© Susanne Klein

Eschen, Andreas

Zu Chancen und Nebenwirkungen…

Erfüllt die Musikschule sozialpädagogische Funktionen?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2019 , Seite 12

Kann das in Frage stehen, dass Musikschulen sozialpädagogische Funktionen ­erfüllen? Natürlich werden an Musikschulen neue Frage­stellungen und neue Aufgaben he­ran­getragen. Dass sie sich dem stellen, ist ein Zeichen des gewachsenen Verständnisses für das soziale Um­feld, in dem sich Musikschularbeit bewegt. Man könnte auch von einem gewachsenen Realitätssinn sprechen.

In der 2018 erschienenen zusammenfassenden Darstellung Musik in der Sozialen Arbeit werden die Tätigkeitsfelder von Musikschulen an vielen Stellen genannt. Das Register führt Musikschulen 18-mal auf.1 Und das Leitbild der Leo Kestenberg Musikschule, an der ich tätig bin, beginnt mit den Worten: „Die Musikschule ist für alle da, denen Musik wichtig ist.“2 Sie setzt keine Altersgrenze; sie stellt sich auf die unterschiedlichen Leistungsniveaus ein, ihre musikalische Orientierung berücksichtigt viele verschiedene musikalische Stile, auch beschränkt sie sich nicht auf die Instrumente aus der mitteleuropäischen Musikkultur; ihre Angebote (und Preise!) sprechen Schülerinnen und Schüler aus allen sozialen Schichten an.
Längst haben Musikschulen sich geöffnet und entwickeln sich in schnel­lem Tempo weiter, um neue Aufgaben zu übernehmen. In vielen Fällen kommen die Anregungen für neue Unterrichtsformate und neue Zielgruppen von den Lehrerinnen und Lehrern. Und wenn die Lehrkräfte sich aus eigener Initia­tive den musikpädagogischen Herausforderungen stellen, bestehen die größten Erfolgsaussichten.
Der Einzelunterricht bietet die Möglichkeit, individuelle Formen des Unterrichtens zu entwickeln. Viele Lehrkräfte nutzen das, um auf die besondere Situation ihrer Schülerinnen und Schüler einzugehen. So erhalten Menschen mit Behinderung seit Jahrzehnten eine individuelle Förderung im Instrumentalunterricht, längst ehe die Verbandspolitik auf diese Aufgabe aufmerksam wurde. In jüngster Zeit wurden Kolleginnen und Kollegen initiativ und nahmen Kontakt zu Flüchtlingen auf. Sie begannen mit Musikgruppen in Flüchtlingswohnheimen. Und bald kamen Menschen auf sie zu, die sich einen Instrumentalunterricht wünschten.
Aber sind das sozialpädagogische Aufgaben? So sehen es die Lehrkräfte meistens nicht. Sie erfüllen ihre Arbeit als Musikpädagogen. Und sie reagieren auf neue Herausforderungen mit neuen musikpädagogischen Konzepten. Wohl aber war immer wieder von Wirkungen (oder Vermutungen über Wirkungen) die Rede, die über die eigentlichen Unterrichtsinhalte hinausgehen. Diese Wirkungen sind unter dem Begriff Transfer umstritten – dazu später mehr.

Neue Zielgruppen erfordern neue Konzepte

Das Selbstverständnis und die Arbeitsweise der Lehrkräfte entwickeln sich. Jede neue Zielgruppe erfordert besondere Fähigkeiten und Konzepte und die Überwindung spezieller Schwierigkeiten.

Erwachsene
Die Arbeit mit Erwachsenen verläuft in der Regel langsamer, als man es von Kindern und Jugendlichen kennt. Und nicht nur das Lerntempo ist ein anderes, auch die Erwartungen an die Ansprache und die Weise der Vermittlung. Selbst für Schülervorspiele braucht es besonderes Eingehen beispielsweise auf die Scheu der Erwachsenen, sich mit anfängerhaften Ergebnissen zu präsentieren.

Schulkinder
In der Kooperation mit Schulen erreichen die Lehrkräfte Kinder, die sonst vielleicht nie mit der Musikschule in Berührung gekommen wären. Der Unterricht wird mit Widerständen der Schülerinnen und Schüler gegen den Schulbetrieb belastet, die im normalen Musikschulalltag eine weit geringere Rolle spielen. Gut möglich, dass das Leistungs­niveau nicht dem entspricht, was man in der Musikschule erreicht. Wenn dann aus finanziellen Gründen ausgerechnet hier in Gruppen mit kurzen Unterrichtseinheiten gearbeitet werden muss, kommt eine nachhaltige musikalische Arbeit nur eingeschränkt zustande.
Es gibt Gegenbeispiele: In einer Schule, deren Schülerinnen und Schü­ler kaum außerschulischen Musikunterricht wahrnehmen, wurde mit Unterstützung des Fördervereins ein kostenloser Gitarrenunterricht angeboten; jede Woche Einzelunterricht und Ensemb­lespiel. Der Erfolg: Kinder, die sonst oft Versagenserfahrungen in der Schule machen, präsentieren sich im Vorspiel vor ihren Mitschülern mit Leistungen, die sie mit Stolz erfüllen, und erleben, wie ihre Leistungen von Mitschülern und anderen Lehrkräften anerkannt werden.

1 Hans Hermann Wickel: Musik in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung, utb/Waxmann, Münster 2018.
2 Website der Leo Kestenberg Musikschule, https://lkms.de/index.php/leitbild.html (Stand: 4.11.2018).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2019.