Röbke, Peter

Jugendkultur und Musikschule

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/1999 , Seite 06

Jugendkultur und Musikschule

Dr. Peter Röbke ist Professor für Instrumental- und Gesangspädagogik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien.

Pop-Musik im Musikunterricht der allgemein bildenden Schule Wie kaum ein anderes Element der Jugendkultur hilft die Musik und d. h. in der Regel: Pop-Musik jungen Menschen, ihre individuelle Welt auszustaffieren. Die Musik bietet die Resonanz für heftige und schwankende Empfindungen, sie gibt Antworten auf Sehnsüchte und sie wird so in einem Prozess aktiver Aneignung mehr und mehr zum unverwechselbaren und persönlichen Eigentum und zu einem wesentlichen Symbol wachsender Individualität. Soll dann dieser Besitz an musikalischer Identität, den man wenn überhaupt nur mit Gleichaltrigen zu teilen bereit ist, im schulischen Musikunterricht verhandelt werden, entsteht ein Problem. Das Allerpersönlichste mutiert zum Lern- und Leistungsgegenstand, emotionale Identifikation soll womöglich rational aufgeklärt werden. Was in Akten der Selbstbestimmung einverleibt wurde, wird zum Unterrichtsthema in der prinzipiell fremdbestimmenden Institution Schule.

Und so kann man – getragen vom Respekt vor der Welt der Jugendlichen – durchaus prinzipielle Zweifel haben, ob HipHop oder Techno in die Schule gehören.1 Jedenfalls ist es angesichts des Konflikts von jugendkultureller Autonomie und schulischer Anleitung kaum verwunderlich, dass das Thema “Pop-Musik und Musikunterricht” ein Dauerbrenner ist. Dabei gibt es nicht nur jene, die achtungsvoll die Musik der Jugendlichen unangetastet lassen und Musikunterricht als Gelegenheit ansehen, z. B. Bekanntschaft mit unbekannten musikalischen Phänomenen wie den Sinfonien von Brahms zu machen. Die ausschließliche Beschäftigung mit so genannter E-Musik kann sich auch purer Ignoranz oder penetranter Überheblichkeit verdanken. Wird Pop-Musik in den Unterricht hereingelassen, ergibt sich ein pädagogisches Spektrum von Anbiederung bis hin zu einer verantworteten Pop-Musik-Didaktik (wobei eine wirkliche Pop-Musik-Didaktik gar keine Pop-Musik-Didaktik mehr ist, geht sie doch davon aus, dass jede Musik ein “Lebensmittel” im Wortsinn sein kann und Ansprüche an eine ernsthafte Beschäftigung stellt). Im ersten Fall legt der Musiklehrer in missverstandener Schülerorientierung eigentlich nur die gerade “angesagten” Platten auf, im letzteren wird er die musikalische Kompetenz der Schüler ins Spiel bringen und sich als behutsamer Moderator bemühen, Auseinandersetzung und Aneignung zu vertiefen.2

Zur Dominanz der E-Musik in der Musikschule

In der Musikschule steht die soeben angedeutete Problematik gewissermaßen auf dem Kopf: Sie ist einerseits ein Ort potenzieller musikalischer Selbstbestimmung, denn sie wird in der Regel aus freien Stücken aufgesucht (dass manche Schüler “Delegationen” ihrer Eltern zu ertragen haben, d. h. durch eine erfolgreiche eigene musikalische Entwicklung die unerfüllten Wünsche von Mutter oder Vater quasi stellvertretend zu befriedigen haben, steht auf einem anderen Blatt). Die Musikschule muss erlauben, den Weg zum individuellen musikalischen Ausdruck zu finden, denn sie trägt neben ihrem Charakter als “Schule” immer auch den des “kulturellen Dienstleistungsbetriebs”: Würden fortwährend die musikalischen Bedürfnisse der “Kunden” missachtet, würden jene bald fern bleiben. Andererseits ist die Musikschule aus historischen wie pragmatischen Gründen nach wie vor eine Stätte zur Pflege der abendländischen Kunstmusik; instrumentale Fertigkeiten werden anhand der Befassung mit traditioneller Musik entwickelt; instrumentale Fähigkeiten sollen sich in der adäquaten Darstellung von Werken erweisen. Um nur einen empirischen Befund anzuführen: Die Musikschule im Berliner Bezirk Wedding gilt in der Stadt als durchaus offene und dem Experiment zugeneigte Einrichtung. Eine groß angelegte Studie des Instituts für Kultur- und Medienmanagement an der Hochschule für Musik “Hanns Eisler”3 über die Musikschule Wedding ergab im Jahr 1997 auf die Kindern und Jugendlichen gestellte Frage “Welche Musik spielst du?”, dass die Unterrichtsliteratur z. B. zu 59 Prozent von “Klassik” und nur zu 24,7 Prozent von “Rock/Pop” oder zu 25,3 Prozent von “Improvisation” bestimmt ist (Volks- und Kinderlieder stellen mit 47,9 Prozent den zweitgrößten Bereich dar).4 Dieser Befund bestätigt programmatische Aussagen wie die folgende, die in offiziellen Stellungnahmen nicht allein steht, und zeigt, dass der Bildungsauftrag der Musikschule primär im Medium der “klassischen Musik” realisiert werden soll:

“Das Bekenntnis der Musikschule zu ihrem inhaltlichen Schwerpunkt in Form ,barocker, klassischer und romantischer Musik’ wird möglicherweise die ewig Morgigen auf den Plan rufen, ist aber nicht mehr und nicht weniger als ein Beleg für das musikkulturelle Verantwortungsbewußtsein dieser Institution. Es besitzt den Rang eines zentralen Bildungszieles, muß aber natürlich differenziert werden. Das könnte bedeuten: Nichts ist gegen die Einbeziehung von Popularmusik zu sagen, wenn sie als zusätzliche Motivation zum gemeinsamen Musizieren verstanden wird. […] Aber ein ,Bildungsziel’ kann damit nicht umrissen sein. Das wird erst in den Blick genommen mit der Verantwortung der pädagogischen Arbeit für Erhalt und Weiterentwicklung von traditioneller Musikkultur, die nicht dem aktuellen und zum alsbaldigen Verbrauch bestimmten Tagesbedarf dient.”5

Die reale Situation des Unterrichts trägt ein Übriges zur Dominanz der Musik des 17. bis 19. Jahrhunderts bei: Instrumentallehrer, die nicht nur “klassisch” musikalisch sozialisiert wurden, sondern überdies ein langes Studium absolviert haben, in dem Pop-Musik allenfalls am Rande vorkam, gehen in der Intimität der One-to-one-Situation des Einzelunterrichts eine besonders enge und zur bruchlosen Weitergabe von Traditionen geradezu einladende Beziehung ein. Und selbstverständlich ist z. B. die Violine in Mitteleuropa eher ein Instrument zur Darstellung der Musik Vivaldis oder Mozarts als ein Instrument der Volksmusik oder gar des Rock oder Jazz (in Skandinavien oder Irland mag das anders aussehen). Repertoireerweiterungen

Wenn ich behaupte, dass der Konflikt von Jugendmusik und schulischer Institution unter veränderten Vorzeichen auch in der Musikschule existiert, unterstelle ich, dass das musikalische Angebot der Lehrer nicht in jedem Fall auf Gegenliebe bei den Schülern stößt. Tatsächlich belegt auch die bereits angeführte Untersuchung unerfüllte Wünsche: 29 Prozent der oben erwähnten Schüler geben zu Protokoll, dass sie Rock und Pop als zusätzliches Angebot wünschen.

Wir nehmen also für den Moment an, dass eine große Zahl von Musikschülern in anderen musikalischen Welten zu Hause ist als ihre Lehrer, sehen darin eine Schwierigkeit und fassen mögliche Lösungsmöglichkeiten ins Auge:

– Unter Berücksichtigung der eigenen Kompetenz- und “Schmerzgrenzen” sollte z. B ein Klavierlehrer bestrebt sein, seine Unterrichtsliteratur auch um Blues, Boogie oder Beatles-Songs zu erweitern. An einschlägigen Ausgaben und Improvisationsvorlagen ist kein Mangel; jedoch sollte immer im Auge behalten werden, dass es darum geht, Ausdrucksgehalt und Gestus einer Musik zu treffen, und das kann heißen, dass ein transkribierter Blues eben nicht penibel und akkurat auszuführen ist, dass Boogie-Bässe nicht wie Czerny-Floskeln einzustudieren sind oder dass das Besondere eines Beatles-Songs verfehlt wird, wenn sklavisch den Notenzeichen des Songbooks gefolgt wird. Wer keine Beziehung zu “drive” und “feeling” in nicht-klassischer Musik aufbaut, nimmt diese nicht wirklich ernst.

– Es zeichnet gerade die Musikschulen, die sich als “offene Musikschulen” verstehen, aus, dass sie umfangreiche und lebendige Popularmusik-Fachbereiche unterhalten. Dabei geht es nicht darum, die Popularmusik an den Grenzen des Fachbereichs enden zu lassen. Vielmehr ist anzustreben, dass auch die klassische Musizierpraxis von der Impulsivität und Körperlichkeit der Rockmusik oder des Jazz angesteckt wird.

– Man kann im Blick auf die Reizintensität, das Tempo und den Aktionsreichtum jugendkultureller Aktivitäten ganz allgemein und d. h. ohne unmittelbar Literaturkonsequenzen zu ziehen von jedwedem Musikschulunterricht fordern, dass er die sinnliche Lust beim lebendigen und persönlichen Musizieren und beim Genuss von Ausdrucksvermögen, Körperbewegung und Spielfreude entfaltet. Damit wäre es dem Instrumentalunterricht möglich, sich in der Konkurrenz der Freizeitangebote als wirkliche Alternative zu behaupten.

Zur Notwendigkeit der jugendkulturellen Abgrenzung

Angesichts der skizzierten Problematik ist der vorstehende Abschnitt recht kurz ausgefallen. Das hat seinen Grund darin, dass das eigentliche Anliegen dieser Zeilen ist, die übliche Frage “Was muss ein Klavierlehrer tun, um die Musik zu berücksichtigen, die seine Schüler hören?” ins Gegenteil zu verkehren. Ich gehe im Folgenden nicht davon aus, dass ein Defizit an jugendkultureller Orientierung zu beseitigen wäre, sondern ich frage vielmehr: Kann nicht auch die so genannte E-Musik im jugendkulturellen Kontext funktionieren? Können Bach, Beethoven und Brahms bei der Ich-Gestaltung von Jugendlichen hilfreich sein? Kann es so etwas geben wie eine Klassik-Jugendkultur (oder unterwerfen sich junge Menschen, die sich primär mit Kunstmusik befassen, zwangsläufig den kulturellen Vorgaben ihrer Eltern und Lehrer?). Dabei trete ich sogleich dem Einwand entgegen, dass diese Frage irrelevant sein könnte, da Lernen ja nicht immer bedeuten müsse, Neues in den gegenüber der Erwachsenenwelt abgegrenzten Bezirk der Jugendkultur hereinzuholen.

Mathematische Formeln müssen nicht jugendkulturell gefärbt werden, mit der Musik aber ist es eine eigene Sache. Was den schulischen Musikunterricht anbelangt, folge ich dem Konzept der Didaktischen Interpretation, wonach es letztlich nicht darum geht, Schüler mit einem verbürgten Werkkanon zu konfrontieren und mit Faktenwissen über Stücke und deren Urheber auszustatten, sondern welches darauf insistiert, dass die dialogische Begegnung mit Musik Spuren hinterlassen muss und Musik Teil der Lebensgestaltung von Menschen werden sollte. Und für den Instrumentalunterricht gilt: Jeder, der z. B. eine Beethoven-Sonate interpretiert, verschmilzt das Ausdruckspotenzial des Stücks mit der ureigenen Ausdruckslust, bringt selbst bei strenger Texttreue sein persönliches Leben und Erleben ins Spiel.6 Immer also sind im Umgang mit Musik die inneren seelischen Bezirke beteiligt, immer kommt unweigerlich das individuelle Empfinden des Hörers und Spielers hinein. Im Falle des Jugendlichen aber handelt es sich um eine Subjektivität und Individualität im Übergang, in der Phase zwischen Nicht-Mehr-Kind-Sein und Noch-Nicht-Erwachsen-Sein; Ich-Gestaltung und Selbstfindung sind auf der Suche, heftigen Schwankungen unterworfen, sie schlagen Um- und Abwege ein und vor allem: Sie bedürfen der Abgrenzung gegen das Fertige und Überlieferte, sie benötigen Distanz zu den Vorgaben der älteren Generation, sie müssen um jeden Preis eine Differenz markieren. Jugendkultur und Klassische Musik

Ich greife hinein in den Fundus der Jugendforschung, nenne ohne den Anspruch auf Vollständigkeit Merkmale von Jugendkultur und stelle erste Fragen an eine “Klassik-Jugendkultur”:

– Damit die eigene, im Fluss begriffene Identität Konturen gewinnt (und sie gewinnt sie durch Abgrenzung), müssen Jugendliche in Hinsicht des Auftretens, der grundlegenden Orientierungen oder der künstlerischen Vorlieben Unterschiede deutlich machen, sich ein Stück weit distanzieren von ihrer Umwelt, insbesondere aber von der scheinbar fest gefügten Welt der Erwachsenen, der Eltern und Erzieher. Diese Abgrenzung kann pathetisch ausfallen, d. h. den offenen und drastischen Bruch mit den Überzeugungen der Elterngeneration suchen (man denke an die 68er Generation oder den Punk), sie kann sich aber auch gleichsam gemildert in schlichter Unterscheidung äußern (die Generation der Love Parades und Raves etwa strebt konfliktfrei ihren Idealen “love, peace and unity” nach). Gleich aber ob radikaler Bruch oder einfache Differenz: Welche Chance zur musikalischen Grenzziehung haben Jugendliche, die exakt das hören und spielen, was auch ihren Eltern gefällt, die sich intensiv mit dem beschäftigen, was auch ihren Lehrern als der Mühe wert erscheint, deren musikalische Werthierarchie die Wertewelt der Älteren spiegelt?

Diese Fragen stellen sich nicht nur für den aktiv auf einem Orchesterinstrument musizierenden Jugendlichen in einem Philharmoniker-Haus, sondern auch für jeden Pop-Musik-orientierten Dreizehnjährigen, dessen Eltern die Rolling Stones oder Queen lieben. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Wird im ersten Fall etwa an der kulturellen Bedeutung der Trias Bach-Beethoven-Brahms sicher kein Zweifel bestehen, so ist im Feld der Pop-Musik brüske Ablehnung einzelner Stilrichtungen möglich. Mehr noch: Bei genauerem Hinsehen ist Pop-Musik in ständiger Bewegung, versuchen sich Musiker wie Zuhörer immer wieder der Festlegung zu entziehen und Trends zu entkommen. Und so kann der technoversessene Jugendliche “befriedigt” das Urteil seines vierzigjährigen Vaters zur Kenntnis nehmen, dass die Musik der Raves und Clubbings eintöniger Lärm sei (und ähnliches war “glücklicherweise” dem Vater widerfahren, dessen Eltern wiederum die Musik von The Who oder der Kinks als unerträglich qualifizierten).

– Es schien schon durch die voran gegangenen Zeilen durch: Um eine jugendkulturelle Szene zu erfassen, dürfen wir nicht nur die Musik betrachten, sondern müssen unser Augenmerk auf das Ensemble von Gesten und Körperhaltungen, von Kleidung und Sprachverhalten, von Musik und Sport bzw. Bewegung richten. So fungiert etwa im deutschsprachigen Raum die Musik des HipHop als ein wesentliches Element in einem jugendkulturellen Stil, der ironische Distanz und Coolness pflegt und Symbole schwarzer Getto-Kultur mit dem Lebensgefühl europäischer Mittelschicht-Jugendlicher verschmilzt: Tief hängen die Arbeitshosen im Schritt;7 im hinkenden Gang und eckigen Tanzbewegungen scheinen amerikanische Vorbilder durch; elegant und dabei “proletarischen” Schweiß vermeidend wird geskatet, gebladet oder Streetball gespielt; im Gefühle eher verbergenden Sprechgesang zeigen sich sprachliche Virtuosität, Witz und intellektuelle Überlegenheit, ja vielleicht sogar Arroganz. Gibt es nun überhaupt so etwas wie einen Klassik-Stil oder sind Jugendliche, die sich primär in der musikalischen Welt der E-Musik aufhalten, eher durch die Abwesenheit von Stilbesonderheiten zu beschreiben, also etwa keine modischen Auffälligkeiten, sondern eher dezente Kleidung, keine Verhaltensauffälligkeiten, sondern eher vornehme Zurückhaltung und ein gewisser Ernst, keine Jargonmerkmale, sondern eher gepflegte Sprache, keine Bewegungsleidenschaft, sondern eher Zurückhaltung bei Sport und Tanz?

– Um den letzten Gedanken fortzuspinnen: Gerade die Generation, die viel Zeit am Computer verbringt, sucht nach Gelegenheiten, um ihre Körper in Fun-Sportarten oder im Tanz zu entfesseln, und jeder Umgang mit Pop-Musik will über reines Hören hinaus in den Tanz, um die in der Schule und vorm PC stillgestellten, aber vor Energie platzenden Körper zu befreien. Konzertbesuche sind Versuche, im gemeinsamen Tanz mit Gleichgestimmten ekstatische Zustände zu erreichen, und je näher die Körper der anderen rücken, desto besser. Clubbings beginnen in der Nacht, gehen über Tage hinweg, und selbst in der Phase des erschöpft-glücklichen Zu-Sich-Kommens, im gemeinsamen “Chill out”, wird die körperliche Nähe der anderen gesucht. Pop-Musik ist ohne Körperlichkeit nicht zu denken.

Wie aber steht es mit der Körperlichkeit bei den Besuchern eines Sinfoniekonzerts? Und wie fällt das Ergebnis aus, wenn wir die Körperlichkeit von Pop-Musikern auf der Bühne mit der von professionellen Instrumentalisten vergleichen? Ich will nicht die leibfeindliche Geschichte der Instrumentalpädagogik des 19. Jahrhunderts aufrollen (deren methodische Hypothek noch heute abzutragen ist), auch soll hier nicht ausgebreitet werden, in welchem Ausmaß Musiker mit Bewegungsschäden zu kämpfen haben. Immerhin scheint es so zu sein, dass (trotz aller Appelle, aus der Mitte heraus zu spielen…) die Konzentration auf feinmotorische Abläufe, die Ausbildung diffiziler Fingerbewegungen und somit die Konzentration auf die motorische Peripherie das ganzkörperliche Erleben beeinträchtigt und z. B. so etwas wie einen natürlichen Umgang mit großen Schwungbewegungen erschwert. Für die überwiegende Zahl von auf hohem Niveau spielenden Musikern ist das ekstatische Erleben des eigenen Körpers eher der Ausnahmezustand, abgesehen davon, dass klassischer Musik die Mittel abgehen, mit denen Pop-Musik unmittelbar auf das Vegetativum wirken kann: ein gleichbleibend sehr hoher Lautstärkepegel und die unaufhörliche Wiederkehr rhythmischer Muster, deren Gleichförmigkeit gleichsam die Zeit stillstehen lässt.

– Wenn von der Informationshäufigkeit, -dichte und -intensität der modernen Mediengesellschaft die Rede ist, fallen häufig Begriffe wie “Informationssmog” oder “medialer Overkill”. Die Wortwahl impliziert, dass den Nutzern der elektronischen Medien kaum etwa anderes übrig bleibt, als in den dargebotenen Informationsfluten zu ertrinken. Tatsächlich aber haben gerade Jugendliche Formen des Widerstands und der Abwehr ebenso entwickelt wie neue und schnellere Modi der Informationsaufnahme und -verarbeitung. Die Generation, der das Fernsehen schon zu langweilig geworden ist und die die interaktiven Möglichkeiten von Videospielen und Internet-Aktivitäten bevorzugt, praktiziert darüber hinaus eine scheinbar chaotische, nicht-lineare Weise der Informationsbeschaffung: Gleich ob zwischen Fernseh- und Hörfunkkanälen hin und her gezappt wird, ob auf verwegenen Routen im Netz gesurft wird und virtueller Hypertext entsteht, ob – bei der Produktion von Musik am PC – in die Unmenge angebotener Samples hineingegriffen wird: Aus der Überfülle wird auf eine Weise ausgewählt, die fertige und geschlossene Vorgaben dekonstruiert, um anschließend die Informationspartikel in einem äußerst subjektiven Akt zu einem neuen und persönlichen Ganzen zusammenzuschließen.

Der Gang von der Dekonstruktion zur individuellen Rekonstruktion erlaubt jungen Menschen die Produktion von Eigensinn, und man nehme diesen Begriff in seiner Doppeldeutigkeit: Eigensinn als der Sinn, der etwas nur für mich macht, Eigensinn als Eigenschaft, die es meiner Umwelt nicht immer leicht macht. Aber dass die Kratzbürstigkeit des Eigensinns für die Selbstfindung von Jugendlichen unabdingbar ist, wurde schon gesagt, die Frage ist nur: Erlaubt auch der Umgang mit unantastbaren Werken, mit Musik, die dem Begriff des geschlossenen Kunstwerks verpflichtet ist, dem Rezipienten die Erzeugung von Eigensinn auf dem Weg des Zerlegens und neu Montierens? Darf man aus vollkommenen Werken Stücke herausbrechen und diese mit anderen Fragmenten verkleben8 oder bleibt nur Ehrfurcht vor dem Klassisch-Idealen? Wenigstens müsste der Respekt vor den Meisterwerken abgelegt und zur Eigensinnigkeit von Interpretationen ermutigt werden.

– Die Entwicklung von Stilen, der Erlebnissport und der ekstatische Tanz oder die Auswahl und Bewertung von Videospielen, all das vollzieht sich in der Gruppe, im Austausch mit Gleichaltrigen, und tatsächlich gibt es in der Entwicklung eines jeden jungen Menschen den Punkt, an dem die normative Beeinflussung durch die Peer Group mindestens die gleiche Bedeutung hat wie die Wertvermittlung durch Eltern und andere Erzieher. Es liegt im Wesen dieser Wert stiftenden Gruppenbildung, dass sie sich der Kontrolle und Anleitung von außen entziehen will. Jugendliche sind ausgesprochen findig, wenn es darum geht, ihre Zirkel vor Überwachung abzuschirmen (man denke nur an die ständig wechselnden Orte von Clubbings); Mitteilungen über die Vorgänge in Szenetreffs erfolgen eher sparsam. Nun sind die Mitglieder eines Jugendsinfonieorchesters ebenso eine Peer Group wie die Teilnehmer eines Sommerkurses. Allerdings haben bei diesen Aktivitäten Erwachsene als Orchester- und Kursleiter immer zentrale (anleitende, auch kontrollierende) Funktionen, die quer zum Anspruch auf jugendliche Selbstorganisation stehen. Liegt es vielleicht daran, dass junge Ensembles, die sich selbst organisieren, eine besondere Frische ausstrahlen9 bzw. dass von Teilnehmern an Orchesterfreizeiten oft gerade die selbst bestimmten Kammermusikaktivitäten, jenes leidenschaftliche nächtelange Notenfressen auf den Zimmern als das Schönste und Erinnerungswürdigste gerühmt wird? Hier hat jugendkulturelle Selbstorganisation inmitten des gesetzten Rahmens stattgefunden.

– Wir leben in einer Gesellschaft des Überflusses. Für die große Zahl der Bürger in den westlichen Gesellschaften (und nur für diese trifft die Analyse zu) ist die Sicherung der materiellen Basis kein wirkliches Problem mehr. Nicht der Kampf um das Überleben stiftet Lebenssinn, sondern dieser muss aus dem Erleben von Objekten und Situationen gewonnen werden – so die zentrale Feststellung von Gerhard Schulze in seinem Buch Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart.10 Die Erlebnisqualität der Konsumumwelt tritt gegenüber den Gebrauchswerten der Sachen in den Vordergrund; die ästhetische Oberfläche der Gegenstände wird zum Kriterium der Auswahl, einer Auswahl, bei der selbstverständlich vorausgesetzt ist, dass das Angebot in Permanenz und Überfülle zur Verfügung steht. Die dauernde Abwesenheit des Mangels erlaubt in vielen Lebenslagen “fun” und “entertainment”, und wie man sieht, handelt es sich bei diesen Attributen der “Spaßgesellschaft” nicht um Symptome des kulturellen Verfalls oder der zivilisatorischen Erschlaffung, sondern um den Ausdruck der in unseren Breitengraden immer mehr Menschen möglichen genussorientierten Lebensweise.

Selbstverständlich kann das Spielen eines Instruments Freude machen, und das wird seinen Grund darin haben, dass lustvoller Selbstausdruck, der Genuss der Körperbewegung, die Freude am Spiel oder das Erlebnis des Hörens möglich sind.11 Unbestritten ist aber auch, dass der Erwerb von instrumentalen Fertigkeiten auf hohem Niveau ein langes entbehrungsreiches Studium notwendig macht. Wer sich etwa – um eine Wendung von Jascha Heifetz zu gebrauchen – dem “subtilen Folterinstrument Violine” aussetzt, wird Selbstdisziplin und Geduld aufzubringen haben, wird tausende Stunden mit einsamem Üben verbringen, wird mit körperlichen Beschwerden ebenso zu kämpfen haben wie mit Motivationslöchern. Ein intensives Instrumentalstudium ist daher mit “fun” und “entertainment” und prompter Bedürfnisbefriedigung nicht zu haben; es steht somit dem üblichen Erlebnisanspruch entgegen (und dieser ist nicht etwa nur trendy und kurzfristig “zeitgeistig”: Es sieht nicht so aus, als würde der Zeitgeist, der dem materiellen Reichtum entspricht, bald wieder in andere und das heißt: asketische Richtungen wehen).

Notwendigkeit der Abgrenzung, Eigenständigkeit des Stils, Körperorientierung, Dekonstruktion, Selbstorganisation, Erlebnisanspruch… – im Hinblick auf diese Kriterien scheint es für Jugendliche tatsächlich schwierig zu sein, bei vornehmlichem Umgang mit E-Musik eine jugendkulturelle Differenz zu markieren. Bedeutet somit das Aufwachsen in und mit klassischer Musik, früh erwachsen zu werden, bedeutet es, auf die wilden Jahre zu verzichten und zu einem Zeitpunkt die Werte und Normen der älteren Generation vollständig zu übernehmen, an dem die Gleichaltrigen noch suchen und opponieren? Ist die “E-Musik-Szene” der Ort der eher Braven und Angepassten (bzw. in Einzelfällen auch der Ort der Aussteiger und Abbrecher, jener jungen Musiker nämlich, die nach jahrelangem Studium plötzlich ihr Instrument aus der Hand legen, weil sich der eruptiv ausbrechende Protest gegen die Eltern in heftiger Ablehnung des Instrumentalspiels äußert)?

Friedliche Koexistenz von Mozart und Techno

Dass ich die Lage gar nicht so pessimistisch sehe, habe ich schon angedeutet. Ich halte die Selbstorganisation in Ensembles, die Eigenständigkeit des musikalischen Ausdrucks oder das körperfreundliche Erleben ja durchaus für möglich. Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, dass die skizzierte Problematik für die Mehrheit der Musikschüler nicht existiert und zwar aus dem schlichten Grund, weil das, was die Musikschule vermittelt, nur ein Mosaikstein im Selbstbild des Einzelnen ist, weil traditionelles Musizieren nur einen begrenzten Stellenwert hat und mitsamt seinen kulturellen Implikationen problemlos in das Ich-Konzept hineingewoben werden kann (und Widerständigkeit oder Ekstase müssen ja dann nicht in klassischer Musik gesucht werden).

Dass man in der Musikschule Bach geigt und zu Hause Techno hört, dass man im Klavierunterricht Mozart spielt und anschließend den Skatertreff aufsucht, ist für die Mehrheit deswegen kein Problem, weil sich Jugendliche zunehmend nicht mehr festen Szenen zuordnen lassen, sondern die Identifikation mit Musik, Mode, Verhalten und Sprache einer bestimmten Gruppe eher als vergängliches Phänomen betrachten. Der empirischen Musikpädagogik und -soziologie geht es nicht anders als der empirischen Marktforschung, die Trendscouts beschäftigt, um Tendenzen der Jugendkultur auf die Spur zu kommen. Immer wenn man glaubt, ein Trend verfestige sich zu einer jugendkulturellen Strömung, ist diese schon wieder woanders, und erst recht der umworbene Konsument selbst findet gar nichts dabei, Szenen zu wechseln oder zu kombinieren, mit Identitäten zu experimentieren und sich so jeder Festlegung zu entziehen. Es gibt tatsächlich jugendkulturelle Szenen, aber der einzelne Jugendliche selbst ist eher ein nomadischer Wanderer, so dass auch Aussagen über musikalische Präferenzen Momentaufnahmen sind. Man kann diese absolute Weise der Ich-Gestaltung eher negativ werten (so als werde das Individuum nicht mehr der Mannigfaltigkeit Herr).12 Man kann aber im Gegenteil auch unterstreichen, in welch neuem Ausmaß der Einzelne Verantwortung für sich selbst übernimmt und welche Arbeit und Anstrengung in der Erschaffung des “Gesamtkunstwerks Ich” stecken: Noch in der größten Vielfalt und Heterogenität schafft das Ich den stimmigen Zusammenschluss.13 Und so sehe ich den Geigenschüler vor mir, der kurz vor der Stunde den Walkman ablegt (auf dem alles andere als Mozart zu hören ist!) und der anschließend mit Vergnügen seine Lieder und Stücke streicht. Ich habe Jugendliche in Oberösterreich erlebt, die im HipHop-Outfit und mit demonstrativer Lässigkeit und Coolness Hackbretter auf die Bühne schleppten, um anschließend auf diesen alpenländische Volksmusik zu spielen. Ich erinnere mich an ein Geschwisterpaar an meiner Musikschule, das den instrumentalen “Cross over” praktizierte: Der Bruder kombinierte Violoncello und Schlagzeug und die Schwester belegte Violine und E-Gitarre. Es bleibt nur eine Frage: Bilden die Jugendlichen, von denen in diesem Abschnitt die Rede war, den Nachwuchs für Orchester und musikpädagogische Berufe, kann jemand, für den das Instrumentalspiel allenfalls eine Facette ist, überhaupt mehr als gehobenes Laienmusizieren erreichen?

Professionelles Musizieren zwischen Authentizität und Verzicht

Und dennoch gibt es die angehenden Profis, bei denen man nicht auf die Idee kommt, sie würden ihre Jugend verpassen bzw. sie hätten ihre jugendliche Identität früh aufgegeben und wären quasi nur im Auftrag ihrer Eltern unterwegs. Es sind eben nicht jene jungen Musiker, die auf beklemmende Weise wie kleine Erwachsene wirken (wie die Infanten auf den Bildern der spanischen Bourbonen), sondern lebendige Jugendliche, deren Klassik-Spiel so authentisch wirkt, als seien sie Wiedergänger des stürmischen Amadeus, Jugendliche, die es schaffen, die Mühen des Übens in der Leichtigkeit des Spiels aufzuheben, die hin und wieder mit dem Instrument zu verschmelzen scheinen (als hätten sie nie etwas anderes in der Hand gehabt)14 und deren Körperlichkeit ansteckend wirkt. Wer so zu musizieren in der Lage ist, der ist beschenkt.

In den Gesprächen, die Hans Günther Bastian mit hochbegabten Musikern (immerhin Bundespreisträgern von “Jugend musiziert”) geführt hat,15 scheint dieser Typus häufig auf: Wir stoßen auf junge Menschen mit einem breiten Interessenspektrum und einem hohen Grad an Selbstbestimmung. Es sind Menschen, die früh einen eigenen Stil entwickeln und die nicht abgeneigt sind, sich in verschiedenen musikalischen Szenen zu bewegen. Aber vielleicht ist das der Kern ihrer Hochbegabung: das tiefe innere Wollen, sich mit Hilfe eines Instruments auszudrücken, und wirkliche intrinsische Motivation. Wie aber steht es nun um jene, die weiter kommen wollen als jene Freizeitmusiker, die Klavierspielen mit vielen anderen Aktivitäten kombinieren, denen es aber – weil sie weniger “beschenkt” sind – nur schwer gelingt, die Anstrengungen des Erlernens vergessen zu machen, im Musizieren reine Spielfreude und ekstatisches Verschmelzen zu erfahren oder beim Spiel einer Mozart-Sonate auch ganz bei sich zu sein? Vielleicht ist dann für das instrumentale Fortkommen ein Preis zu zahlen. Lautet dieser Preis: Teilverzicht auf die Jugend, Verzicht auf viele lustbetonte “peer-group”-Aktivitäten außerhalb der Musik, Verzicht auf Abgrenzung (denn die Imitation des Lehrers ist Erfolg versprechender als der Widerstand), womöglich Verzicht auf die gefahrvolle Suche nach einem eigenen Weg? Sind Jugendliche von sich aus bereit, diesen Preis zu zahlen, oder bedarf es in diesen Fällen in der Regel des elterlichen Drucks? Sind wiederum Eltern in den hedonistisch orientierten westlichen Gesellschaften bereit, diesen Druck auszuüben, oder bedarf es wiederum des sozialen Drucks auf die Eltern, damit diese hinter ihren musizierenden Kindern stehen, auf dass diese sich selbst und ihre Familie aus der sozialen Diskriminierung und materiellen Zurückgebliebenheit gleichsam herausgeigen?

Ich erinnere mich, wie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs der an meiner Musikschule veranstaltete Meisterkurs mit Ruggiero Ricci von fantastischen Geigern aus den Ländern Osteuropas geradezu überschwemmt wurde, von Kindern und Jugendlichen, denen ein gestrenger Vater oft nicht von der Seite wich. Vielleicht gibt es in der Ausbildung des beruflichen Nachwuchses Parallelen zwischen Sport und Musik. In einem Artikel der Zeitung Die Woche über Probleme der Nachwuchsförderung im Fußball wünscht sich der Manager von Schalke 04, Rudi Assauer, “,wieder ein paar Armenviertel in Deutschland’, um künftig Talente rekrutieren zu können. In der Türkei habe er gesehen, ,wie die jungen Kröten mit Feuereifer auf den Bolzplätzen kicken, weil sie nichts anderes haben’. Während Jugendspieler aus Osteuropa heute mitunter noch ,für eine warme Mahlzeit und ein bisschen Taschengeld’ zu haben seien, rücken deutsche Talente laut Assauer gleich mit Rechtsanwalt und Steuerberater an. Für Bayern Münchens Chef-Ausbilder Björn Andersson ist es jedenfalls kein Zufall, dass in den deutschen Junioren-Teams häufig ,Farbige, Türken und Aussiedlerkinder’ zu den leistungsstärksten Akteuren zählen. ,Die suchen auf dem Fußballplatz die soziale Revanche’.”16

1 Ich erinnere mich, wie vor vielen Jahren in Musik & Bildung ein Unterrichtsentwurf zu Another brick in the wall, dem damaligen Hit der Gruppe Pink Floyd, erschien. Minutiös wurde die Einstudierung eines Chorarrangements beschrieben, die Arbeit an einem Song, dessen Refrain immerhin lautete: “Hey teacher, leave us kids alone!”

2 vgl. Franz Niermann: “Jugendkulturen und Unterricht. Begegnungen zwischen den musikalischen Erfahrungen der Jugendlichen und den Fähigkeiten des Lehrers”, in: Diskussion Musikpädagogik 2/1999, S. 105-115

3 Die Musikschule Berlin-Wedding. Eine Studie: Images, Potentiale, Berlin 1997. Die Studie ist nicht veröffentlicht worden.

4 Mehrfachnennungen waren möglich.

5 Dieter Zimmerschied: “Welchen Bildungsauftrag hat die Musikschule heute?”, in: Üben & Musizieren 3/1994, S. 8

6 vgl. vom Verfasser: “Ausdrucksvoll musizieren – Pädagogische Aspekte eines viel benutzten und wenig reflektierten Begriffs”, in: Gerhard Mantel (Hrsg.): Ungenutzte Potentiale. Wege zu konstruktivem Üben, Mainz 1998, S. 22-42

7 Es handelt sich um eine europäischen Jugendlichen kaum bewusste Anspielung auf die hängenden Hosen von amerikanischen Getto-Jugendlichen, die bei regelmäßigen Aufenthalten im Gefängnis keine Gürtel tragen dürfen.

8 So wie es der Rapper Coolio tut, der Pachelbels Kanon-Bass zur Basis seines Stücks C U when U get there macht.

9 Ein leuchtendes Beispiel liefern Jugendsinfonie- und Jugendkammerorchester der Musikschule Mürzzuschlag in der Steiermark, bei denen die Selbstverwaltung so weit geht, dass Jugendliche selbst dirigieren

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