© Ralf Kurley

Kurley, Ralf / Tobias Dehler

Globophone und „Blob“

Im Projekt „Hands Off Music!“ werden barrierefreie ­Musikinstrumente entwickelt

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2018 , Seite 28

Der Musikbereich der LVR-Anna-Freud-Schule Köln geht seit fünf Jahren in einem nachhaltig angelegten Projekt unter dem Titel „Hands Off Music!“ der Frage nach, wie Musikinstrumente aussehen müssen, damit ein inklusiver, praxisorientierter Musikunterricht gewährleistet werden kann, der Schülerinnen und Schülern mit einer körperlichen Behinderung eine aktive und gestaltende Teilhabe ermöglicht.

Die LVR-Anna-Freud-Schule ist eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt körper­liche und motorische Entwicklung (Sekundar­stufe I und II): Sie fördert Schülerinnen und Schüler mit Körperbehinderungen und solche mit schweren chronischen sowie psychosomatischen Erkrankungen. Auch SchülerInnen ohne Förderbedarf werden inklusiv aufge­nommen. Allen ihren SchülerInnen versucht die LVR-Anna-Freud-Schule gleichermaßen Wege für eine aktive und mitgestaltende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aufzuzeigen und sie zu befähigen und zu ermutigen, ihre eigenen Kompetenzen in die Vielfalt einer Gesellschaft einzubringen.
Bisher bleibt vielen Menschen mit körper­li­cher Behinderung der Zugang zum praktischen Musizieren allerdings verwehrt: Das Erlernen eines konventionellen Musikinstruments bedeutet vor allem das Entwickeln spezifischer motorischer Fähigkeiten – und genau an diesem Punkt geraten viele unserer SchülerInnen schnell an eine unüberwindbare Hürde. Meist weicht die anfängliche Euphorie der Enttäuschung, wenn sie erkennen, wie sehr ihnen ihre Behinderung beim Erlernen eines herkömmlichen Instruments im Weg steht.
Ziel des Projekts „Hands Off Music!“ ist, den SchülerInnen eine aktive Mitgestaltung der musikalischen Wirklichkeit zu ermöglichen und sie zu künstlerischer und musikalischer Kreativität zu befähigen. Das setzt eine barrierefreie kulturelle Bildung voraus und folgerichtig die Entwicklung und Bereitstellung von Instrumenten, die auch Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen kreatives Tätigsein erlauben.
Im Rahmen dieses Projekts sind verschiedene computerbasierte Musikinstrumente in Zusammenarbeit mit Instrumentenbauern, Medienkünstlern und Programmierern entwickelt und gebaut worden. Diese Instrumente sind speziell an die Besonderheiten unserer SchülerInnen mit Förderbedarf angepasst worden und ermöglichen es ihnen, in einer Gruppe mit SchülerInnen ohne Förderbedarf gleichberechtigt zu musizieren. Tatsächlich schaffen diese Instrumente gleiche Spiel­voraussetzungen für alle, denn sie zu erlernen stellt für SchülerInnen ohne Förderbedarf eine genauso große Herausforderung dar wie für jene mit Förderbedarf.
Es zeigte sich, dass der Einsatz von Druck-, Abstands-, Licht- und Tastsensoren die geeignetste Methode zur Steuerung von Musikinstrumenten ist, um unseren SchülerInnen einen barrierefreien Musikunterricht zu ermöglichen. Aus diesen Erkenntnissen heraus wurden zwei sensorgesteuerte Celli, das Globophone und der virtuelle Klangraum „BIob“ entwickelt.

E-Cello 2.0

Unser E-Cello 2.0 ist der zweite Prototyp eines E-Cellos, das an unserer Schule gebaut wurde. Nachdem erste Erfahrungen mit Licht- und Abstandssensoren auf einem Cello gesammelt wurden, entstand die Idee, ein Cello für SchülerInnen mit einer Hemiparese zu entwickeln, also ein Cello zu bauen, welches einhändig zu spielen ist. Das Cello besitzt einen kombinierten Abstands- und Positionssensor auf dem Griffbrett. Dafür wurden die Saiten des Cellos abgenommen. Zusätzlich wurde ein Audiosystem im Korpus des Cellos verbaut. Der Schall kommt also aus dem Cello und nicht über extern angeschlossene Boxen. Hierdurch werden die Schwingungen des Inst­ruments dem Spieler auch haptisch erfahrbar gemacht. Als Sensor wurde ein handelsüblicher Ribbon-Controller verbaut. Durch die Position und Bewegung eines Fingers auf dem Griffbrett (ähnlich dem Abgreifen von Saiten auf einem Cello) werden Steuersignale erzeugt und an die Steuereinheit weitergeleitet. Die Steuereinheit holt sich die MIDI-Sounds von einem angeschlossenen iPad und gibt die entsprechenden Töne an den verbauten Verstärker weiter.
Die Steuereinheit bietet zwei Funktionen, welche es ermöglichen, den Sensorstab an die Fähigkeiten der Spielerinnen und Spieler anzupassen. Die Quantisierungsoption bietet die Möglichkeit, verschiedene Skalen, Akkorde bzw. Töne einzustellen, die auf dem Sensorstab gespielt werden sollen. Zusätzlich kann in der Steuereinheit die Skalierung des Sensorstabs eingestellt werden, wodurch der Tonumfang des Instruments ver­ändert werden kann. Dadurch wird es SchülerInnen mit einer eingeschränkten Willkür­motorik ermöglicht, bestimmte Töne, Skalen oder gebrochene Akkorde auf dem Cello leichter zu spielen, da eine gröbere Skalierung die Fläche auf dem Griffbrett vergrößert, auf welcher sich der Ton auf dem Sensorstab befindet.

Globophone

Das Globophone kann von bis zu vier SpielerInnen gleichzeitig gespielt werden. Es handelt sich hierbei um ein Instrument, welches speziell an die Fähigkeiten von SchülerInnen mit Muskeldystrophie angepasst ist. Hierfür wurde das Globophone so konzipiert, dass der benötigte Muskelaufwand zur Bedienung des Instruments möglichst gering ausfällt.
Als Basis dient ein runder Tisch, auf dem ein halbrunder Aufbau aus Glasfaserkunstoff gebaut wurde. Aus der Mitte des Gehäuses ragt eine weiße Lampe hervor, die für eine gleichmäßige Beleuchtung des Gehäuses sorgt. In dieses Gehäuse wurden 16 Foto-Widerstände (LDRs) eingesetzt. Erzeugt ein Spieler nun mit seiner Hand einen Schatten über einem der Widerstände, so vergrößert sich der elekt­rische Widerstand. Im Inneren des Gehäuses sind die Widerstände mit einer handelsüblichen Platine verlötet, die die Steuerspannungen, die über die Foto-Widerstände gesteuert werden, in MIDI-Signale umwandelt. Diese können im Computer als MIDI-Befehle in entsprechenden Musikproduktionsprogrammen (z. B. Ableton Live) zugewiesen werden. Die SpielerInnen können so beispielsweise Melodien spielen, Lautstärken von Patterns steuern, Sounds durch Filter und Effekte live verändern und vieles mehr. Sämtliche musikalische Parameter können also durch die Regulierung des Schattens über einen der 16 Lichtsensoren gesteuert werden.

Der interaktive ­Klangbildraum „Blob“

Das Instrument „Blob“ verbindet Klang, Bild und Bewegung auf nichthaptische Weise. Vielmehr wird das Instrument gespielt, indem man sich auf einem circa vier mal sechs Meter großen Spielfeld bewegt. Geht man in die eine Ecke des Spielfelds, erklingt beispielsweise ein lautes, tiefes Brummen; geht man in die andere Ecke, erklingt ein leises, hohes Fiepen.
Die Spielfläche wird mit Hilfe zweier Weitwinkel-Beamer auf den Boden projiziert. Jeder Spieler ist mit einem Leuchtstab ausgestattet, der Infrarot-Licht produziert. Eine Infrarot-Kamera registriert die Bewegungen der Leuchtstäbe im Raum. Diese Informationen werden mittels eines Computerprogramms in Klang übersetzt, der über zwei Lautsprecher auf dem Spielfeld hörbar gemacht wird. Dieses Computerprogramm, das Bild und Ton in Abhängigkeit von den Bewegungen der SpielerInnen generiert, wurde eigens für „Blob“ geschrieben. Das System reagiert auf die Positionen des Leuchtstabs, auf dessen Orientierung, Neigung, Geschwindigkeit und/oder Beschleunigung. All diese Parameter lassen sich zur Steuerung von klanglichen Ereig-
nissen verwenden. Beispielsweise wäre es denkbar, in Anlehnung an das im Jahr 1924 erfundene Theremin den beiden Positions­koordinaten die Klangparameter Tonhöhe und Lautstärke zuzuordnen. Je nach Position erklingt dann ein unterschiedlich hoher und lauter Ton.
Der in Zusammenarbeit mit dem Medienkünstler Sven Hahne entstandene audiovisuelle Raum repräsentiert ein noch junges Experimentierfeld der computergestützten trans­medialen Kunst, auf dem nach immer neuen Steuerungsmöglichkeiten geforscht wird. Das Instrument steht damit in der Tradition der musikalischen Avantgarde. Es erforscht das Geräuschhafte, das Brummen und Zischen, das Quietschen und Pfeifen. „Blob“ bricht mit tradierten Hörgewohnheiten: Ein Popsong ist dem Instrument ebenso wenig zu entlocken wie ein Streichquartett; im Gegenzug werden Alltagsgeräusche zum musikalischen Material. Die Erforschung der klang­lichen Möglichkeiten selbst wird zur Spielanleitung für das Instrument.

Fazit

Die hier vorgestellten Instrumente ermöglichen Jugendlichen mit körperlicher Behinderung ein barrierefreies Musizieren und holen sie aus der Rolle passiver Rezipienten einer fremdbestimmten musikalischen Wirklichkeit. Die Jugendlichen werden vielmehr befähigt und motiviert, die musikalische Wirklichkeit selbst aktiv mitzugestalten. Damit kann das Projekt „Hands Off Music!“ einen Beitrag zur kulturellen Inklusion von Menschen mit Behinderung leisten und unterstützt die pädagogische Grundintention der LVR-Anna-Freud-Schule, ihre Schülerinnen und Schüler zu befähigen, als Subjekt, als gestaltende Menschen gesellschaftliche Teilhabe im Sinne einer Teilgabe zu realisieren.

Zuerst erschienen in: Spektrum Inklusion – Wir sind ­dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen, Grundlagen und Arbeitshilfen, hg. vom Verband deutscher Musikschulen, Bonn 2017. Wir danken Verlag und Autorin für die freundliche Nachdruckgeneh­migung.

Lesen Sie alle Beiträge in Ausgabe 4/2018.