwerpunkte einigen.

In einer im künstlerisch-pädagogischen Fundament vergleichbaren, in der Anwendung jedoch spezialisierten Studienkonzeption dürfte eine große Chance für Profilbildungen von Rhythmik-Studiengängen an verschiedenen Ausbildungsinstituten liegen. Vermutlich bestünden für Absolventinnen mit einer breit fundierten und doch gezielten Ausbildung bessere Berufschancen als bisher. Die beruflichen Perspektiven für Rhythmikerinnen könnten klarere Konturen gewinnen, und die Forderungen nach einer angemessenen Honorierung hätten mehr Aussicht auf Erfolg. Klarheit für das Fach Rhythmik ist damit aber noch nicht in wünschenswertem Maße geschaffen. Ein Stein des Anstoßes bleibt die Fachbezeichnung “Rhythmik”. Damit befasst sich meine letzte Überlegung.

4. Überlegung

Die Bezeichnung “Rhythmik” erweist sich dauerhaft als Hindernis für das Selbstverständnis und die Außendarstellung des Faches. Eine adäquate Umbenennung scheint auf Dauer unausweichlich zu sein. Immer wieder sind Rhythmikerinnen und Rhythmiker mit der Tatsache konfrontiert, dass Außenstehende falsche Vorstellungen mit der Bezeichnung ihres Faches verbinden. “Rhythmik” – das ist in ihren Köpfen am ehesten so etwas wie Rhythmuslehre, ähnlich (aber bei Lichte besehen eben auch wieder anders) wie das, was Harmonik im Verhältnis zu Harmonie oder Melodik zu Melodie ist. Erleben solche arglosen Nicht-Kenner eine Rhythmik-Veranstaltung, dann sind sie häufig irritiert, denn ihre Vorstellungen von Rhythmik entsprechen ja überhaupt nicht dem, was sie da

mitbekommen. Und es kann ihnen auch niemand überzeugend erklären, warum die Umsetzung von Musik in Bewegungen wie auch andere Inhalte des Faches ausgerechnet “Rhythmik” genannt werden. Man mag auf Platons Rhythmus-Definition verweisen: “Rhythmus ist die Ordnung der Bewegung.”16

Aber hilft das weiter, wenn das Wort heute durchweg anders benutzt wird? Eher schafft der Hinweis neue Irritationen.

Ich möchte versuchen, die Fragwürdigkeiten der Bezeichnung “Rhythmik” kurz zu benennen. Erstens: Der Bezug der Bezeichnung Rhythmik zum Alltagsverständnis des Begriffs “Rhythmus” schafft, wie gesagt, Verwirrung. Zweitens: Es ist hoffnungslos, aus wissenschaftlich reflektierten Rhythmustheorien Klarheit für den Begriff Rhythmik zu gewinnen. Mittlerweile hängt nämlich der Rhythmusbegriff selbst in der Luft, weil “nach der langen Geschichte der Rh.[ythmus]-Theorien heute die Frage, was Rh.[ythmus] eigentlich sei, zumeist offenbleibt”.17 “Das Wort sagt zwar vieles und doch fast nichts mehr.”18 Mit dem Begriff Rhythmus bekommt das Fach Rhythmik also keinen tragfähigen Boden unter die Füße. Drittens: Die schillernde Bedeutung des Begriffs Rhythmus und die schlichte Tatsache, dass Rhythmus sich über die Musik hinaus in allen Wirklichkeitsbereichen finden lässt, waren gewissermaßen die Einfallstore für alle möglichen heilstiftenden und welterlösenden Ideologien der Rhythmik. Der Bezug zum Wort Rhythmus hat sich als schwere Hypothek für

das Fach erwiesen.

Man kann Gudrun Schaefer nur zustimmen, wenn sie schreibt: “Eine Hauptursache für die Mißverständlichkeit der ,Rhythmik’ sehe ich in Versuchen, sie vom Phänomen ,Rhythmus’ abzuleiten und von daher zu erklären.”19 Mit Rudolf Konrad hält Schaefer es daher “für sinnvoll und notwendig, ,Rhythmus’ als Erklärungskategorie für ,Rhythmik’ ganz beiseite zu lassen”.20 Die Konsequenz ist plausibel, aber auch gefährlich: Mit der Ausklammerung des Stammworts wird nur verdrängt, wovon man sich lösen wollte; unterschwellig wirkt das fragwürdige Potenzial nach. Vor allem aber beseitigt die Konsequenz leider nicht die Misslichkeit der Fachbezeichnung Rhythmik. Sie verstärkt sie sogar eher. Denn wieso gibt sich ein Fach einen Namen, der mit seinem Bezugsbegriff gar nichts zu tun

haben soll? Das will nicht einleuchten. Und der Appell, das Wort Rhythmik ohne die offenkundige Verwandtschaft mit “Rhythmus” zu hören, dürfte letztlich doch wohl vergebliche Liebesmüh’ bleiben. Er ist nicht einzulösen.

Mir scheint: Um die Frage einer angemessenen, Missverständnisse und Unklarheiten ausschließenden oder zumindest reduzierenden Benennung des Fachs wird die Rhythmik auf Dauer nicht herumkommen, wenn sie zu einem

geklärten Erscheinungsbild gelangen will. Entsprechende Überlegungen wurden und werden verschiedentlich angestellt. Eine prinzipielle Skepsis bleibt allemal berechtigt: Ist es realistisch, eine unbefriedigende, aber immerhin gewachsene und wenigstens in Fachkreisen etablierte Bezeichnung durch eine bessere, aber künstlich eingeführte zu ersetzen? Bewirkt das nicht neue Identitätskrisen und einen weiteren Gesichtsverlust des Faches? Ich traue mir nicht zu, diese Frage prognostisch zu beantworten. Aber ich habe eine Vorstellung von den Bedingungen, die eine sachlich geeignetere Fachbezeichnung erfüllen müsste:

– sie sollte unprätenziös, nicht verwissenschaftlicht sein und nicht aus schwer verständlichen Fremdwörtern bestehen;

– sofern sie deutsche Begriffe benutzt, sollten diese leicht in andere Sprachen übersetzbar sein;

– sie sollte möglichst anschaulich und konkret, aber auch nicht zu eng gefasst sein, damit das weite Spektrum des Faches nicht eingeschränkt wird;

-sie sollte unmissverständlich den Bezug zur Musik beinhalten, der für die Bewegungsdarstellung der Rhythmik konstitutiv ist.

Gemessen an diesen Anforderungen können erwogene Benennungen wie “Sensomotorik” oder “Kinesomatik” nicht überzeugen. Sensomotorik schränkt das Spektrum der Rhythmik allzusehr auf einen bestimmten Aspekt ein; Kinesomatik klingt doch recht gespreizt und wird nicht ohne weiteres verstanden. Vor allem aber: Beide Bezeichnungen stellen durch Ausblendung des Musikbezugs das künstlerische Potenzial des Faches zur Disposition. Stattdessen evozieren sie Vorstellungen, die mehr mit Körpertechniken, Körpersprache-Pädagogik bzw. verfeinerten Sportarten zu tun haben. Mit einer solchen Ausrichtung aber würden die Grundlagen der Rhythmik preisgegeben.

Was aber wäre eine angemessenere Fachbezeichnung? Mir fällt keine bessere ein als das schlichte Wortpaar “Musik und Bewegung”. Es benennt klar die zentralen Phänomene, die die Rhythmik in ihrem Wechselbezug entfaltet. Und es hält die künstlerisch-pädagogische Dimension ebenso offen wie die Wege zu allen möglichen Anwendungsbereichen. Identität und Offenheit aber sind Kriterien, ohne die die Rhythmik profillos bleibt – gleichgültig, wie ihre Fachbezeichnung lautet.

1 Holmrike Leiser-Maruhn: Artikel “Rhythmik”, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2., neubearb. Ausgabe, Kassel 1998, Sp. 255.

2 Reinhard Ring/Brigitte Steinmann: Lexikon der Rhythmik, Kassel 1997, S. 32.

3 Ich stütze mich hier auf die Zusammenstellung von Gudrun Schaefer in: dies.: Rhythmik als interaktionspädagogisches Konzept. Ansätze zur fachlichen Standortbestimmung und didaktischen Grundlegung, Solingen 1992, S. 275-281.

4 etwa: Gertrud Bünner/Holmrike Leiser: “Rhythmik –

Rhythmisch-musikalische Erziehung”, in: Eva Bannmüller/Peter Röthig (Hg.): Grundlagen und Perspektiven ästhetischer und rhythmischer Bewegungserziehung, Stuttgart 1990, S. 171 (zit. nach Schaefer, S. 275); Erna Erdmann: Rhythmik – Genese eines Faches, Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 176 (zit. nach Schaefer, S. 276); Barbara Schultze, Beitrag im

Fortbildungsprogramm der Akademie Remscheid 1991, S. 27 (zit. nach Schaefer, S. 279).

5 Flor de Maria Gesslein Birtner: “Aspekte der Gruppendynamik in der Rhythmischen Erziehung – Eine neue Wissenschaft nutzt die Erfahrungen der Rhythmik”, in: Rhythmik in der Erziehung, 4/1975a, S. 4 (zit. nach Schaefer, S. 277).

6 Amélie Hoellering: “Rhythmik im Bewußtseinswandel”, in: Rhythmik in der Erziehung, 3/1990, S. 104 (zit. nach Schaefer, S. 278).

7 Karl Lorenz: “Durchbruch zum Rhythmischen in der Erziehung”, in: Rhythmik in der Erziehung, 4/1974, S. 23 (zit. nach Schaefer, S. 279).

8 Förderungsantrag “Von der Rhythmik zur Kinesomatik”,

Evaluationsprojekt des Bundesverbands Rhythmische Erziehung, 1999, S. 8.

9 vgl. F. Kaulbach: Artikel “Bewegung”, in: Joachim Ritter (Hg.):

Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel/ Stuttgart 1971, Sp. 864-879.

10 Georg Picht: Kunst und Mythos, Stuttgart 1986, S. 139.

11 Holmrike Leiser-Maruhn: Artikel “Rhythmik”, Sp. 255. Positiv zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Rhythmik-Wettbewerbe der deutschen Musikhochschulen in den Jahren 1990, 1994 und 1998.

12 zit. nach Schaefer, S. 11.

13 ebd.

14 zit. nach Leiser-Maruhn, Sp. 253.

15 z. B.: Renate Klöppel/Sabine Vliex: Helfen durch Rhythmik.

Verhaltensauffällige Kinder – erkennen, verstehen, richtig behandeln, Freiburg 1992.

16 Nomoi 664e; vgl. Leiser-Maruhn, Sp. 257.

17 A. Corbineau-Hoffmann: 1. Teil des Artikels “Rhythmus”, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel/Stuttgart 1992, Sp. 1032.

18 Leiser-Maruhn, Sp. 257.

19 Schaefer, S. 12.

20 ebd.

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