Hellberg, Bianca

„Und jetzt mal zusammen!“

Der koordinative Raum als Parameter für gelingendes ­Zusammenspiel im Anfänger-Gruppenunterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2019 , Seite 46

Koordiniertes Zusammenspiel im Ensemble führt zu eindrücklichen Musizier­momenten. Doch unter welchen Bedingungen entstehen solche Momente im Anfängerunterricht? Und wie können Lehrende diese fördern? Anregungen für diese Fragen liefern die Ergebnisse einer qualitativ-explorativen Dissertationsstudie.

Wer kennt es nicht, dieses faszinierende Phä­nomen beim Ensemblemusizieren, bei dem einzelne MusikerInnen zu einem Ganzen verschmelzen? Wen berührt es nicht, wenn plötz­lich ein gemeinsamer Klang, eine gemeinsame Ausdrucksweise hervortritt? In solchen Momenten scheint jede einzelne Bewegung, jede Klanggestaltung exakt aufeinander abgestimmt und es entsteht ein Klangkörper, der eine kollektive musikalische Aussage formt.1 Im Modus der höchsten Aufmerksamkeit aufeinander gelingt gemeinsames Musizieren in einer Art, die süchtig machen und eine Musiklernbiografie nachhaltig prägen kann.2 Diese Form des Musizierens stellt sich zugleich als künstlerisches Ideal dar:3 „‚Einklang‘ is what we aspire to“, so Simon Rattle im Dokumentarfilm Trip to Asia.4

Im Modus der höchsten ­Aufmerksamkeit aufeinander gelingt gemeinsames ­Musi­zieren in einer Art, die süchtig machen und eine Musik­lernbiografie ­nachhaltig ­prägen kann.

Die genaue Abstimmung der Musizierenden untereinander in Bewegung, Klang und Ausdruck bezeichnet man in der Forschung als interpersonale Koordination.5 Doch spielt dieses Phänomen auch im Unterricht eine Rolle? Eine empirische Studie zum Musizieren im Instrumentalen Gruppenunterricht wollte Antworten auf diese Frage finden. Hierzu wurden zwölf Unterrichtsstunden im ersten oder zweiten Lernjahr mit unterschiedlichen Lehrkräften videografiert und die beteiligten Lehrenden und SchülerInnen befragt. Diese Daten lieferten die Basis für eine umfangreiche Analyse von relevanten Zusammenspielsequenzen auf der Mikroebene der Interaktion.6

Musizieren in Koordination

Gemeinsames Musizieren in der Gruppe ist gleichzeitig Lernfeld und Methode und bildet so eine bevorzugte Handlungsform im Gruppenunterricht. Ob sich in der Musiziersitua­tion jedoch Koordination ereignet, ist von zahlreichen Faktoren abhängig. Unter anderem spielen eine besonders hohe Aufmerksamkeit und eine intensive Konzentration auf das gemeinsame Spiel eine Rolle. In koordinierten Musiziersituationen achten die Beteiligten aufeinander, sie geben Impulse in die Gruppe und reagieren auf Impulse der anderen. Sie gleichen ihre Bewegungen aneinander an und finden einen gemeinsamen Bewegungsimpuls, einen gemeinsamen Rhythmus und einen gemeinsamen Klang. Koordination setzt ein ständiges Aushandeln unter den Musizierenden voraus, um aufrechterhalten zu werden.
Koordiniertes Musizieren verlangt von den einzelnen Gruppenmitgliedern also hohe interaktive Kompetenzen. Die einzelnen SpielerInnen müssen sicher in ihrem Handeln sein, um sich den anderen zuwenden und aufeinander reagieren zu können:

Lehrende können und sollten das unterstützen, indem sie die Aufmerksamkeit beim Musizieren auf das Gemeinsame lenken und einen Interaktionsraum gestalten, der koordiniertes Spiel überhaupt erst zulässt. Doch wie kann ein solcher Interaktionsraum aussehen?

Der koordinative Raum

Die empirischen Analysen haben gezeigt, dass sich Koordination in einigen Interaktionsräumen eher realisiert als in anderen. In koordinationsförderlichen Konstellationen ergeben sich zwischen den einzelnen Musizierenden leiblich-kommunikative Verbindungen. Zwischen den Individuen scheint sich ein Raum aufzuspannen, der sie verbindet und musikalische Kommunikation über Klänge und Bewegungen ermöglicht:

Zeichnen sich diese Räume durch Geschlossenheit nach außen,7 gegenseitigen Kontakt, gegenseitige Achtsamkeit und eine Fokussierung auf das gemeinsame Handeln aus, bieten sie beste Bedingungen für das Gelingen von Koordination. Ich bezeichne diese Räume daher als koordinative Räume.

1 vgl. Reinhart von Gutzeit: „Ensembles leiten“ (Edito­rial), in: üben & musizieren 6/2015, S. 1.
2 vgl. Bianca Hellberg: Koordinationserfahrungen im ­Jugendorchester. Eine empirische Untersuchung zum Zusammenhang von interpersonaler Koordination und Gruppengefühl, Examensarbeit, Frankfurt am Main 2010.
3 Diese Feststellung gilt zumindest in der klassisch-romantischen Musiktradition. Das Ideal des koordinierten Spiels ist nämlich kultur- und epochenabhängig. In anderen musikalischen Epochen werden abweichende Ideale ebenso deutlich wie in außereuropäischen Musikkulturen. Zum Beispiel streben Tanpura-SpielerInnen in der indischen Musik nicht nach koordiniertem Spiel, sondern versuchen im Gegenteil gleichzeitig, aber assynchron zu musizieren; vgl. Bruno H. Repp/Yi-Huang Su: „Sensorimotor synchronization: A review of recent research (2006-2012)“, in: Pychonomic Bulletin Review 20/2013, S. 430. Solche Beispiele machen dennoch deutlich, welch wichtige Referenz die Kategorie der (Dis-)Koordination für die ästhetische Bewertung und das empfundene Gelingen von Musik darstellt.
4 Thomas Grube: Trip to Asia. Die Suche nach dem Einklang, DVD, Berlin 2008.
5 vgl. z. B. Maria Spychiger: „Musiklernen als Ko-Konst­ruktion? Überlegungen zum Verhältnis individueller und sozialer Dimensionen musikbezogener Erfahrung und Lernprozesse. Einführung des Konstrukts der Koordination“, in: Diskussion Musikpädagogik 40/2008, S. 4-12.
6 Zum genauen Untersuchungsdesign und dem empirischen Vorgehen vgl. Bianca Hellberg: „Jetzt greift es wirklich ineinander“. Koordinationsprozesse beim Musizieren im Instrumentalen Gruppenunterricht, Disser­tationsschrift, Frankfurt am Main 2017.
7 In einigen Beispielen musizieren Gruppen für ein Pub­likum. In diesen Fällen wird der koordinative Raum um die Adressaten erweitert. Die Geschlossenheit des koordinativen Raums bezieht sich dann auf den gesamten Interaktionsraum, der das Publikum einschließt.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2019.