Price, Lorna

O Sing unto the Lord

Zur musikalischen Ausbildung von Chorsängerinnen in Großbritannien

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2019 , Seite 46

Großbritannien ist berühmt für seine Chöre. Genauer gesagt: für seine Knabenchöre. Mädchen hin­gegen haben es ungleich schwerer, eine Chorausbildung auf aller­höchstem Niveau zu erhalten.

Großbritannien ist ein singendes Land – mit einer einzigartigen Chortradition: Landesweit sind über 40000 Chöre zu finden, darunter 15000 Kirchenchöre und circa 80 Dom- und Universitätschöre. Doch woher kommt diese Sangesfreude? Historisch ist sie unter anderem in der Religion begründet und ihre Spuren sind heute immer noch spürbar. Das New English Hymnal (das von der Church of England am häufigsten verwendete Gesangbuch) sprudelt über vor „Lobesgesang“ und „Sangesfreude“. Heute spielt die Hymne immer noch eine wesentliche Rolle im Gottesdienst. Geht man in Großbritannien gegen 17.30 Uhr in einen Dom, so stehen die Chancen gut, dass die Klänge eines „Evensongs“ (Abendandacht) zu hören sind. Ein Geheimtipp, über den die Touristen in Cambridge verdächtig gut informiert sind…

Ungleiche ­Voraussetzungen

Am Ostersonntag wache ich früh auf. Die Stille, die üblicherweise am Sonntagvormittag herrscht, ist unterbrochen von wimmelnden Geräuschen. Vor meinem College in Cambridge, knapp zweihundert Meter von der berühmten King’s Chapel entfernt, steht eine riesige Menschenschlange, die zur Kapellentür führt. Ich wusste zwar, dass die wöchentlichen Evensongs des weltberühmten Knabenchors immer gut besucht sind, aber so etwas hatte ich nicht erwartet.
Bevor ich zum Studium nach Cambridge kam, hatte ich als Choristin in Wales ganz andere Erfahrungen gemacht. Manchmal schaute un­ser Dirigent ins Langhaus, um zu prüfen, ob es heute überhaupt Zuhörerinnen und Zuhörer im Dom geben würde. Gesungen haben wir immer, doch als Mädchen fiel es mir manch­mal schwer, ohne Publikum Gottes Lob zu singen.
Hätte ich hingegen im Knabenchor des Doms gesungen, so hätte ich die gegenteilige Erfahrung gemacht. Mein Bruder, der zur gleichen Zeit im Alter von sechs Jahren angefangen hat, im Cathedral Choir zu singen – wir Mädchen waren die Girl Choristers –, erinnerte mich jedes Jahr kurz vor den großen Auftritten zu Ostern und Weihnachten mit seiner hohen, sanften Stimme daran, dass er Teil des „echten“ und somit „besseren Domchors“ sei. Ob dies eine Frage der musikalischen Qualität war, möchte ich allerdings bezweifeln. Doch die „Knüller des Jahres“ im Dom waren streng den Knaben und Männern vorbehalten. An Heiligabend und Weihnachten trat mein Bruder vor übervollem Haus auf, während meine Freundinnen und ich unsere Kräfte inmitten der Gemeinde bündelten, um die Oberstimme mit lauter Stimme und möglichst viel Vibrato mitzusingen. Sogar im Jahr der Schweinegrippe, als fast zwei Drittel der Mitglieder des Cathedral Choir von der Krankheit betroffen waren, saßen wir immer noch inmitten der Gemeinde.

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