Dahlhaus, Bernd

Mögen Instrumentallehrer Spinat?

Ein Plädoyer für mehr Kontextbewusstsein im Instrumentalpädagogikberuf

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 2/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

„Kommt drauf an.“ Diesen Satz entgegnen wir meist dann, wenn wir eine Frage nicht eindeutig beantworten können. Der Sachverhalt erscheint uns zu komplex, als dass wir aufgrund der uns ver­fügbaren, naturgemäß immer begrenzten Informationen eine klare Meinung fassen oder eine Entscheidung treffen könnten. Um solch eine Art „Problem“ lösen zu können, gilt es, den Hintergrund der Frage oder den Zusammenhang zu beachten. Allerdings steht dieser Kontext nicht per se fest, sondern hängt von der individuellen Sichtweise ab und ist demzufolge Ergebnis einer (meist un­bewussten) Wahl.

Der Anthropologe und Kommunika­tionsforscher Gregory Bateson hat als einer der ersten Wissenschaftler systematisch die Kontextualität von Phänomenen im menschlichen Denken und Handeln zum Thema gemacht. Bateson veranschaulicht dies in seinem Buch Ökologie des Geistes mit einer Geschichte von einer Mutter, die ihren kleinen Sohn gewöhnlich mit Eiscreme belohnt, wenn er seinen Spinat gegessen hat. Dabei nutzt Bateson diese Ausgangssituation, um aus einer ungewöhn­lichen Frageperspektive auf verschie­dene mögliche Kontexte der Geschichte hinzuweisen, die sich aus der Ausgangssituation ergeben können.1
Im Folgenden übertrage ich diese Spinat-Eiscreme-Geschichte auf den Beruf des Instrumentalpädagogen und erläutere anschließend, warum ich die Beschäftigung damit auch im instrumentalpädagogischen Beruf für lehrreich und nützlich halte.

Spinat und Eiscreme im Klavierunterricht

Eine Klavierlehrerin belohnt ihren Schüler gewöhnlich mit „Lob“,2 wenn er geübt hat.3 Im Lauf der Zeit sind folgende Entwicklungen vorstellbar: Der Schüler wird schließlich das Üben mögen oder verabscheuen, er wird Lob mögen oder verabscheuen oder er wird die Lehrerin mögen oder verabscheuen. Was denken Sie, was jeweils zu einer dieser sechs Entwicklungen führen könnte?
Sammeln Sie im Folgenden hierzu Ihre Ideen. Welche zusätzlichen Aspekte, welche Rahmenbedingungen um die beschriebene Ausgangssituation herum können Sie erfinden, die die jeweilige Entwicklung erklären könnten?
Der Schüler wird möglicherweise…
1. das Üben mögen, wenn…
2. das Üben verabscheuen, wenn…
3. Lob mögen, wenn…
4. Lob verabscheuen, wenn…
5. die Lehrerin mögen, wenn…
6. die Lehrerin verabscheuen, wenn…4

Wofür sich das lohnt

Mir geht es mit dieser Geschichte nicht um die inhaltlich vordergründige Frage, wie ein Instrumentallehrer seinen (unmotivierten) Schüler kommunikativ möglichst geschickt zum Üben bringt. Mir geht es auch nicht um das Prinzip von Belohnung und Bestrafung als pädagogischer „Methode“ zur Verstärkung eines gewünschten Verhaltens.5 Und mir geht es auch nicht um das „Loben“ als solches, das immer Gefahr läuft, den Lehrer in einer asymmetrischen Kommunikation zum Höherstehenden, zum fachlich und vor allem menschlich künstlich Überhöhten zu machen.6 Und der Sicherheit halber sei außerdem an­gemerkt, dass es mir auch nicht um die grundsätzliche Frage geht, wie die Beziehungsqualität zwischen Schüler und Lehrer zu beschreiben oder didaktisch zielgerichtet oder pädagogisch verantwortlich zu gestalten sei.
Ich betone diese „Nicht“-Aspekte deshalb, weil ich damit auf eine häufig zu beobachtende Tendenz in kollegialen Gesprächen unter InstrumentalpädagogInnen reagieren möchte. Nach meiner Erfahrung empfinden es viele Lehrkräfte als Zumutung, wenn sie nach deren Worten mit „ungewohnten“, „verstörenden“ oder sogar „nervenden“ Fragestellungen und Blickrichtungen auf bestimmte Phänomene des Unterrichts bzw. ihres Berufs konfrontiert werden. Für viele KollegInnen scheint es leichter, zur Bewältigung von neuen, ungewohnten (gedanklichen) Anforderungen bereits gefestigte Erklärungs- und Bewertungsmuster zu (re)aktivieren. Werden Irritationen nicht zugelassen, führen auch kollegiale Gespräche häufig zu den immer selben Quintessenzen, den „persönlichen Wahrheiten“, die als Wiederholungsschleife sowohl eine persönliche wie auch eine ins­titutionelle Weiterentwicklung erschweren oder verhindern.
Batesons Spinat- bzw. die „Übe-Lob“-Geschichte irritiert mit ihrer besonderen Fragerichtung und erfordert eine ungewohnte Denkbewegung. Sie regt dazu an, ein Phänomen aus unterschiedlichen Richtungen zu betrachten, bisher nicht beachtete Aspekte zu entdecken und verschiedene Arten ihrer Verknüpfung zu erkunden. (Ein ähnlicher Effekt geschieht in einem Krimi, wenn durch die Einführung neuer Informationen die Handlung eine überraschende Wendung nimmt.)
Solch eine „Denkübung“
– „verflüssigt“ verfestigte Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten;
– wirkt gegen Simplifizierung und Informationsvernichtung;
– hilft, neue Perspektiven zu sehen, gewohnte Sichtweisen zu ergänzen: macht das Leben „bunter“;
– ermöglicht, die Welt der anderen besser wahrzunehmen und zu verstehen;
– weckt Entdeckerfreude und Fantasie;
– ermöglicht in Situationen, die als Prob­lem erlebt werden, ein flexibleres Verhalten.7
Ein Gefühl für diese Nutzen können Sie am besten entwickeln, wenn Sie die noch folgenden Praxisanregungen ausprobieren.
Das Bewusstsein für Zusammenhänge, deren achtsame Wahrnehmung und kreative Gestaltung – kurz: eine Kontextualisierungskompetenz – bereichert sowohl das pädagogisch-didaktische Erleben und Han­deln des einzelnen Lehrers im Unterricht wie auch das Erleben und Handeln im kollegialen Miteinander in der Musikschul­arbeit. Nicht in der getrennten Betrachtung des Pädagogisch-Didaktischen einerseits und aller anderen, außerunterricht­lichen berufsbezogenen Themen andererseits, sondern eher in der Wahl eines Fokus, der auf das Verbindende, auf das beide Bereiche Übergeordnete ausgerichtet ist, liegt das Potenzial für eine wirkliche, das heißt eine für die Beteiligten spürbare und nach­haltige Weiterentwicklung des Instrumentalpädagogenberufs.8
Es kommt eben drauf an.

Erste Steigerung für Fortgeschrittene

Und was ist, wenn der Schüler gar nicht weiß, dass es Spinat ist?
Wie verändern sich die Kontexte in den beschriebenen sechs möglichen Entwicklungen, wenn der Schüler gar nicht weiß oder nicht bemerkt oder es gar keine explizite Rolle spielt, dass er „üben“ soll bzw. dass etwas Bestimmtes, für ihn möglicherweise Unangenehmes von ihm erwartet wird? Und wie verändern sich die Kontexte in den beschriebenen sechs möglichen Entwicklungen, wenn er gar nicht bemerkt, dass es sich um ein „Lob“ der Lehrerin handelt?

Zweite Steigerung für Fortgeschrittene

Und andersherum?
Ein Klavierschüler „belohnt“ seine Lehrerin gewöhnlich mit geübten Hausaufgaben, wenn sie ihn zuvor gelobt hat. Im Lauf der Zeit sind folgende Entwicklungen vorstellbar: Die Lehrerin wird schließlich das Üben des Schülers mögen (1.) oder verabscheuen (2.), die Lehrerin wird das Loben mögen (3.) oder verabscheuen (4.) oder die Lehrerin wird den Schüler mögen (5.) oder verabscheuen (6.). Was könnte nach Ihrer Vorstellung jeweils zu einer dieser sechs Entwicklungen führen?

Aus der Praxis für die Praxis

– Als Reflexion Ihrer Erfahrungen: An wel­che Gesprächssituationen im Unterricht, im Elterngespräch, in der Konferenz… erinnern Sie sich, in denen ein Missverständnis vorlag, weil die Beteiligten „über unterschiedliche Dinge“ gesprochen haben, also aus unterschiedlichen Perspektiven auf ein Thema geblickt haben, in unterschiedlichen Kontexten gedacht haben?
– Als Übung im Gespräch: In welchem gedanklichen Kontext bewegt sich Ihr Gegenüber, wenn er/sie über das Thema XY spricht? Was ist der gedankliche Rahmen, was sind die (unausgesprochenen) Vorannahmen?
– Zur pädagogisch-beruflichen Selbstreflexion: Welche Erkenntnisse könnten Sie gewinnen, wenn Sie in Ihrem pädagogischen bzw. beruflichen Denken probehalber „weil“ durch „obwohl“ ersetzen (Kontextwechsel von Ursache und Auswirkung)? Wie können Sie denken, damit folgende Aus­sagen plausibel werden: „Der Schüler macht Fortschritte, obwohl er Unterricht nimmt.“ „Die Arbeit in der Musikschule erscheint mir immer schwieriger, obwohl die finanziellen Mittel zunehmend gekürzt werden.“ „Ich arbeite gerne in meinem Beruf, obwohl ich meine Schüler mag.“ „Ich finde größere Gruppen problematisch zu unterrichten, obwohl ich mich nicht jedem einzelnen Schüler widmen kann.“…
– Zur pädagogisch-didaktischen Anwendung: Wie könnten Sie in Ihrem pädagogisch-didaktischen Handeln Kontextvielfalt und Kontextwechsel nutzen? – Beispiele: „Die Bedeutung und somit die Intonation und musikalische Gestaltung des Melodietons g hängen davon ab, ob in der Begleitung zugleich c und e (g als Quinte) oder es und b (g als Terz) erklingen.“ (Tonalität bzw. funktionale Harmonik als Kontextphänomen). „Jetzt schlage ich mal was ganz Verrücktes vor: Spiel das Stück noch einmal und mach an einer Stelle, die du dir vorher geheim überlegt hast, beim Spielen absichtlich einen Fehler, den ich dann erkennen muss.“ (Kontextwechsel durch paradoxe Intervention)…
– Welche musikpädagogischen oder (musik)wissenschaftlichen Texte kennen Sie, die Kontextualität im hier beschriebenen Sinne thematisieren? Und welche instrumentalpädagogischen Unterrichtskonzepte oder methodischen Handreichungen kennen Sie, die mit der Idee der Kontextualität arbeiten? Welche Ideen für eine instrumentalpädagogische Praxisanwendung haben Sie?

1 Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. An­thropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, übersetzt von Günther Holl, Frankfurt am Main 1985, S. 17: „Eine bestimmte Mutter belohnt ihren kleinen Sohn gewöhnlich mit Eiskrem, wenn er seinen Spinat gegessen hat. Welche zusätzlichen Informationen würden Sie brauchen, um voraussagen zu können, ob sich bei dem Kind folgende Ent­wicklung einstellen wird: a) Es wird schließlich Spinat lieben oder hassen; b) Eiskrem lieben oder hassen oder c) die Mutter lieben oder hassen?“
2 Dieses „Lob“ kann verbal erfolgen, mit „Fleißpunkten“ oder anderen symbolischen Handlungen der Lehrerin, denen der Schüler eine positive Bedeutung zuweist.
3 Das „Üben“ steht hier als Beispiel. Es kann auch durch andere Verhalten ersetzt werden, die eine Lehrerin von ihrem Schüler im Instrumentalunterricht üblicherweise erwartet, so beispielsweise pünktlich zum Unterricht zu erscheinen, sich res­pektvoll zu verhalten oder sich bei einem Klassenvorspiel zu beteiligen.
4 Ich gebe zu den sechs Punkten keine Antwortbeispiele, weil diese nach meiner Erfahrung das „Lösungs“-Denken zu sehr lenken. Ich vertraue auf Ihren Verstehenswillen, Ihre Neugier und Ihre Kreativität. Es geht nicht um eine „richtige“, sondern um eine fantasievolle „Lösung“.
5 Ich finde dies eher problematisch, weil dadurch die Entwicklung von Eigenverantwortung, Selbst­wirksamkeits- und Selbstregulationsfähigkeiten des Lernenden verhindert werden.
6 vgl. hierzu die gut gemeinten, aber völlig un­differenzierten Kommentare wie „Das hast du gut gespielt“. In meinem Unterrichten ist mir eine gegenseitige Wertschätzung der Beteiligten in Form von detaillierten und wohlwollenden Rück­meldungen als Teil einer partnerschaftlichen Kommunikationskultur wichtig.
7 Diese Aufzählung zeigt in Bezug auf die Frage „wofür kontextuell denken?“ auf einer Metaebene ebenso verschiedene Kontexte auf.
8 So betrifft beispielsweise die Fähigkeit von Inst­rumentalpädagogen, den Umgang miteinander zu gestalten, sowohl den Anwendungsbereich Gruppenunterricht („heterogene Gruppe“) wie auch den Anwendungsbereich Kollegium („Be­triebsklima“). In Aus- und Weiterbildung und vor allem in der Praxis der Musikschularbeit werden jedoch in der Regel beide Bereiche jeweils isoliert thematisiert. – Zur Selbstreflexion des Denkens vgl. Bernhard von Mutius (Hg.): Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden, Stuttgart 2004.