Trinkewitz, Jürgen

Körperbewusstsein schulen

Alltagsmaterialien als ergonomische ­Hilfsmittel im Klavierunterricht

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2019 , Seite 27

Leider erreicht Sprache viele Schüle­rInnen nicht so, wie man es sich wünscht. Dies betrifft insbesondere die Vermittlung von Bewegungs­mustern und -abläufen. Dazu ist die Anregung der „physiologischen Empfindungen“ bei den Lernenden notwendig, wie Rudolf Breithaupt es ausdrückt: der Muskelsinn, der Druck­sinn, der Lage- und Bewegungs­sinn sowie der Tastsinn.1 Jürgen Trinke­witz hat für seinen Unterricht diverse Hilfsmittel entwickelt, die von den SchülerInnen gerne angenommen werden und das Lernen unterstützen können. Auch hinsichtlich der muskulären Stärkung des Spiel­apparats leis­ten ergonomische Hilfsmittel gute Dienste.

Die methodischen Mittel von Instrumentallehrkräften sind in erster Linie Sprache und Demonstration: Man zeigt SchülerInnen, wie etwas ausgeführt wird, und macht sie dadurch mit einer bestimmten Fertigkeit vertraut. Zu Beginn des Lernprozesses ahmt der Schüler etwas nach, was er dann selbstständig kog­nitiv weiterentwickeln kann. Die Hirnforschung bestätigt die Wirksamkeit dieser einfachen Methode. Forschungsergebnisse zu Spiegelneuronen, welche bereits im Säuglingsalter dazu dienen, Empathie zu erlernen, besagen, dass Imitation als wirksame Form des Lernens fungiert. Das Gehirn verfügt über verschiedene Mechanismen, die es dem Menschen (und auch Tieren) erlauben, Handlungen nachzuahmen.
Als drittes wichtiges Medium dient das Berühren und Bewegen bestimmter Teile des Spielapparats des Schülers durch die Lehrkraft. Dadurch können Haptik und ergonomische Bewegungsabläufe für den Schüler kinästhetisch erfahrbar werden. Zur Verdeut­lichung denke man an eine Handgelenkskreisung, die der Schüler erst passiv durch eine kleine und leichte Bewegung, welche die Lehr­kraft am Handgelenk des Schülers ausführt, wahrnehmen und dann zumeist besser aktiv umsetzen kann. Ein solcher Ansatz findet sich auch in der Alexandertechnik.2

Der Tisch

Rudolf Breithaupt schreibt im Jahr 1905: „Die Fingerfunktionen treten in der modernen Technik mehr und mehr zurück. Die Finger sind reine Exekutoren und Diener höherer Kräfte.“3 Doch bezüglich der Ausbildung der Grundfunktion der Finger bin ich anderer Meinung. Zum einen ist die Standfestigkeit der Finger – besonders des 1., 2. und 5. Fingers – für eine stabile Position der Hand auf den Tasten entscheidend. Zum anderen bildet die willentliche Steuerung einer differenzierten Bewegungsfähigkeit der Fingergrundgelenke die Basis für Tonleiterspiel, Passagenspiel sowie Arpeggien und ist gleichermaßen für polyfones Spiel mit flexibler Artikulation wichtig. Selbstverständlich muss das Fingerspiel mit einem flexibel und durchlässig agierenden Handgelenk und einem wohlabgewogenen Gewicht des Arms gut verbunden sein, da sonst kein ausreichend starker und schöner Ton gebildet werden kann oder sich Verspannungen einstellen.
In der Tat ist es richtig, dass ein isoliertes Fingertraining bei AnfängerInnen leicht zu Verspannungen führt. Mein erstes Hilfsmittel, das ich hier vorstellen möchte, ist ein Tisch: Der Schüler legt seinen Arm bis zum Ellbogen auf eine Tischplatte. Die Höhe des Stuhls oder der Klavierbank soll ähnlich hoch sein wie vor einem Klavier. Unter leichtem gleichmäßigen Druck gegen die Tischplatte wird die flach auf dem Tisch liegende Hand „wie ein Schirm“ zum Gewölbe aufgespannt, bis die Fingerpolster auf dem Tisch aufliegen. Wichtig dabei ist, dass sich die flache Hand gleichmäßig aufrichtet. Man achte darauf, dass die Fingerendgelenke nicht eingedrückt werden. Die andere Hand kann leichten Druck auf das Grundgelenk des 3. Fingers ausüben, um den Vorgang etwas zu erschweren. Diese Übung stärkt einerseits die Muskulatur des Handtellers und andererseits die Sehnen und Muskeln, die für stabile Finger ausschlaggebend sind.
Als weitere Übung können einzelne Finger (bis auf den Daumen) – vergleichbar mit Klimmzügen – die Hand und den aufliegenden Arm geringfügig (einige Zentimeter) anheben. Das dient auch zum ersten Erspüren des Unterarmgewichts. Die Übungen sollen im Unterricht so gut erlernt werden, dass die SchülerInnen sich beim häuslichen Üben nichts Falsches beibringen.

1 Rudolf M. Breithaupt: Die natürliche Klaviertechnik, Leipzig 1905, S. 27.
2 s. Frederick Matthias Alexander: Der Gebrauch des Selbst, Basel 2001.
3 Breithaupt, S. 32.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2019.