Naumann, Sigrid

Vom Singen zum Klavierspiel

Eine Skizze für die erste Zeit am Klavier

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2018 , Seite 32

Viele Kinder, die zwischen sechs und acht Jahren mit dem Klavierunter­richt beginnen, sind bereits erfahrene Musiker. Sie können mit Musik ihre Emotio­nen ausdrücken. Sie wissen, wie es sich anfühlt, mit dem ganzen Körper zu musizieren. Sie stellen sich eine Melodie als Gestalt, als Einheit von Tonhöhen­verlauf und Rhythmus vor und können sie auch so wiedergeben. Und sie haben ein Gefühl für Phrasierung. Das alles können sie, weil sie singen können.

Wie das Sprechen dem Lesen und Schreiben um Jahre vorausgeht, so geht das Singen, natürlich auch das Bewegen zur Musik dem inst­rumentalen Musizieren voraus. Was liegt näher, als am musikalischen Erfahrungsschatz der Kinder anzuknüpfen und auch das Klavierspielen vom Singen aus zu erschließen? Andere Kinder bringen weniger reiche musikalische Erfahrungen mit. Sie kennen Musik vor allem aus dem Radio als etwas, das einfach da ist, ohne Aufmerksamkeit oder gar aktive Bemühung zu fordern. Und dann nimmt plötzlich die beste Freundin Klavierunterricht oder die Eltern hören, dass aktives Musizieren die Entwicklung fördert, und melden ihr Kind zum Unterricht an. Damit diese Kinder in der Musik heimisch werden können und Musizieren als etwas für sie Bedeutsames erfahren, ist es wichtig, eine Art von musikalischer Kindheit nachzuholen – und auch das heißt, vom Singen auszugehen.
Für alle Kinder gilt, dass sich zunächst eine Assoziation Taste/Klangvorstellung bilden sollte, bevor die Noten als Symbol für etwas bereits Bekanntes dazukommen. Und das geht am besten, wenn man etwas in der Vorstellung Präsentes auf die Tasten überträgt. Der Weg vom Singen über das Spielen nach Gehör hin zum Erarbeiten der Notenschrift ist altbekannt. Ich halte ihn nach wie vor für den besten Weg, denn er führt ohne Umschweife mitten in die Musik hinein. Wenn man die sich bietenden methodischen Möglichkeiten nutzt, ergibt sich für die Kinder ein elemen­tares musikalisches Handlungswissen, mit dem sie bis zu einem gewissen Grad selbstständig umgehen können. Die Freiheit eines Beginns ohne Schulwerk eröffnet mir als Lehrerin zudem die Möglichkeit, mich in der Aufgabenstellung genau am einzelnen Kind zu orientieren.

1. Spielen nach Gehör

Drei Lieder kommen in meinem Unterricht mit Grundschulkindern fast immer vor, da sie besonders geeignet sind, grundlegende Dinge zu klären. Hier das erste:

 

Eine Melodie im Dreitonraum, die man auf schwarzen oder weißen Tasten spielen kann. Bei aller Einfachheit ist das Lied musikalisch reizvoll in seiner dreitaktigen Phrasenbildung. Im Unterricht singen wir es mehrmals und zeigen dabei den Tonhöhenverlauf mit der Hand an. Dann bekommen die Kinder Papier und Stift, und während wir singen, zeichnen wir den Melodieverlauf der ersten Zeile mit:

Die zweite Liedzeile, die ja auf dieselbe Melodie gesungen wird, zeichnen wir parallel darunter. Jetzt sehen die Kinder schon, worauf es hinausläuft, und wollen das Bild zu Ende malen:

Nach dieser Vorbereitung spielen wir das Lied am Klavier. Noten sind noch in weiter Ferne, aber das Bild von der Schlange lenkt das Bewusstsein schon in die Richtung, dass das Aufzeichnen von Musik ein Abbilden ist.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2018.