Müller, Sven Oliver

Leonard Bernstein

Der Charismatiker

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Reclam, Stuttgart 2018
erschienen in: üben & musizieren 5/2018 , Seite 52

Wenn man ihn dirigieren sah, egal ob live oder im Fernsehen, spürte man, wie innig sich dieser Künstler mit seinem Metier verbunden wusste, denn die Musik stellte für ihn nicht nur einen Beruf dar, sondern war Berufung. Leitete er sein Orchester, fühlte er sich mit ihm wie auch mit der Musik innigst verbunden. Seine Mimik war von Leidenschaft geprägt, und orgiastisch fiel oft auch der Klang aus. Leonard Bernstein schien mit ihm zu verschmelzen und hatte dabei doch die Ausführenden fest im Griff. Sie folgten ihm willig, und die Zuhörenden konnten nicht genug kriegen, wobei es gerade vor dem Fernseher möglich war, den Musiker in Großaufnahme zu erleben und ihm dabei optisch so nahe zu rücken, wie es selbst bei einer Live-Begegnung kaum möglich wäre.
Das vorliegende Buch ist anschaulich geschrieben. Nach der kundigen Einführung widmet sich Sven Oliver Müller den unterschiedlichen Facetten des Musikexperten. Ausführlich geht er auf Leonard Bernsteins Ausbildung ein, würdigt ihn als Dirigent und Komponist, als Pianist und Pädagoge, auch als Privatmann und Gefühlsmensch, sogar als Politiker und – als Amerikaner. In allen Bereichen galt der Star als kompetent. Deshalb fokussiert Müller nicht nur dessen musikalische Meriten, sondern widmet sich auch „Lennies“ Liebesleben; denn auch auf diesem Sektor sah Bernstein alles nicht so eng, liebte Frauen und Männer und pflegte jene Vielseitigkeit, die auch sein musikalisches Werk prägte.
Die Musik war für ihn nicht nur eine Kunstform, sondern seine spezifische Art, das Leben zu gestalten, also ein wahres „Lebensmittel“. Bernstein gab sich nie „abgehoben“, trotz seiner vielen Talente, und er verstand es, Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten zu pflegen, wie zum Kennedy-Clan oder zum Fürstenpaar von Monaco. Bernstein rückte sich gerne in den Vordergrund und verstand zu repräsentieren. Über 70 Orchester hat er geleitet, darunter die New Yorker und Wiener Philharmoniker, aber auch das Symphonie­orchester des Bayerischen Rund­funks.
Bernstein interessierten Komponisten von der Klassik bis zur Spätromantik wie auch seine Landsleute Gershwin, Ives, Copland. Er verfasste 75 Werke unterschiedlicher Gattungen und reicherte seine Dirigate häufig mit expressiven Gesten an. Er widerlegte damit ungewollt seine These, dass ein Musiker nur selten zu einem großen Dirigenten berufen sei, da dessen Inst­rument aus einem ganzen Orchester bestehe.
Gerade Bernsteins Wirken in dieser Funktion untersucht Sven Oliver Müller besonders aufmerksam und widmet sich dazu gründlich den vom Genie gepflegten Beziehungen zur Weiblichkeit. Überhaupt vergisst sein Buch nie den Menschen hinter dem Künstler. – Am 25. August 2018 wäre Leonard Bernstein 100 Jahre alt geworden.
Heide Seele