Behschnitt, Rüdiger

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„Biophilia“ – Björks multimediales Gesamtkunstwerk

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 3/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 12

Die isländische Künstlerin Björk ist eine herausragende Erscheinung in der – „Musikwelt“, möchte man schreiben. Doch hier fängt das Problem der Einordnung bereits an. Denn auch wenn man sie nur als Musikerin betrachtet, hätte der gut sortierte Plattenhandel mehrere Möglichkeiten, ihre CDs abzulegen: mindestens gleichberechtigt unter „Pop“ und „Neue Musik“ oder „Avantgarde“. Doch Björk ist eben noch viel mehr: Interpretin, Komponistin, als Medienkünstlerin immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen, Videokünstlerin, als Performerin eine begnadete Selbstdarstellerin. Im Frühjahr 2015 wurde Björk im New Yorker Museum of Modern Art (MoMa) als erste „Popmusikerin“ mit einer Retrospektive geehrt.
Nicht zuletzt kann Björk mit Fug und Recht auch als Pädagogin bezeichnet werden. Ihrem achten Studioalbum Biophilia lag zunächst die Idee zugrunde, Kindern und musikalischen Laien mithilfe interaktiver Medien musikalische Grundbegriffe näherzubringen. Frustriert von ihrem eigenen Musikunterricht, entwarf sie zunächst Pläne, ein leer stehendes Haus in Reykjavik zum Musikmuseum umzubauen, in dem jeder Raum einen musikalischen Gedanken hätte repräsentieren sollen.
Unzählige weitere Ideen flossen in das Mammutprojekt Biophilia ein: die Darstellung von Phänomenen der Natur mittels Musik, eigens entwickelte elektronische Instrumente wie eine „Gravitationsharfe“, eine „singende Teslaspule“ oder eine überdimensionale Spieldose, genannt „Sharpsichord“. Für die Umsetzung ihrer übersprudelnden Fantasien gerade recht, brachte Apple 2010 das iPad auf den Markt. Hierin erkannte Björk die Chance, ihre Ideen umzusetzen, und verwendete das neue Tablet nicht nur zum Komponieren und zur Livesteuerung ihrer futuristischen Inst­rumente, sondern entwickelte ein Konzept für ein App-Album, dessen Erscheinen als herkömmliche Audio-CD nur die kleinstmögliche Manifestation darstellte.
Die App Biophilia (iOS für 12,99 Euro, Android für 9,99 Euro) entführt uns in nahezu unendliche Weiten und enthält nicht nur alle zehn Songs der CD, sondern einen ganzen Kosmos an kunstvollen 3D-Animationen, Filmen, interaktiven Spielen und Hintergrundinformationen.
Nach dem ersten Öffnen der App fliegen wir – wie bei Raumschiff Enterprise – in die Tiefen des Kosmos, bis sich Sternkonstellationen herausbilden, die sich zu einer kristallinen Struktur formen. Schon dies ein Abbild von Björks Intention, Makro- und Mikrokosmos zu erforschen: Handelt es sich tatsächlich um Sterngebilde oder ist dies bereits ein Blick in die molekulare Struktur, die alles im Innersten zusammen­hält? Jeder Stern entspricht einem Song, mit dem Finger können wir die 3D-Struktur hin und her wenden und verformen, um uns schließlich durch Antippen für einen Stern (= Song) zu entscheiden.
Wählen wir z. B. den Song Hollow, erreichen wir eine Menü-Oberfläche mit den Möglichkeiten „play“, „animation“, „lyrics“, „score“, „credits“ und „read more“. Unter „score“ läuft der Song instrumental mit Partitur und Cursor ab; der Text ist unterlegt. Abteilung „lyrics“ bietet den reinen Text zum Lesen, „credits“ nennt die beteiligten Künstler. Unter „animation“ können wir den Song in Originalgestalt mit Björks Gesang hören, dazu eine grafisch animierte Darstellung. Hintergrundinformationen er­halten wir unter „read more“. Der Menüpunkt „play“ schließlich öffnet einen Film zum Song, der uns immer tiefer in die menschliche DNA-Struktur hineinzieht. Da Björk im Vorfeld der Entstehung von Biophilia intensiv mit National Geographic zusammengearbeitet hat, sollte man davon ausgehen, dass die mehrfach millionen­vergrößerte Darstellung der Produktion mensch­licher Proteine wissenschaftlich fundiert ist. In einem Spiel kann man Enzyme zu neuen DNA-Strängen formen.
Alle diese Angebote beziehen sich, wir erinnern uns, nur auf einen Song! Doch auch zu jedem anderen der zehn Songs sind ähn­liche oder auch ganz andere Möglichkeiten zu entdecken. Wer mehr über Biophilia und die Einsatzmöglichkeiten im Unter­richt erfahren will, findet Informationen unter www.biophiliaeducational.org. Will­kommen bei Björk – CD war gestern!