Thielemann, Kristin

Klavier auf dem Pausenhof

Ein ungewöhnliches Spielzeug erobert die Herzen der Kinder

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 2/2017 , musikschule )) DIREKT, Seite 05

Manche Grundschulen bieten ein Arsenal an Schaukeln, Rutschen und Kletter­gerüsten, manche einen Bolzplatz oder Sitzecken auf dem Pausenhof, in die sich die Kinder zurückziehen können. Doch wie wäre es einmal mit einem gänzlich ungewöhnlichen „Spielzeug“?

Eine meiner Schülerinnen bekam vor einiger Zeit ein neues Klavier geschenkt. Das war auch bitter nötig, denn das alte war nicht mehr stimmbar, einige Saiten in den oberen Registern waren gerissen und es gab Tasten, die auch mit viel Zuspruch nicht mehr gut funktionierten. Kurz: Eine Reparatur hätte sich nicht gelohnt und auch ein Verschenken an einen Anfängerschüler wäre nicht vertretbar gewesen.
Was also tun mit dem alten Klavier? Mir schwebte gleich eine Art Kunstprojekt vor, also etwas wie ein Graffitiklavier oder ein Auseinanderbauen des Instruments mit meinen SchülerInnen. Vor einigen Jahren hatte meine Trompetenklasse viel Freude daran, alte ausrangierte Blechblasinstrumente in Deckenstrahler und Nachttischlampen umzubauen, die wir anschließend mit großem Erfolg versteigern konnten.
Inspiriert von der Aktion „Street Pianos“* kam mir jedoch die Idee, ein Kunstprojekt in meinem kleinen Schweizer Dorf am Rande des Bodensees im öffentlichen Raum durchzuführen, damit möglichst vie­le Menschen etwas davon haben. Und welcher „öffentliche Raum“ bot sich da besser an als der Pausenplatz der Primarschule, der auch gleich an Sportplatz und Turnhalle grenzt?
Die Schulleiterin zeigte sich sehr zugänglich für meine Idee und Details waren schnell besprochen: Der Hausmeister würde das Klavier abholen und es wind- und wettergeschützt unter eine Überdachung stellen. Ziel des Projekts war, allen Schülerinnen und Schülern einen Zugang zu dem Klavier zu ermöglichen. Wie lange das ­Instrument auf dem Schulhof „überleben“ würde, war für mich nebensächlich, denn auch eine „Verwandlung“ des Klaviers durch Vandalismus stellte ich mir ungemein spannend vor.
Bereits in der ersten Schulwoche war dieses neue „Spielzeug“ der Hit: Vor allem diejenigen Kinder, die bereits ein wenig Klavierspielen konnten, saßen während der gesamten Pause am Instrument, wohingegen andere den Klavierspielenden über die Schulter schauten oder mit dem Rücken ans Instrument gelehnt saßen und die Schwingungen der Töne erspürten. Viele Schülerinnen und Schüler lagen auf dem Rasen, schauten in den blauen Himmel und lauschten den Klängen. Ich verbrachte einige Vormittage damit, zur Pausenzeit einen Spaziergang zum Schulgelände zu machen, um mitzuerleben, wie sich dieses „Musikprojekt durch die Hintertür“ entwickeln würde.
Erstaunt war ich vor allem über die vielen „Nicht-Klavierspielkinder“, die zunächst im Schatten der Könner gestanden hatten. Nach einigen Tagen wagten auch sie sich an das Instrument, um zunächst schüchtern, dann immer mutiger völlig eigene Klänge zu erforschen, Melodien zu erfinden und teilweise sogar zeitgenössische Spieltechniken zu entwickeln: Einige Jungen bauten den Korpus auseinander und gingen auf Klangforschungsreise. Sie strichen mit den Fingern und kleinen Holzstücken über die Saiten, probierten die Funktionen der Pedale aus und entdeckten Effekte, die durch hineinsingen oder -rufen entstehen.
Auch nach Schulschluss war der alte Klim­perkasten oft besetzt und so kam es häufig vor, dass nachmittags oder abends spontan kleine Konzerte stattfanden, sich plötzlich ein Chor aus Spaziergängern oder Spielplatzbesuchern formte oder es Momente gab, die an eine Art Jam-Session erinnerten.
Ein weiterer schöner Effekt dieses Experiments war, dass viele Kinder einen Zugang zu Klängen, Musik und zum Musizieren fanden. Musikschulen und Privatmusiklehrer der Region verzeichneten ein gesteigertes Interesse an Klavierunterricht von Schülerinnen und Schülern unseres Dorfes. Des Weiteren berichteten viele Eltern, dass sie ihre Kinder seit Beginn des Projekts als ausgeglichener und freudiger empfanden, sie spürbar weniger Konflikte und Unfrieden innerhalb der Schülerschaft erlebten.
Nachdem sich das Projekt herumgesprochen und einige lokale Zeitungen darüber berichtet hatten, musste „unser“ Klavier umziehen – in die Grundschule des Nachbarorts. Nun erfreut sich das mittlerweile unglaublich verstimmte Instrument dort großer Beliebtheit und hat seinen Platz wegen des anhaltend schlechten Wetters auf dem Schulflur gefunden.
Die Kinder unseres Dorfes haben für das nächste Frühjahr wieder den Bedarf nach einem neuen Lieblingsspielzeug angemeldet und gleich mehrere ältere Damen gefunden, die mit Freuden ihr altes Klavier hierfür spenden würden.

* „Street Pianos“ war ein Projekt des britischen Künstlers Luke Jerram, der 2008 mehr als 1500 ausrangierte Klaviere mit dem Aufdruck „Play me – I’m Yours“ an öffentliche Plätze stellen ließ.