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Günther, Anja

Nah am Menschen

Jiddische Musik als Inspirationsquelle für die Elementare ­Musikpraxis

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2019 , Seite 18

Was haben jiddische Musik und Elementare Musikpraxis (EMP)1 gemeinsam? Anja Günther zeigt, ­welche Querverbindungen sich ziehen lassen, warum die Beschäftigung mit einer Volksmusiktradition das Elementare Musizieren ­bereichern kann und inwiefern die Arbeits­weisen der EMP bei der Thema­ti­sierung und Erarbeitung einer Volks­musikkultur hilfreich sein können.

Wird ein bestimmtes musikalisches Genre zum Unterrichtsthema, so ist es unerlässlich, sich mit den Hintergründen und Besonderheiten dieser Stilistik fundiert auseinanderzusetzen, um die Musikkultur im Spiegel ihrer gesellschaftlichen und lebensweltlichen Bedingungen möglichst authentisch vermitteln zu können.2
Bei der hier im Fokus stehenden jiddischen Musik handelt es sich um die Volksmusiktradition der Juden Osteuropas, die sich über mehrere Jahrhunderte hinweg entwickelt hat und immer in kulturelle Strukturen und religiöse Bräuche eingebunden war. Die jiddische Sprache ist ein wichtiger Bestandteil dieser Kultur und daher untrennbar mit der jiddischen Musik verbunden. Sie vereinigt in sich das Hebräische, das Mittelhochdeutsche und das Aramäische sowie verschiedene romanische und slawische Sprachen, gilt aber als eigenständig.3
Die instrumentale Hochzeits- und Festmusik der Juden Osteuropas ist die Klezmermusik. Ihre Funktion war hauptsächlich die musikalische Umrahmung und Begleitung der Hochzeitszeremonie sowie der Feierlichkeiten im Anschluss. Stücke zum Zuhören gehören genauso zum Repertoire der KlezmermusikerInnen wie Tanzmelodien. Musik und Tanz stehen diesbezüglich in engem Verhältnis zueinander. Die Melodien wurden oral tradiert, das heißt ohne Noten weitergegeben und ausschließlich über das Gehör gelernt. Der Ornamentik, der Phrasierung und den verwendeten Modi ist zu entnehmen, wie stark die Klezmermusik von der Tradition jüdischer Kantorengesänge geprägt ist. Die MusikerInnen ahmen im Instrumentalspiel unter anderem typische Gesangsfloskeln und Verzierungen der Synagogalmusik nach.4 In den Abläufen des religiösen Lebens, insbesondere der jiddischen Hochzeit, liegt ein wichtiger „Schlüssel zum Verständnis des Wesens und der Funktion der Klezmer-Musik“.5 So erklärt sich, warum es für eine Lehrperson, die eine bestimmte Musikkultur zum Inhalt ihres Unterrichts machen möchte, unerlässlich ist, sich im Voraus mit den Hintergründen der Stilistik intensiv auseinanderzusetzen.
Der Gesang spielte in der Geschichte des Judentums immer eine zentrale Rolle. Die Ursprünge der jiddischen Volksliedtradition gehen bis ins 11. Jahrhundert zurück. Die Themenbereiche stammen überwiegend aus dem Alltagsleben von Frauen, wobei viele Lieder auch von Frauen komponiert wurden: Liebeslieder, Hochzeitslieder, Wiegenlieder, Kinderlieder und vieles mehr. Gesungen wurde meist auf Jiddisch, jedoch sind auch Lieder auf Hebräisch, Ukrainisch, Polnisch, Russisch und Deutsch überliefert. Im 20. Jahrhundert erweiterte sich das Gesangsrepertoire durch Lieder aus dem jiddischen Theater sowie durch politische Lieder, Gaunerlieder, Lieder aus den Ghettos des Zweiten Weltkriegs und Partisanenlieder.6
So sind es die vier Handlungsbereiche Klezmermusik, jiddisches Lied, Tanz sowie jiddische Sprache, die bei der Thematisierung jiddischer Kultur im Vordergrund stehen und unmittelbar mit den vier Ausdrucksformen der Elementaren Musikpraxis – Musizieren, Singen, Tanzen/Bewegen, Sprechen – korrespondieren.

1 Die Elementare Musikpraxis bezeichnet die aktive, musikspezifische Umsetzung der Ziele, Inhalte und ­Methoden der Elementaren Musikpädagogik. Vgl. ­Juliane Ribke: „Elementare Musikpädagogik. Versuch ­einer Standortbestimmung“, in: Juliane Ribke/Michael Dartsch (Hg.): Facetten Elementarer Musikpädagogik. Erfahrungen – Verbindungen – Hintergründe, Regensburg 2002, S. 15 f.
2 vgl. Matthias Kruse (Hg.): Interkultureller Musikunterricht, Kassel 2003, S. 8.
3 vgl. Rita Ottens/Joel Rubin: Klezmer-Musik, München/ Kassel 1999, S. 263.
4 vgl. Rita Ottens/Joel Rubin: Jüdische Musiktraditionen. Musikpraxis in der Schule, Kassel 2001, S. 58; Buchempfehlung zur Einarbeitung in die Hintergründe jiddischer Musik.
5 ebd., S. 57.
6 vgl. ebd., S. 77 f.
7 vgl. Aaron Eckstaedt: „Die virtuelle Simche. Jiddische Lieder und Tänze im Musikunterricht“, in: Meinhard ­Ansohn/Jürgen Terhag (Hg.): Musikunterricht heute 5. Musikkulturen – fremd und vertraut, Oldershausen 2004, S. 300.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2019.