Bossen, Anja

Zwischen Sicherheit und Langeweile

Rituale im Instrumentalunterricht

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 2/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 08

InstrumentalpädagogInnen sind ständig neuen Anforderungen ausgesetzt: Neue Unterrichtsmethoden, neue Inhalte, neue Zielgruppen, individualisiertes Lernen sollen im Unterricht angemessen berücksichtigt werden. Dass dabei des Öfteren alter Wein in neuen Schläuchen präsentiert wird, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Vielmehr geht es darum, eine Konstante aufzuzeigen, ohne die kein Unterricht auskommt: Rituale. Rituale sind trotz Individuali­sierung aus dem Unterricht nicht weg­zudenken. Doch können sie auch zu
Er­starrung und damit letztlich zu ­Langeweile führen.

Astrid Kaiser definiert Rituale als besondere, sozial-gestaltete, situative und ­aktionale Ausdrucksformen von Kultur. ­Rituale sind demnach in sich geschlossene, wiederkehrende Ereignisse bzw. feststehende Handlungssequenzen mit symbo­lischem Charakter und gleichem Ablauf,
in denen verschiedene Dimensionen eine Rolle spielen können:
– sprachliche Dimensionen, weil Rituale nach bestimmten Sprachmustern ablaufen,
– emotionale Dimensionen, weil Rituale in verlässlicher Weise ablaufen und damit emotionale Sicherheit geben (was viele Kinder zuhause nicht mehr erfahren),
– kognitive Dimensionen, weil Rituale Strukturierungshilfen bei der Organisation von Abläufen darstellen,
– soziale Dimensionen, weil Rituale durch automatisierte Abläufe für alle eine feste soziale Platzierung erlauben; damit wirken sie gemeinschaftsbildend,
– motorische Dimensionen, weil Rituale Verhaltens- und Handlungsmuster wiederholend praktizieren lassen.
Vor allem der Gruppenunterricht setzt auf Rituale, was durch die gemeinschaftsbildende Funktion bedingt ist. Obwohl die Unterrichtsphasen im Gruppenunterricht sich meist nicht wesentlich von denen des Einzelunterrichts unterscheiden, haben dort Rituale neben der Gliederungsfunk­tion der Unterrichtsstunde in Abschnitte eine identitätsstiftende, das Gemeinschafts­gefühl stärkende und sozialisierende Funktion, indem Gruppenrituale wie z. B. ein Begrüßungs- oder Abschiedslied eingeführt und wiederholt werden.

Arten und Funktionen von Ritualen

Rituale im Instrumentalunterricht sind meist räumlich oder organisatorisch rituell. Ein Beispiel für ein räumliches Ritual ist z. B. eine zu jedem Stundenbeginn gleiche Aufstellung im Stehkreis, in dem ein Begrüßungslied gesungen wird. Aber auch das Aufhängen eines Plakats mit gemeinsam erarbeiteten Verhaltensregeln ist zu räumlichen Ritualen zu zählen.
Die meisten Rituale im Instrumentalunter­richt dienen allerdings der Organisation und Gliederung des Stundenablaufs. Rituale können somit dazu beitragen, den Unterrichtsverlauf zu strukturieren und ihn zu rahmen. Sie reglementieren Gruppenverhalten für einen bestimmten Zeitraum und Anlass. Dabei werden im Instrumentalunterricht oft Rituale mit Musik und Bewegung verwendet, was naheliegend, aber nicht zwingend notwendig ist.1 Außer zum Markieren von Anfang und Ende der Unterrichtsstunde können musikbezogene Rituale z. B. zum Einsatz kommen, wenn die Konzentration sinkt, Schüler eine Pause benötigen oder wenn aufgeräumt werden soll. Für solche Situationen eignen sich Musikstücke, denen eine ganz individuelle Funktion in einer Gruppe zugesprochen werden kann: So kann dasselbe Stück in einer Gruppe als Pausenritual verwendet werden, indem man sich zur gehörten Musik bewegt (oder zu einer ruhigen Musik entspannt auf dem Boden liegt), in einer anderen Gruppe aber als „Aufräummusik“.
Wird ein Stück mit einer bestimmten Situation immer wieder verknüpft, ist es als Ritual schnell etabliert. Es kann helfen, viele Worte zu vermeiden und muss auch nicht stets neu erarbeitet werden, da die Schülerinnen und Schüler bereits wissen, was kommt bzw. was von ihnen in dieser Situation erwartet wird. Dies trägt zu Stabilität und Sicherheit bei und das Unterrichtsgeschehen wird durchschaubarer. Den SchülerInnen wird dabei das Gefühl vermittelt, einen Teil der Unterrichtsstunde selbst aktiv mitgestalten zu können.
Ein weiteres Argument für den Einsatz von Ritualen ist, dass sie einen Moment des ­Innehaltens bedeuten, der angesichts der heute üb­lichen Zeithetze wohltuend sein kann: z. B. ein Pausen- oder Ruheritual, das aus einer Fantasiereise zu einem gehörten Musikstück besteht. Rituale können an die Gegebenheiten in einer Gruppe angepasst werden. So kann etwa in einer multikulturellen Gruppe ein Begrüßungs- oder Abschiedslied in verschiedenen Sprachen gesungen werden.
Die sicherheits- und ordnungsstiftende Funktion, die mit Ritualen verbunden ist, lässt sich besonders gut in der Flüchtlingsarbeit nutzen, der sich viele InstrumentalpädagogInnen zunehmend widmen. Gerade Flüchtlingskinder, deren Welt aus den Fugen geraten ist, die belastende Dinge erlebt haben und die neue Orientierungen brauchen, können durch die Teilnahme an musikalischen Ritualen Selbstheilungskräfte und Stabilität entwickeln. Dies bedeutet einerseits eine sprachliche Entlastung für Flüchtlinge, die kaum Deutsch können; andererseits bieten Rituale auch einen Zugang zur deutschen Sprache (z. B. wenn kommunikative Muster des Begrüßens oder Verabschiedens in einem Liedtext vorkommen).

Bausteine von Ritualen

Grundsätzlich kommen verschiedene musikalische Bausteine als Rituale in Frage:
– Lieder
– Bewegung zu Musik
– Hörübungen
– kreative Gestaltungsaufgaben
– Rhythmusspiele mit Instrumenten
– rhythmische Sprachspiele.
Nicht der musikalische Baustein als solcher, sondern die Situation entscheidet über die Funktion als Ritual, sofern nicht ein vorhandener Text die Situation eindeutig vorgibt wie im Fall von Begrüßungs- oder Abschiedsliedern oder rhythmischen Sprachspielen. Ansonsten kann jeder Baustein in ganz verschiedenen Situationen als Ritual verwendet werden, allerdings immer nur ein Baustein für eine bestimmte Situation in einer Gruppe.
Auch in außermusikalischen Situation haben Rituale wichtige pädagogische Funktionen. So können nach einem Streit Friedensrituale dazu beitragen, wieder zu einer Situation zu finden, in der mit dem Unterricht fortgefahren werden kann. Eine Streitsituation kann auch dialogisch mit Instrumenten ausgetragen werden, ebenso wie ein anschließendes Friedensritual.
Auch für das häusliche Üben können Rituale vor allem bei jüngeren Kindern genutzt werden und motivierend wirken. So können Eltern ihre Kinder beim Üben in der Form unterstützen, dass der Beginn des Übens mit etwas eingeleitet wird, was das Kind mag. Selbst das gelegentliche Zuhören kann ritualisiert werden, indem das Kind das Geübte präsentiert und die Eltern (Geschwister, Freunde) wie ein Publikum auf Stühlen Platz nehmen und eine fiktive „Bühne“ für das Kind errichtet wird.

Praktischer Umgang mit Ritualen

InstrumentalpädagogInnen sollten sich ein Repertoire an Ritualen für verschiedene Situationen und Altersgruppen zulegen. Oft entstehen Rituale auch aus Anregungen der SchülerInnen heraus, die es aufzugreifen und zu einem unverwechselbaren Gruppenritual zu machen gilt. Doch sollte niemand gezwungen oder überredet werden, sich an einem Ritual zu beteiligen, denn positive Funktionen können nur dann erfüllt werden, wenn das Prinzip der Freiwilligkeit gilt.
Auch wenn ein Ritual ursprünglich sehr beliebt war, ist es irgendwann an der Zeit, es zu wechseln – allerspätestens dann, wenn die Gruppe es durch Anzeichen von offen oder verdeckt demonstrierter Langeweile einfordert. Dem Geschick der Lehrkraft bleibt es hierbei überlassen, die Grenze zwischen Sicherheit und Langeweile zu erkennen.
Rituale müssen außerdem zu einer Gruppe passen. Allzu oft ist zu beobachten, dass Lehrkräfte nur über ein sehr geringes Repertoire an Ritualen verfügen – oder nur für Randsituationen wie Begrüßen oder Verabschieden –, die sie in allen Gruppen auf die gleiche Weise einsetzen. Eine Selbstreflexion über die Gegebenheiten und Bedürfnisse in einer Gruppe und über die eigenen, oft stark ritualisierten Handlungen – wann sind sie schon stereotyp und so vorhersehbar, dass der Vorteil der Sicherheit, die sie bieten, durch Langeweile überboten wird? – kann dazu beitragen, dass die positiven Funktionen von Ritualen auch langfristig erhalten bleiben.

1 Rituale mit Musik und Bewegung erfreuen sich allerdings auch in anderen, nicht musikbezogenen Unterrichtskontexten großer Beliebtheit.