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Hubrich, Sara

Erleben statt überprüfen

Zur Frage der Bewertung in Musik und Unterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2018 , Seite 18

Wie selbstverständlich gehört es doch zur künstlerischen Entwicklung, sich zu vergleichen und daraus Motiva­tion und Orientierung für die weitere Entfaltung eigener Fähigkeiten zu beziehen. Allzu oft wird eine ­Überschätzung der Vergleichbarkeit hingegen dem ungehemmten Genuss einer Aufführung auf Seiten der Zuhörenden wie der Aktiven zum Verhängnis. Welchen Stellenwert räumen wir der Bewertung damit ein? Welche Bedürfnisse stecken hinter dem Drang, sich zu vergleichen? Und welche Potenziale werden dabei womöglich übersehen?

Immer wieder werden Stimmen laut, die eine Überprüfbarkeit von musikalischen Fähigkeiten und Kompetenzen fordern, um für die Musikschule eine größere Bedeutung, Lernmotivation und Verbindlichkeit zu verankern. Dieser Artikel nimmt das unter anderem in Großbritannien praktizierte Konzept der Leistungsprüfungen in künstlerischen Fächern samt aktueller Erfahrungen von Lehrkräften zum Anlass für eine Standortbestimmung von „Musik als kulturelle Praxis und soziale Realität“1 im Mittelpunkt unserer Gesellschaft.
In vielen europäischen Ländern, darunter Spanien, Frankreich und Großbritannien, unterzieht sich der musikalische Nachwuchs nicht nur in der Spitzen-, sondern auch der Breitenförderung regelmäßig Prüfungen, die unter anderem aus Repertoire, Technikübungen und Etüden sowie Tonsatz oder Gehörbildung bestehen. Nicht so in der deutschen Musikschullandschaft: Wenn man von den freiwilligen Leistungsabzeichen in Bronze, Silber und Gold absieht, die Schülerinnen und Schüler im Rahmen ihrer Instrumentalausbildung in Teilen Bayerns absolvieren können,2 gibt es bundesweit keine verbind­lichen Curricula und entsprechende Möglichkeiten formaler Leistungsüberprüfung. Im Zuge der Bestrebungen nach internationaler Vergleichbarkeit, Einführung von Bildungsstandards und des internationalen Trends zur Neukonzeption von Lehrplänen (z. B. Lehrplan 21 in der Schweiz, Plan d’études romand) im Sinne der Kompetenzorientierung wird auch in Deutschland die Einführung vergleichbarer Leistungsstandards in den Musikschulen durch freiwillige Leistungsabzeichen diskutiert.3

International anerkannte Konzepte

In Großbritannien gibt es im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen die musikalische Leistungsüberprüfung im Instrumental- und Gesangsunterricht der Hoheit der jeweiligen Musikschule oder eines spezifischen Konservatoriums unterliegt, zwei nationale Gesellschaften, die für mehr oder weniger einheit­liche Standards Sorge tragen. Seit 1889 bewertet das Associated Board of Royal Schools of Music (ABRSM) musikalische und künstlerische Leistungen nach kontinuierlich evaluierten und weiterentwickelten Modellen und Standards,4 die Organisation der Trinity College/Guildhall London Exams sogar schon seit 1877.5 Über den britischen Nachwuchs hinaus treten bei beiden Instituten auch KandidatInnen anderer Länder an internationalen Standorten zu Prüfungen an. So sind es jährlich bis zu 600000 Prüfungen in über 90 Ländern (ABRSM) bzw. bis zu 750000 Examen in 60 Ländern (Trinity College Exams), die abgenommen werden. ABRSM bietet hauptsächlich musikbezogene Prüfungen in den Instrumentalfächern, aber auch Prüfungen in Kammermusik, Ensemble- und Chorleitung an, während Trinity College zudem Leistungen in anderen künstlerischen Fächern wie Schauspiel und Rhetorik, Tanz und in den Bildenden Künsten zertifiziert.6
Die Prüfungen der Instrumentalfächer sind in beiden Instituten in acht Leistungsstufen, sogenannte „Grades“ eingeteilt. „Grade 8“ gilt als äquivalent zu einer Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule. Bestandteil der Prüfung sind unter anderem drei Stücke aus dem Repertoire, das aktuell dem jeweiligen Grade zugeordnet wurde. Des Weiteren werden technische Übungen wie Tonleitern und Arpeggios und je nach „Grade“ auch Etüden verpflichtend abgefragt. Im Bereich der Musikalitätsentwicklung wählen Prüflinge des Trinity College zudem zwei aus den folgenden Bereichen aus: Improvisation, Gehörbildung, Vom-Blatt-Spiel oder Musiktheorie. In den meisten „Grades“ ist auch der Vortrag eines selbst komponierten Werks zulässig.
Das Prüfungsergebnis besteht aus einer Gesamtpunktzahl, die anhand transparent gemachter Kriterien für die Vergabe der Einzelpunkte ermittelt wird (siehe Tabelle). Auf die Anwendung dieser Kriterien werden Fachkräfte durch Schulungen und regelmäßige Teamsitzungen vorbereitet, sodass ein einigermaßen einheitlicher Standard garantiert werden kann.
In ihren Statuten sehen beide Gesellschaften die Vorzüge ihrer Modelle darin, dass sie mit den von ihnen gesetzten Standards Strukturen böten zum Erwerb grundlegender musikalischer Kompetenzen mit der Möglichkeit, den Fortschritt nachvollziehbar und messbar zu gestalten. Die Prüflinge erhielten damit im Idealfall Anlässe zum Üben, auf welche sie gezielt hinarbeiten könnten, sowie ihre Leistung und ihr Engagement würdigende Rückmeldungen und personalisierte Empfehlungen einer externen Person.
Ein „Grade“-Examen, das an einem der beiden national anerkannten Systeme bestanden wurde, lassen viele allgemeinbildende Schulen als ordentlich erbrachte Leistung im Rahmen des schulischen Musikunterrichts gelten. Zudem verbessern die Examen ab „Grade 6“ die Aussichten auf einen Studienplatz an einer renommierten Universität, weil für bestandene Musikexamen Punkte bei der zentralen Studienplatzvergabe gesammelt werden. Insofern sind die Musikexamen im gesamten Bildungssystem verankert und verschaffen den MusikerInnen einerseits die Motivation, ihre Entwicklung voranzutreiben, andererseits aber auch ein Stück weit gesellschaftliche Anerkennung.

Musikexamen in der Praxis

Nimmt man die aktuelle Umsetzung dieser Bewertungskonzepte in den Blick, so ist es notwendig, die musikalische Infrastruktur in Großbritannien zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es dort so gut wie keine örtlichen Musikschulen. Der Instrumentalunterricht wird im Rahmen der allgemeinbildenden Schulen durch freischaffende Fachkräfte während der regulären Unterrichtszeit erteilt.7 In den allermeisten Fällen entrichten die Eltern das Honorar direkt an die Lehrperson, in Härtefällen übernehmen viele Schulen die Kosten. Für die „Grade“-Examen fallen gestaffelt nach Standard Gebühren an, die von den Eltern übernommen werden müssen. Dazu kommen gegebenenfalls Kosten für die Klavierbegleitung.
Darüber hinaus bieten fast alle Musikhochschulen eine „Samstagsschule“ an (z. B. Junior Academy oder Junior Guildhall). Die daran beteiligten SchülerInnen verbringen den gesamten Tag dort, erhalten Unterricht am Instrument, in Kammermusik, Gehörbildung, Rhythmik, Musiktheorie, Musikgeschichte, Improvisation, Komposition, Vom-Blatt-Spiel und machen Ensembleerfahrungen. Regelmä­ßige Vorspiele und Konzerte sind ebenfalls an der Tagesordnung. Im Rahmen des Einzelunterrichts absolvieren fast alle SchülerInnen die „Grade“-Examen. Die Plätze an den Samstagsschulen haben ein hohes Renommee und sind so begehrt wie kostspielig. Viele Hochschulen führen eine Warteliste.

 

 

Elena Jauregui, Absolventin der Guildhall School of Music and Drama, unterrichtet seit mehr als 14 Jahren an verschiedenen Schulen Londons, unter anderem auch am Trinity College.8 Ihrer Erfahrung nach sind Musikexamen sehr sinnvoll und für die SchülerInnen äußerst motivierend, es komme aber sehr darauf an, wer sich diesen wann und mit welcher Unterstützung unterziehe.
Entscheidend sei, dass die Erfordernisse eines „Grade“-Standards nicht mit den Prüfungsstücken erworben werden, sondern in anderen Werken und durch Materialien, die optimal auf die lernende Person zugeschnitten sind. Ebenso wichtig seien zahlreiche Gelegenheiten, vorzuspielen und zu konzertieren. Seien diese Bedingungen gegeben, dann reiche es, das Prüfungsprogramm in verhältnismäßig kurzer Zeit zu erarbeiten, weil die eigentlichen technischen Schwierigkeiten an anderer Stelle bewältigt wurden und bei den Examensvorbereitungen lediglich der Transfer des Erworbenen zum Tragen komme. Zudem könne sich die neue Kompetenz auf diese Weise effektiv setzen und in Fleisch und Blut übergehen. Eine solche Vorgehensweise sei bei den TeilnehmerInnen der Samstagsschule an der Tagesordnung und entstehe oft in enger und unterstützender Zusammen­arbeit der SchülerInnen und Lehrkräfte und in intensivem Austausch mit den Eltern, welche ihre Kinder oft mit sehr hohem Engagement unterstützten.

 

Elena Jauregui © Daniel Torrello

Entscheidend sei dabei nicht, dass eine Schü­lerIn sich allen „Grades“ unterziehe. Es könne auch sinnvoll sein, ein „Grade“ auszulassen, wenn die Prüfungszeit unpassend sei oder es in die aktuelle Entwicklung der Lernenden nicht passe. Die Examen bleiben also eine freiwillige Einrichtung. Dies, so Elena Jau­regui, sei oft Thema in Gesprächen mit sehr ehrgeizigen Eltern, die oft größeren Wert auf die Examen legten als die SchülerInnen selbst. Die Examen dürften keinesfalls überbewertet werden oder die Entwicklung beeinträchtigen.
Kritischer als Elena Jauregui sieht Pianist Alexander Metcalfe, Absolvent des Royal College of Music, die Praxis der Musikexamina. Seiner Einschätzung zufolge bedeute die durch die „Grade“-Examen hervorgerufene Motivation, dass SchülerInnen zu mechanischem und perfektionsorientiertem Üben verleitet werden. Das könne so weit gehen, dass die eigentliche Liebe zur Musik und zum Instrument verloren gehe.

Ebenso könne es passieren, dass auch die Instrumentallehrkräfte ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Aspekte der technischen Ausführung richteten. Dies geschehe dann, wenn sie wüssten, dass die Juroren der Prüfungen viel Wert auf technisches Können legen und weniger auf musikalische Aspekte. Aus seiner Sicht seien die „Grade“-Examen der Versuch, musikalische Fähigkeiten in ähnlicher Weise wie mathematische zu messen. Hingegen sei es viel sinnvoller, SchülerInnen zu ermöglichen, ihre musikalische Persönlichkeit in authentischer und natürlicher Weise im Rahmen einer anregenden Umwelt zu entfalten. Nicht alle Fähigkeiten müssten in einer vorgegebenen Reihenfolge erworben werden. Solange keine schlechten Gewohnheiten entstünden, sei es in Ordnung, wenn manche Fähigkeiten sich nicht nach Plan einstellten, sondern zu individuell gegebener Zeit. Die Aspekte, die man nicht messen könne, seien insbesondere bei sehr jungen MusikerInnen viel entscheidender als die messbaren. Insofern entstünde durch die „Grade“-Examen eine gewisse Unschärfe oder sogar Schieflage bei der Einschätzung der musikalischen Leistungsfähigkeit einer Person.

Der Motivationsfaktor sei aber gleichzeitig auch nicht zu unterschätzen, insbesondere in einer Zeit und Gesellschaft, in der Termine die Regel und zeitlicher Freiraum eher die Ausnahme darstellten und die Musik mit vielen anderen Freizeitaktivitäten konkurrieren müsse. In seiner Unterrichtspraxis lege er daher Wert auf sein eigenes Konzept der Musikerziehung, das unter anderem Aspekte der Alexandertechnik in das musikalische Schaffen und Entwickeln der Selbstlernfähigkeiten einbeziehe. Zwar würden die „Grade“-Examen von vielen Schulen anerkannt, vielerorts sei es jedoch üblich, darauf nicht zu bestehen. So stünde in Ausschreibungen für Ensembles oder auch in den Statuten von Schulen beispielsweise: „Voraussetzung für die Teilnahme/Anerkennung einer Prüfungsleistung in Klasse 4 ist eine Leistung äquivalent zu Grade 4“. Leistungsnachweise können also auch ohne die „Grades“ erbracht werden.

1 Peter Ausländer: Gedächtniszitat aus einem Vortrag zu Schriften von Gertrud Meyer-Denkmann, Bielefeld 2017.
2 www.musikerleistungsabzeichen.de
3 vgl. Nicole Berner/Caroline Theurer/Miriam Hess: „Das traue ich meiner Klasse zu! Gestaltungsaufgaben im Fach Kunst und ihr Zusammenhang zur Einschätzung des Klassenleistungsniveaus durch die Lehrperson“,
in: Stefan Keller/Christian Reintjes: Aufgaben als Schlüs­sel zur Kompetenz. Didaktische Herausforderungen, wissenschaftliche Zugänge und empirische Befunde, ­Münster 2016, S. 303-313, hier: S. 310.
4 vgl. www.abrsm.org
5 vgl. www.trinitycollege.co.uk
6 ebd.
7 Die LehrerInnen ändern die Reihenfolge der SchülerInnen wöchentlich ab, sodass diese nicht immer dasselbe Fach, das parallel zum Instrumentalunterricht stattfindet, verpassen.
8 www.trinitylaban.ac.uk/study/music/junior-trinity

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2018.