Wimmer, Constanze

Geeignete Worte finden

Sprechen über Musik spielerisch erlernen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2019 , Seite 22

„Sie begann zu spielen und begann zu fallen. Schon der erste Ton, der erste Klang, die erste Schwingung ihrer Geige ließ es um sie dunkel ­werden, und das Fundament unter ihr brach auf und atmete sie mit einem kräftigen Zug ein.“

So beginnt der Text eines Studenten, der im Rahmen einer kreativen Schreibwerkstatt an der Bruckneruniversität Linz zu einem Musikstück verfasst wurde, das man auch so beschreiben könnte: „Das Hauptthema des Allegretto wird aus fallenden Dreiergruppen gebildet, die von drei Achteln auf derselben Tonhöhe abgeschlossen werden. Ein zunächst vom Cello intoniertes aufsteigendes Motiv wird von Sechzehnteln der 2. Violine und Bratsche begleitet.“*
Der erste Satz des 7. Streichquartetts von Dmitri Schostakowitsch eignet sich besonders für diese interaktive Werkstatt, da die Studierenden selten erkennen, um welches Stück und um welchen Komponisten es sich dabei handelt, und sich deshalb vorbehaltlos auf die Komposition einlassen können. Wie bei einem Gesellschaftsspiel tauchen die jungen MusikerInnen in das Suchen von Begrifflichkeiten zur Musik ein, die sukzessive zu einem Text führen. Erst zum Schluss der Werkstatt wird die Identität des Stücks gelüftet und gemeinsam besprochen, welche Ähnlichkeiten, Bezüge und Differenzen in den Texten zu finden sind.
Musikhochschulen und -universitäten sind gleichzeitig Spiegel, Motor und Bremsklotz für Entwicklungen im Kulturleben. Im Zent­rum steht die instrumentale oder gesangliche Meisterlehre, rundherum gruppieren sich Lehrveranstaltungen, die zunehmend Reflexion, kontextuelle Auseinandersetzung, Kritikfähigkeit und Unternehmertum befördern möchten – ohne Sprache geht das nicht. Doch wie viel hat die Sprache in Büchern und Aufsätzen mit der Musik zu tun, die junge Studierende machen möchten? Welche Sprache eignet sich, um mit den überwiegend fremdsprachigen Studierenden ins Gespräch zu kommen?
Nur wenige MusikstudentInnen sprechen oder schreiben gerne über Musik. Die meisten spielen sie lieber und haben Scheu davor, das, was ihnen so viel bedeutet, durch Sprache auszudrücken. Doch für ihr Publikum ist Sprache oft das erste Mittel der Wahl, um in die Musik geführt, auf Strukturen, Bedeutungen und Kontexte verwiesen zu werden, die tiefere Hörerlebnisse möglich machen. So bildet Sprache im Konzertleben eine wesentliche Brücke zwischen Ausführenden und Zuhörenden: Einführungen, Werkstattgespräche, Nachbesprechungen – immer wird mit Worten versucht, das gleich zu Hörende oder das eben Gehörte zu fassen und zu veranschaulichen.
Für MusikvermittlerInnen gehört es daher zum Kern ihres Berufs, dafür die geeigneten Worte zu finden. Nicht zu viele, nicht zu wenige, nicht zu wissenschaftlich, nicht zu seicht. Immer mehr Formate für Erwachsene holen diesen Dialog mittlerweile ins Konzert selbst. „2x hören“ beispielsweise, eine Konzertreihe am Konzerthaus Berlin und im Körber Forum Hamburg, setzt das Gespräch von Ausführenden und MusikvermittlerIn zwischen zwei Aufführungen desselben Stücks. Zunächst erklingt das Werk „unvermittelt“ zu Beginn, dann ein zweites Mal und dazwischen findet ein Gespräch über Wissenswertes zur Musik statt, zum Probenprozess, zu persönlichen Bezügen der ausführenden MusikerInnen.
Musikstudierende zu Vermittlerinnen und Vermittlern ihrer eigenen Musikausübung zu machen, steht im Zentrum meiner Unterrichtstätigkeit. Daher lade ich meine Studierenden ein, die Idee von „2x hören“ an sich selbst zu erproben und in Form eines Hör­tagebuchs eine Sprache dafür zu finden. Unsere Jazz-Studierenden ermutige ich, sich von ihren Klassik-KollegInnen ein Stück aussuchen zu lassen und umgekehrt. Während sich die Studierenden das Musikstück anhören, schreiben sie mit, was ihnen dabei durch den Kopf geht – ungefiltert, aber mit Bezug zur Musik. Dann erschließen sich die Studierenden den Kontext des Stücks, recherchieren zum Werk, stoßen dabei vielleicht im Netz auf Texte wie den oben zitierten. Zum Schluss hören sie sich das Stück ein zweites Mal an und analysieren, ob sich etwas in ihrer Hörerfahrung ändert.
An diesem Zugang sind mir mehrere Aspekte aus Sicht der Musikvermittlung wichtig:
– Die Studierenden lernen ein neues Musikstück kennen, das für jemand anderen von Bedeutung ist. Allein dieser Konnex führt zu einem aufmerksamen Zuhören, obwohl die Stilrichtung nicht vertraut ist und manche Analysekriterien vielleicht nicht greifen.
– Sie befragen zuerst sich selbst, was ihnen zu dieser Komposition durch den Kopf geht, welche Assoziationen entstehen, welche Mus­ter des formalen und analytischen Hörens einsetzen und welche Bedeutung diese für sie selbst und ihre Hörerfahrung haben.
– Dann erst setzen sie ihre eigene Erfahrung in ein Verhältnis zur musik- und kulturwissenschaftlichen Forschung. Sie suchen nach Spuren zu KomponistInnen, Uraufführungen, Musikanalysen, Texten und Zitaten über die Rezeption des Werks und verschriftlichen diese Fundstücke.
– Der zweite Hördurchgang soll ihnen einen Eindruck davon vermitteln, was es bedeutet, zu einem unbekannten Werk kontextuelle Verknüpfungen herstellen zu können, und welche Veränderungen dadurch beim Hören entstehen oder nicht entstehen.
Diese einfache Übung regt meine Studierenden an, drei Phasen des Hörens von unvermittelt über kontextuell bis vermittelt als unversiegbare, weil immer wieder neue Quelle für zukünftige Anmoderationen ihres eigenen Konzertrepertoires zu begreifen und ihre ZuhörerInnen eher prozesshaft und persönlich als deskriptiv und lexikalisch ins Hören mitzunehmen. An sich selbst zu erkennen, dass Zuhören sich verändern kann, wenn sprachlich gefasstes Denken über Musik nicht-sprachliches Empfinden von Musik ergänzt, statt es zu zerreden, erleichtert den Schritt, als Musikerin oder Musiker mit dem eigenen Publikum ins Gespräch zu kommen und dabei etwas von sich preiszugeben. Erst dann gewinnt Musikvermittlung im Konzertleben an Bedeutung.

* www.dr-peter-wieners.de/s—z/schostakowitsch/kam­mermusik/streichquartett-nr-07-fis-moll-op-108.html

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