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Bossen, Anja

Schaden tut’s nichts

Sprachförderung an Musikschulen hat bislang keine seriös evaluierten sprachlichen Lernerfolge hervorgebracht

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 3/2019 , musikschule )) DIREKT, Seite 04

Von jeher haben sich die öffentlichen Musikschulen der Mitgestaltung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse gewidmet. Insbesondere im Bereich Inklusion stellte sich der Verband deutscher Musikschulen (VdM) mit der 2013 verabschiedeten „Potsdamer Erklärung“ als kompetenter außerschulischer ­Bildungspartner dar. Aktuell kommt an den öffentlichen Musikschulen nicht nur dem Thema Inklusion, sondern auch
dem Thema Integration ein hoher ­Stellenwert zu.

Dies ist nicht überraschend, wird doch Musik immer wieder gern als Sprache aufgefasst, die jeder – über kulturelle Unterschiede hinweg – versteht.1 Bereitwillig fließen Fördergelder in zahllose Musikprojekte mit Geflüchteten. Dem Trend, Musik als Integrationsmittel einzusetzen, wird momentan an den öffentlichen Musikschulen eine neue Facette hinzugefügt, die ursprünglich nur in der Rhythmik bzw. EMP angesiedelt war: die Förderung sprach­licher Kompetenzen durch den Umgang mit Musik, vor allem durch Singen und Bewegen. Sprache wird dabei als Schlüssel zur Integration betrachtet. Aktuelle Konzepte zur Sprachförderung mit Musik greifen damit Kompetenzbereiche auf, die bisher nur im Kita-Bereich angesiedelt waren, und ermächtigen nunmehr alle MusikpädagogInnen – ungeachtet ihrer spezifischen Fachausbildung – zu einer Sprachförderung mittels Musik.2
Im Jahr 2018 wurden bundesweit mehrere Fachtagungen zur Thematik „Musik und Sprache“ veranstaltet, die sich nicht nur, aber auch an Musikschullehrkräfte richteten. Hierbei stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die in den Workshops angebotenen Umgangsweisen mit Musik wie Singen, Bewegung oder Bodypercussion seriöserweise mit dem Etikett „sprachfördernd“ versehen werden können und wie kompetent Musikschullehrkräfte, die sich in ihrer Ausbildung mit Sprache nicht auseinandergesetzt haben und bestenfalls im Rahmen von Projekten oder Fachtagungen wenige Stunden fortgebildet werden, zur Vermittlung sprachlicher Kompetenzen sind.

Was ist Sprachförderung?

Um diese Frage zu beantworten, wäre zuallererst zu klären, was im Rahmen einer „Sprachförderung mit Musik“ unter Sprach­förderung bzw. Sprachkompetenz überhaupt jeweils verstanden wird,3 das heißt welches theoretische Sprach- oder Sprachkompetenzmodell dahinter steht und welche sprachlichen Kompetenzen mittels welcher musikalischen Betätigung gefördert werden können. Im nächsten Schritt wäre zu überlegen, ob die Konzeption der sprachfördernden Maßnahmen kurativen oder präventiven Charakter haben soll, sich also explizit an eine Zielgruppe mit bereits bestehendem Sprachförderbedarf richtet, oder ob an der Sprachförderung so­wohl Lernende mit als auch ohne Sprachförderbedarf teilnehmen sollen (z. B. ganze Schulklassen oder Kita-Gruppen, unabhängig vom aktuellen Sprachstand der einzelnen Teilnehmer).
In einem dritten Schritt müssten für verschiedene Qualifikationsbereiche wie formalsprachliche (z. B. phonische, semantische, morpho-syntaktische Qualifikation) bzw. andere Bereiche (Interaktion: Anbahnung von Sprechlust/Abbau von Ängsten; Verhalten in kommunikativen Situationen) Ziele festgelegt werden, die auf der Basis des möglicherweise bestehenden und zuvor ermittelten (!) Förderbedarfs im Zeitraum X mit der Fördermaßnahme erreicht werden sollen. Zur Überprüfung, ob die gesetzten Ziele durch die Fördermaßnahme erreicht wurden, wären Sprach­tests oder andere Verfahren zu Beginn und nach Abschluss der Förderung durchzuführen und möglichst mindestens eine Kontrollgruppe zum Vergleich heranzuziehen. Da dies teuer und aufwändig ist, erfolgt dies jedoch in der Regel nicht und wird auch von denjenigen, die über die Vergabe von finanziellen Mitteln für ­musikorientierte Sprachfördermaßnahmen entscheiden, nicht eingefordert. Den Entscheidungsträgern scheint es zu genügen, wenn irgendetwas mit Musik gemacht wird, das vielleicht zur Entwicklung der Sprachkompetenz beiträgt; ein echtes Erkenntnisinteresse ist meist jedoch nicht vorhanden.

Musikschullehrkräfte als SprachlehrerInnen?

Doch nicht nur die mangelnde Evaluation, sondern auch die Qualifikation der sprach­fördernden MusikpädagogInnen gibt Anlass zu Bedenken. MusikpädagogInnen ­haben, sofern sie keine RhythmikerInnen oder EMP-Fachkräfte sind, weder eine linguistische noch eine sprachdidaktische Ausbildung durchlaufen. Wie also sollen sie die Sprachentwicklung fördern, ohne über ein entsprechendes Grundlagenwissen, das kaum in einigen wenigen Fortbildungsstunden vermittelbar ist, zu verfügen? Wie sollen sie sprachdiagnostisch tätig werden – denn die Voraussetzung für „Förderung“ ist Diagnose –, wie sprach­didaktische Methoden und Strategien anwenden und die an der Sprachförderung Teilnehmenden mittels einer entsprechenden Unterrichtsplanung systematisch in die jeweilig nächste „Zone ihrer sprachlichen Entwicklung“4 führen?
Nicht ohne Grund sind die Kompetenz­anforderungen, die im Bereich der Sprachförderung an allgemeinbildenden Schulen an die Lehrkräfte gestellt werden, äußerst umfangreich. Sie beziehen linguistisches Grundlagenwissen, die Kenntnis von Sprachentwicklungsverläufen in der Erst-, Zweit- und Fremdsprache, Wissen über Abweichungen von der normalen Sprachentwicklung inklusiv Sprachstörungsbilder und Ursachen von Sprachstörungen, die Fähigkeit zur Anwendung sprachunterstützender Strategien, Methoden und ­Methodenwerkzeuge, sprachdiagnostische Fähigkeiten, Diskurssteuerungsfähigkeiten und die Reflexion eigener Spracheinstellungen ein. In der Lehrerbildung nimmt das Thema „Sprachbildung“ somit einen erheblichen Raum ein, der auch für die Qualifikation von MusikpädagogInnen wün­schenswert wäre. Vor allem sollte die Fortbildung selbst ebenfalls von qualifizierten SprachdidaktikerInnen durchgeführt werden.

Singen und Bewegen reichen nicht

In den vergangenen Jahren sind im Kontext einer musikorientierten Sprachförderung zahlreiche Unterrichtsmaterialien, vor allem Liedsammlungen, erschienen. Sie können ohne Frage gute Impulse geben, ersetzen aber keinen expliziten Sprachunterricht und ermöglichen in den meisten Fällen auch kein aufeinander aufbauendes systematisches Sprachlernen. Vor allem ist es mit Singen und Bewegen allein nicht getan, denn die Sprachentwicklung vollzieht sich in den vier Bereichen Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben gleichermaßen. Nicht von ungefähr heißt es daher in der Sprachdidaktik, dass man Lesen nur durch Lesen und Schreiben nur durch Schreiben (und nicht durch Singen oder Bewegen) lernt. Insofern ist es angebracht, auch Lese- und Schreibaufgaben konzeptionell mit Musik zu verknüpfen, sofern die Lernenden in einem Alter sind, in denen sie bereits alphabetisiert sind oder werden.
Nicht zuletzt stellt sich schließlich auch die Frage, inwiefern die Musiklehrkräfte in der Lage sind, ihren eigenen Sprachgebrauch dem jeweiligen Sprachstand einer Lerngruppe anzupassen. Ist das eigene Sprachniveau zu hoch (z. B. aufgrund einer bildungssprachlichen Ausdrucksweise, zu langer Sätze, zu schnellen Sprachtempos, wenig modulierter Stimme), wird die Lehrkraft von den Lernenden nur schwer verstanden. Ist das Sprachniveau hingegen zu niedrig oder verfällt die Lehrkraft gar selbst in Zweiwortsätze, spricht sie übertrieben langsam oder laut, ist dies kein Sprachvorbild, an dem die Lernenden sich orientieren können.

Fazit

Die bisherige Bilanz einer musikorientierten Sprachförderung, die von MusikpädagogInnen durchgeführt wurde, zeigt, dass sich über die tatsächlichen sprachlichen Lernerfolge so gut wie keine Aussagen treffen lassen, da diese nur in den seltensten Fällen seriös evaluiert wurden. Beobachtet wurde hingegen mehrfach,5 dass Musik sich offenbar förderlich auf die Emotion, Motivation, Anstrengungsbereitschaft und Konzentration auswirkt. Das sind ohne Frage Bereiche, in denen gerade schwache Sprachlernende oft Probleme haben. Wie sehr sie sich tatsächlich auf das sprachliche Lernergebnis niederschlagen, ist jedoch ungewiss. Damit kann bisher nicht als belegt gelten, dass die in der Sprachförderung tätigen MusikpädagogInnen tatsächlich einen Beitrag zur Sprachentwicklung und damit zur Integration leisten. Solange seriöse Evaluationen fehlen, bleibt nur die Gewissheit, dass, selbst wenn eine von MusikpädagogInnen durchgeführte Sprachförderung im Hinblick auf die sprachliche Entwicklung möglicherweise nur wenig nützt, Singen und Bewegen zumindest auch noch niemandem geschadet haben.

1 Ob dies tatsächlich so ist, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden.
2 vgl. das Konzept „Lieder zum Ankommen“
von Ursula Kerkmann oder das Projekt „Singen-Bewegen-Sprechen“ in Baden-Württemberg.
3 So ergab die Abfrage des Begriffsverständnisses von „Sprachförderung“ auf einem Workshop der Autorin, dass die TeilnehmerInnen sehr unterschiedliche Perspektiven vertraten: Stand bei einigen die formalsprachliche Perspektive (Sprache als System) im Vordergrund, ging es anderen eher um die soziale Interaktion oder um Sprache als Identität – entsprechend vielfältig waren die individuellen Zielsetzungen, die jedoch nicht im Zusammenhang mit dem Lernstand in einer Lerngruppe betrachtet wurden.
4 vgl. Lew S. Wygotski: Denken und Sprechen, Berlin, 1934 (dt. 1971).
5 z. B. Franziska Degé/Gudrun Schwarzer: „The effect of a music program on phonological awa­reness in preschoolers“, in: Frontiers in Psychology, 2011, www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2011.00124/full (Stand: 16.5.2019) und Iris Rautenberg: Musik und Sprache: Eine Längsschnittstudie zu Effekten musikalischer Förderung auf die schriftsprachlichen Leistungen von GrundschülerInnen, Baltmannsweiler 2012.