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Oebelsberger, Monika

Singen – doch keine (reine) Mädchensache?

Gendersensibler Singunterricht bietet großes Potenzial für die Entwicklung von Persönlichkeitsmerkmalen bei Jugendlichen

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 3/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

„Die Jungen kommen im Durchschnitt dem Musikunterricht nicht so entgegen wie die Mädchen, sie sind weniger fleißig und von dem Ideale rhythmischer und harmonischer Bändigung weit entfernt: das hängt mit ihren besten Jungeneigenschaften zusammen, die sie hoffentlich nie verlieren werden.“1

Dieses Zitat aus dem Jahr 1930 könnte in zeitgemäßer Diktion der gegenwärtig vorhandenen, über Medien und Sachbücher transportierten „moralischen Panikmache über die Krise der Männlichkeit und die Benachteiligung der Jungen“2 entsprechen. Die Problemlage der Jungen wird im Sinne eines „Boys Turn“ in den Erziehungswissenschaften vermehrt in den Fokus genderbezogener Debatten genommen: „jungenfeindliche Lern- und Leistungskulturen an Schulen […], eine zu einseitige Mädchenförderung zulasten der Jungen und schließlich der Feminismus mit einer eindeutigen Deutungshoheit über Geschlechterfragen“3 werden schnell als „Schuldige“ für die Problemlage von Jungen verortet.
Vereinfachung, Dramatisierung und Ideologisierung genderspezifischer Positionen werden damit deutlich in den Vordergrund gebracht und (ungewollt) verfestigt. Handbücher und Sammelbände zu Jungen- bzw. Mädchen-Pädagogik, eigene Produktlinien für Jungen bzw. Mädchen oder spezielle Bildungsangebote für Jungen bzw. Mädchen sind nur einige „Outputs“ einer Pädagogik, die durch geschlechter­getrennte Maßnahmen letztendlich zu einer Manifestation der Geschlechterunterschiede beiträgt.

Genderbezogen und sensibel

Welche Bedeutung haben solche Tendenzen für die Musikpädagogik? In unserem Zusammenhang genauer nachgefragt: Welche Rückschlüsse müssen wir MusikpädagogInnen in Bezug auf das Singen daraus ziehen?
Andreas Lehmann-Wermser bedauert in seinem elektronischen Artikel „Vom Verschwinden der Jungen aus der Musik­didaktik“4 die nahezu ausschließlich mädchenorientierte Sichtweise und fordert eine ebenso intensive Beschäftigung mit speziell jungenbezogenen Problemlagen. Damit formuliert Lehmann-Wermser die Notwendigkeit eines „Boys Turn“ für die Musikpädagogik sehr früh (2002).
Lucy Green hat in einer vielbeachteten Untersuchung an englischen Schulen aus der Sicht der Lehrenden festgestellt, dass Singen als „Girls Job“ gesehen wird: 64 Pro­zent der befragten Lehrenden geben an, dass Mädchen im Singen erfolgreich („successful“) sind, demgegenüber wird den Jungen kein Erfolg zugeschrieben (0%).5 Mit dieser Analyse wird eine Erwartungshaltung der Lehrenden festgemacht, die – abgesehen von einer problematischen Fragestellung (erfolgreiches Singen?) – in der Musikpädagogik auch eine generalisierende Wirkung zur Folge hat. Jürgen Budde beschreibt in seinem Aufsatz „Wie Lehrkräfte Geschlecht (mit)machen“6 die Prob­lematik solcher Generalisierungen und fordert einen Dreischritt: „Zuerst eine Dramatisierung der Differenz um die Bedeutung von Geschlecht in der konkreten Situation zu analysieren, in einem zweiten Schritt sollte dann ausdifferenziert werden, dass es nicht nur die Jungen und die Mädchen gibt, sondern eine Bandbreite von Heterogenitäten. Und zum dritten ist es sinnvoll, in der konkreten Interaktion stärker auf entdramatisierende Aspekte zu setzen.“7 Es sei also notwendig, die soziale Kategorie Gender „in den Köpfen aller an der Schule beteiligten“ noch stärker zu dramatisieren, für den pädagogischen Alltag würde allerdings eine „stärkere Entdramatisierung eine Perspektive gendersensibler Pädagogik für den Abbau von Geschlechterstereotypen bieten“.8
Die Wahrnehmung solcher Tendenzen kann pädagogische Interventionen nur dann sinnvoll beeinflussen, wenn sie das Deutungs- und Handlungspotenzial der PädagogInnen erweitert und nicht vereinfachend und vor allem nicht generalisierend einengt. Entscheidend ist das grundsätz­liche Wissen dahinter, dass es sich eben nur um Tendenzen handelt und nicht für alle Mädchen und alle Jungen angenommen werden darf.
Für das konkrete pädagogische Handeln bedeutet das, dass LehrerInnen genderbezogen, sensibel und flexibel in der jeweiligen Unterrichtssituation handeln müssen. Dazu ist eine entsprechende gendersen­sible Grunddisposition der Lehrperson Voraussetzung, die Bezug nimmt auf die vielfältigen Unterschiede innerhalb beider Geschlechtergruppen. Solchermaßen werden in der Geschlechterfrage aufgeworfene Probleme und Fragestellungen nicht lediglich als alleiniges Resultat biologischer Vorgegebenheit hingenommen. Soziale Prozesse, die im Prinzip auch veränderbar und steuerbar sind, müssen als entscheidende Faktoren geschlechtsbezogener Kon­zipierungen erkannt werden und erfordern jeweils situationsbezogenes Reagieren.
Fehlt diese umfassende gendersensible Grunddisposition, läuft man Gefahr, den oben beschriebenen Dreischritt in ein vereinfachendes methodisches Grundmuster zu verengen, das den Schluss nahelegen könnte, dass man gendersensible Pädagogik auf diesem Grundraster problemlos abhaken kann. Besonders gefährlich ist es dann, wenn ein wenig reflektierter Umgang mit vorgefassten, gleichsam standardisierten Jungen- und Mädchenbildern, eine Verengung pädagogischen Handelns zur Folge hat. So gesehen ist aus heutiger Sicht eine „Entdramatisierung“ als Perspektive gendersensibler Pädagogik auch für die Musikpädagogik durchaus von Bedeutung, denn „dramatisierendes“ Verhalten trägt dazu bei, Geschlechtsstereotypen zu verstärken und damit wiederum den Spielraum für die je individuelle Entwicklung sowohl von Jungen als auch von Mäd­chen einzuengen.

Entdramatisierung nötig

Eine Dramatisierung findet dann statt, wenn das Geschlecht zu einem alleinigen Kriterium für pädagogisches Handeln wird, das dann wiederum genderpolarisierend und -dramatisierend wirkt: Genau das passiert, wenn z. B. einem Jungen, der sich entgegen allen Erwartungen für den Chor interessiert, höchste Aufmerksamkeit geschenkt wird und die Lehrkraft ihrer Begeisterung über einen singenden Jungen freien Lauf lässt. Damit wird einerseits den Mädchen signalisiert, dass es durchaus normal ist, dass sie singen wollen, denn es ist ja – wie oben beschrieben – ein „Girls Job“. Mädchen, die singen, ent­sprechen also durchaus den genderstereotypen Erwartungen und sind so gesehen nichts Außergewöhnliches. Anders bei dem Jungen: Ihm wird deutlich signalisiert, dass es etwas ganz Besonderes sei, wenn er zum (Chor-)Singen kommt. Damit wiederum wird ihm rückgemeldet, dass es eigentlich nicht den Rollenerwartungen an Jungen entspricht, wenn einer singen will. Genderunterschiede werden solchermaßen wieder festgeschrieben und verstärkt bzw. auch dramatisiert.
Eine Entdramatisierung müsste vielmehr da­rauf abzielen, dem unter Umständen ein­zigen Jungen im Chor die Möglichkeit dieses Erlebnisraums tatsächlich zu eröffnen und erfahren zu lassen, ohne ihn und die Mädchen ständig daran zu erinnern, dass er ja eigentlich etwas tut, was den Normerwartungen an Jungen nicht entspricht.
Geschlechtsrollenstereotypen engen beide, Mädchen und Jungen, ein. Differenzierung und Integration, Erweiterung von Handlungs- und Deutungsmustern, das Bewusst­machen festgefahrener, geschlechtsbezogener und einengender Verhaltensmuster, das Angebot neuer, jeweils ungewohnter Umgangsformen und Verhaltensweisen für Jun­gen und Mädchen sind für einen Musikunterricht, der die Genderperspektive in ihrer Vielfältigkeit berücksichtigt und umsetzen will, unverzichtbare Voraussetzung.
Gerade im Handlungsfeld Singen kann gendersensibler Musikunterricht für die Entwicklung von Persönlichkeitsmerk­ma­len Entscheidendes leisten: Jungen und Mädchen können unterschiedliche Qualitä­ten stimmlichen Ausdrucks und Einsatzes für sich erproben und (wieder) gewinnen, die eine Erweiterung und Differenzierung in Kommunikation und künstlerischem Ge­stalten ermöglichen.
Das Handlungsfeld Singen stellt ein hohes Potenzial für eine Entdramatisierung der Genderfrage zur Verfügung. Singen als „Girls Job“ zu denken, ist kontraproduktiv: Zahlreiche Beispiele für gelungene Aktivierungen von Jungen in Chören und Ensembles zeugen davon. Sehr viele von diesen gelungenen Initiativen sind allerdings in reinen Jungenchören und -ensembles zu finden. Das lässt zumindest die Frage offen, ob es angebracht ist, in bestimmten Entwicklungsphasen Jungen und Mädchen in getrennten Formationen singen zu lassen.

1 Richard Münnich: Jale. Ein Beitrag zur Tonsilbenfrage und zur Schulmusikpropädeutik, Lahr 1930, S. 10; zit. nach Andreas Lehmann-Wermser: „Vom Verschwinden der Jungen aus der Musikdidaktik“, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, Mai 2002, http://home.arcor.de/zfkm/lehmannw1.pdf (Stand: 22. September 2011).
2 Edgar Forster/ Barbara Rendtorff (Hg.): Jungenpädagogik im Widerstreit, Stuttgart 2011, S. 13.
3 ebd.
4 Andreas Lehmann-Wermser, a. a. O.
5 Lucy Green: Music, Gender, Education, Cambridge 1997, S. 151.
6 Jürgen Budde: „Wie Lehrkräfte Geschlecht (mit) machen – doing gender als schulischer Aushandlungsprozess“, in: Sabine Jösting/Malwi­ne Seman (Hg.): Gender und Schule. Geschlechterverhältnisse in Theorie und schulischer Praxis, Oldenburg 2006, S. 45-60.
7 ebd., S. 58.
8 ebd.