Tellisch, Christin

Fehlende Anerkennung

Warum interagieren Musiklehrer oftmals verletzender als Lehrkräfte anderer Fächer?

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 1/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 09

In der vergangenen Ausgabe von musik­schule )) DIREKT habe ich eine Studie des Forschungsprojekts INTAKT der Universität Potsdam vorgestellt. Eines der Ergebnisse war, dass Musiklehrkräfte im Vergleich zu Lehrkräften anderer Fächer ihre Schülerinnen und Schüler weniger oft anerkennend und wertschätzend ansprechen. Es stellt sich die Frage, worin mögliche Ursachen dafür liegen könnten. Obwohl in der Studie nicht eigens Erhebungen zu den Ursachen von pädagogischen Handlungsweisen vorgenommen wurden, lassen sich dennoch Vermutungen ableiten.

Allgemeine Ursachen

In allen Unterrichtsfächern reicht die Band­breite der Ursachen für verletzendes Lehrerhandeln von einer gestörten Beziehung zu bestimmten Schülern über das Festhalten an stigmatisierenden Schülerbildern und fehlendem Einfühlungsvermögen bis hin zur beruflichen Unzufriedenheit oder Schwierigkeiten im privaten Bereich. Auch könnte man vermuten, dass die Lehrkräfte ihre Schüler nicht gut genug kennen, deren Interessen daher nicht berücksichtigen und keine individuelle Leistungsentwicklung fördern. Anzunehmen ist, dass den zu verletzendem Handeln neigenden Lehrpersonen Wissen über Kinderrechte und über angemessenes pädagogisches Handeln fehlt.

Musikspezifische Ursachen

Während die genannten Ursachen für verletzendes Lehrerhandeln auf Lehrpersonen aller Fächer zutreffen können, sind im Forschungsprojekt auch einige aufgetreten, die in dieser Form nur für Musiklehrer und ihre Schüler zuzutreffen scheinen. Musiklehrer haben meist eine sehr lange musikalische Sozialisation durchlaufen. Da­zu gehören nicht allein die Studienjahre, sondern darüber hinaus das Erlernen eines Instruments von Kindesbeinen an, gekoppelt mit einer Vielzahl an musikalischen Prüfungen und Wettbewerben. Dies kann mitunter zu sehr hohen Ansprüchen an musikalische Werke und einer unbändigen Liebe zur Musik führen. Schülerinnen und Schüler haben meist keinen Zugang und kein Verständnis für diese Form des Musizierenlernens und zeigen oft kein ähnliches Interesse für die Vielzahl der klassischen Unterrichtswerke.
Damit klingt bereits die nächste mögliche Ursache an: Kinder und Jugendliche setzen sich in ihrer Freizeit mit Musik auseinander, sind demzufolge Experten für bestimmte Genres. Dieses Interesse bleibt jedoch im Musikunterricht häufig ohne Anerkennung, da zentrale Vorgaben andere Schwerpunkte setzen. In diesem Zusammenhang scheint also auch der Druck des zentralen Rahmenlehrplans und der Zensierung in einem künstlerischen Fach wie Musik ein möglicher Grund für negatives Lehrerverhalten zu sein.
Hinzu kommt, dass vom Musikunterricht oftmals Präsentationen z. B. bei Schulveranstaltungen seitens der Schulleitung und des Kollegiums gefordert werden, was den Druck auf die Musiklehrkraft erhöht; wobei Musik oftmals nur einstündig pro Woche unterrichtet wird, sodass die Schüler sich kaum auf kreative und künstlerische Arbeit einstellen können.
Die unterschiedlichen Lebens- und Musikerfahrungen, der zeitliche Druck, die zent­ralen Anforderungen und die Erwartungen der Beteiligten an Schule könnten also Ursachen dafür sein, dass es Lehrkräften im Fach Musik nicht immer leicht fällt, anerkennend mit ihren Schülerinnen und Schülern zu interagieren.
Musikstunden, bei denen gemeinsam musiziert und getanzt wird, bringen die Kinder in körperliche Aktivität und erfordern zugleich ein Einhalten bestimmter Regeln. Mit der Möglichkeit, im Musikunterricht selbst aktiv zu werden, steigt in manchen Situationen die Lautstärke, sodass Lehrkräfte gestresst werden, wenn sie dagegen ankommen wollen. Schließlich wird von Kindern und Jugendlichen, oftmals auch von deren Eltern der gesellschaftliche Wert des Fachs als gering eingeschätzt. Eine solche Einstellung ist für das Lehrer-Schüler-Verhältnis eher belastend.
Informelle Gespräche mit Lehrkräften im Rahmen der Studie lassen darüber hinaus darauf schließen, dass fachfremdes Unterrichten und damit einhergehend eine mangelnde pädagogische Professionalität ein weiterer Grund für verletzende Lehrer-Schüler-Interaktionen sein können.

Weitere Studien sind nötig

Die „humane Kraft“ von Musik, die oft postuliert wird, entfaltet nicht in jeder Musikstunde ihre Wirksamkeit. Wie lässt sich die Situation verbessern? Es bedarf einer Sensibilisierung und Fortbildung der Musikfachkräfte, damit sie mit ihren Schülern wertschätzend interagieren. Außerdem sollten weitere Studien zu Anerkennung und Verletzung im Musikunterricht, zu Auswirkungen und zu Ursachen durchgeführt werden, um Ansätze zur Steigerung der sozialen Interaktion im Musik­unterricht zu entwickeln.