Spanhove, Bart

Blockflöte in Asien

Musikalische Brücken zwischen Ost und West

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2019 , Seite 41

Wie wird Musik in verschiedenen Kulturen erlebt? Der Blockflötist Bart Spanhove berichtet von seinen Erfahrungen bei Konzertreisen nach Japan, Taiwan und China und von seiner Arbeit mit asiatischen Studie­renden an der LUCA School of Arts in Leuven (Belgien).

31 Jahre lang, von 1987 bis 2018, habe ich im Flanders Recorder Quartet gespielt und mehr als 2500 Konzerte in 55 Ländern gegeben. Auf der ganzen Welt sind dadurch soziale und künstlerische Kontakte entstanden. Das schätze ich als wunderbares Geschenk, das viel Farbe in mein Leben bringt. Besonders bereichernd finde ich dabei die zahlreichen kulturellen Unterschiede.

Japan

Gleich bei Ankunft wird mir in Japan immer ein Fahrer zur Verfügung gestellt. Logisch, denn die japanischen Schriftzeichen kann ich immer noch nicht entschlüsseln und Umschriften in lateinischen Buchstaben sind selten. Tokio kommt mir vor wie ein riesiger Ameisenhaufen. Für Menschen aus dem Wes­ten bringt die Stadt einen psychischen Druck mit sich, der oft schwer auszuhalten ist: Nie ist man allein, immer unter Tausenden von Menschen, die sich auf zu kleinen Straßen fortbewegen und in winzig kleinen Plastikhäusern leben. (Ganz anders ist übrigens das atemberaubend schöne Kyoto, wo alte Tempel inmitten von wunderschöner Natur liegen.) Japan ist ein faszinierendes Land voller Geheimnisse und Widersprüche. Denken Sie an die futuristischen Gebäude und aufsehenerregenden Hightech-Produkte einerseits und die jahrhundertealten Traditionen andererseits, an den Erfolg der Kampfsportarten und die friedliche Atmosphäre des N¯o-Theaters oder einer zweistündigen Teezeremonie.
Diese scharfen Kontraste spiegeln sich für mich auch in japanischer Musik wider. Japanische KomponistInnen suchen nach Gegensätzen und sind inspiriert von Schwarz-Weiß-Kontrasten wie z. B. Winter und Sommer, alt und neu, Ost und West oder Ruhe und Ak­tion. Zudem werden viele moderne Kompositionen für Blasinstrumente mit avantgardistischen Techniken gewürzt, die häufig an die Shakuhachi angelehnt sind, das Lieblingsblasinstrument der Japaner: eine Bambusflöte mit nur fünf Grifflöchern und einer breiten Palette an rauchigen Klangfarben.
Viele japanische Kompositionen haben eine dreiteilige Struktur: Einleitung (Jo genannt), Entwicklung (Ha) und Schlussfolgerung oder Lösung (Kyu¯). Eine ähnliche Struktur aus Spannung und Entspannung kennt auch die abendländische Musik, doch die Interpreta­tion ist eine völlig andere. Denken Sie an japanische Filme: Sie kommen nur langsam in Fahrt und haben dann oft einen dramatischen Höhepunkt. In der Musik ist es ähnlich, und häufig kommen dabei extreme dynamische Kontraste, anhaltend starke Kulminationen und absichtliche „Fehler“ (unvollkommene Intonation, knallende und explosive Artikulationen etc.) zum Einsatz, um die Dramatik wiederzugeben. Durch die Shakuhachi sind Japaner mit diesen manipulierten Klängen vertraut, die der Komposition große Ausdruckskraft verleihen.
Auch beim Unterricht fallen mir Unterschiede zu unseren europäischen Methoden auf. In Asien bekommt man in der Regel die besten Ergebnisse, wenn man vorspielt; die Nach­ahmung ist dort die bevorzugte Lernform. In Europa und Amerika geben wir unser Wissen eher verbal weiter. Nach musikalischen Lösungen suchen wir durch kreatives Denken, Experimentieren und Improvisieren, während Asiaten andere Qualitäten haben: harte Arbeit, Disziplin, Ausdauer, Regeln. Junge Menschen sind von 8 bis 18 Uhr in der Schule. Sie erzielen häufig beeindruckende Ergebnisse, weil sie im Allgemeinen sehr leistungsorientiert sind und einen beispiellosen Arbeitsrhythmus haben. Außerdem ist der soziale Druck sehr hoch. Als Lehrer an einer Musikhochschule kann ich bestätigen, dass japanische (bzw. asiatische) Studierende brillante Ergebnisse erzielen, den Lehrer nicht infrage stellen und ihn für seine Fantasie und seinen Einfallsreichtum bei der Suche nach Schönheit schätzen. Verwunderung ruft bei mir her­vor, dass Suzukis Buch Erziehung ist Liebe heißt. Ich frage mich, worin sich diese Liebe (zur Musik) äußert. In Fleiß und harter Arbeit?

Taiwan

Zu meinen besten Erfahrungen gehört es jedes Jahr, Blockflötenorchester in Taiwan bei der Vorbereitung auf den nationalen Musikwettbewerb zu coachen. Ohne Probleme spielen sie ein Programm von einer Dreiviertelstunde komplett auswendig. Ihre Leistung ist äußerst zuverlässig, Fehler hört man nur selten. Dabei handelt es sich um Schülerinnen und Schüler, die nur in der Schule und nur in Gruppen Musik machen, manchmal allerdings bis zu fünf Stunden pro Woche unter der Aufsicht eines ganzen Lehrerteams. Der Fokus liegt ausschließlich auf den Werken für den Wettbewerb: kein Blattspiel, kein Repertoire, keine Methodik rund um die technischen und musikalischen Herausforderungen. Auf YouTube können Sie sich ein Bild davon machen, zu was für beeindruckenden Ergebnissen dies führen kann.

Für meinen Fachdidaktik-Unterricht habe ich Blockflötenschulen aus Taiwan und Deutschland verglichen. Letztere versuchen, die Schüler vor allem musikalisch anzuregen. Auf (langweilige) technische Übungen und Tonleitern wird bewusst verzichtet, und Musik genießen zu können scheint das Ziel jeder Stunde zu sein. Auch Übungsstücke haben Charakter und Atmosphäre. Vielseitigkeit ist Trumpf. Die durchschnittliche europäische Blockflötenschule legt ein solides Fundament, wiederholt systematisch, doch in dieser Wiederholung variiert sie ständig, sodass der Gegenstand immer anders geübt wird.
Beim Unterricht in Asien bin ich oft erstaunt, wie sehr der Schwerpunkt auf den motorischen Aspekten liegt. Die SchülerInnen kennen das Instrument noch kaum, doch nach sechs Monaten spielen sie Techniken, die in Europa viel später behandelt werden (z. B. Doppelzunge). Das Ergebnis, das die Asiaten in kurzer Zeit erzielen, ist beeindruckend: Ohne dass dem ein erkennbarer systematischer Aufbau vorangegangen ist, interpretieren sie (zu) schwieriges Repertoire virtuos. Das passt vorne und hinten nicht zu meinen eigenen didaktischen Vorstellungen, wo die Freude an der Musik im Mittelpunkt steht und die Technik methodisch und Schritt für Schritt erweitert wird. Die fantasievolle Beschreibung von Emotionen, unzählige Klangvariationen und faszinierende Formulierungen sind für Europäer motivierende Impulse. In Taiwan frage ich mich manchmal, wo das motivierende Element liegt, wenn sich das tägliche Üben auf die Motorik und rationales Denken beschränkt. Dennoch können wir von den Asiaten viel lernen: ihre technische Zuver­lässigkeit, Disziplin, Konzentration und ihren Sinn für den letzten Schliff. Außerdem kennen sie ihren Körper sehr gut – kein Wunder, denn jeder Schüler hat in der Schule Unterricht in Physiologie und Anatomie des Körpers.

China

Im Oktober 2018 fand in China ein musikalischer Austausch zwischen der Blockflötenschule der Musikpädagogin Sieglinde Heilig aus Oldenburg und der Musikhochschule im chinesischen Dalian statt. Ich leitete ein Orchester aus traditionellen chinesischen Inst­rumenten wie Suona, Erhu, Dizi, Guzheng, Koudi, Ruan, Shang und Xun. Die Klänge dieser Instrumente sind faszinierend, auch wenn nicht alle meinem Schönheitsideal entsprechen. Einige sind mir zu durchdringend und zu laut, wären jedoch perfekt für wilde Volksfeste. So werden beispielsweise chinesische Flöten mit Eisenringen verstärkt, um mehr Klangvolumen zu erzeugen, während sie ohne diese Metallringe intim und sehr charmant klingen. Im Konzertsaal von Dalian spielten wir Dance of the Yao People, einen absoluten Hit in China, von dem viele Versionen mehr als eine Million Mal auf YouTube angesehen wurden. Die fünfteilige Struktur dieser Komposition inspiriert einen zum Experimentieren mit wechselnden Besetzungen. Die Kombination aus Blockflöten und traditionellen chinesischen Instrumenten war mit ihren unerwarteten Farben und Ausdrucksmöglichkeiten ein Volltreffer.
Als Zugabe spielten wir einen Bach-Choral. Zu meiner großen Überraschung konnten einige der Musiker, die ja ein viel schwierigeres Repertoire gewohnt waren, den Choral einfach nicht vom Blatt spielen. Sofort schrieben sie alles in Zahlen und Zeichen um, die für Rhythmen und Tonhöhen stehen. Das Ergebnis war eine fehlerlose Wiedergabe, die jedoch wenig mit unserem rhetorischen Ansatz der Barockmusik zu tun hatte. Ich versuchte, das Gefühl der Spannung und Entspannung zwischen den Noten verbal zu erklären, bekam das gewünschte Ergebnis aber erst, als ich meine Blockflöte nahm und meine Ideen einfach vorspielte. Asiaten lernen gerne, indem sie Augen und Ohren spitzen.
Vor allem in wettbewerbsorientierten Schulen sind die SchülerInnen musikalisch oft hochmotiviert. Sie möchten einen Beitrag zum guten Ruf ihrer Schule leisten. Die Blockflötenlehrerin Chiaying Chang, eine ehemalige Studentin von mir, die zehn Jahre in Europa gelebt hat, vertraute mir an, dass „durch das Streben nach Perfektion die Freude stirbt“. Meine Arbeitsweise, durch Fragen zu bestimmten Schlüssen zu kommen, wurde als unbequem erfahren. Chang bestätigte: „Die Schülerinnen und Schüler werden nicht angeregt, die Initiative zu ergreifen oder logisch zu denken. Der Lehrer kaut alles vor.“
In den vergangenen Jahren habe ich mich mit Übestrategien für Musiker beschäftigt. Die Asiaten stellen vieles, was in der Literatur empfohlen wird, auf den Kopf. Ich denke zum Beispiel an das Auswendigspielen. Asiatische Musiker sind Experten darin. Von den Übestrategien weiß ich, wie wichtig es ist, ­alle (!) Gedächtnisformen zu nutzen und zu kombinieren: das auditorische, das visuelle, das kognitive, das emotionale und das motorische Gedächtnis. Asiaten spielen mit großer Leichtigkeit und sehr zuverlässig auswendig und üben – so meine Beobachtung – hauptsächlich zwei Gedächtnisformen: motorische Fertigkeiten und in geringerem Maße inneres Hören.
Immer wieder merke ich, dass Asiaten oft gro­ßen Respekt vor unseren kreativen Herangehensweisen haben. Mit offenem Geist nehmen sie viele Ideen auf, obwohl sie manchmal Schwierigkeiten haben, mehrere unterschiedliche musikalische Vorschläge zu entwickeln. Sie finden es mitunter schwer zu verstehen, dass wir ein und dieselbe Passage manchmal bewusst aufrüttelnd und dann wieder weich oder regungslos interpretieren.

Fazit

Wir können viel voneinander lernen und uns gegenseitig befruchten. Die Moonlight Serenade auf traditionellen chinesischen Instrumenten fand ich persönlich himmlisch – ob Puristen oder Glenn Miller genauso denken, weiß ich nicht. Begegnungen mit anderen Kulturen – mit der Musik als gemeinsamem Resonanzboden – finde ich großartig, denn es entstehen wunderbare Momente, die mich jedes Mal so glücklich machen, dass ich mich schon jetzt auf neue Herausforderungen im Osten freue.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2019.