Bossen, Anja

„Spielst du wieder die B-Leitung?”

Angemessene Sprache im Musikschulunterricht bedarf der besonderen Aufmerksamkeit der Lehrkräfte

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2015 , musikschule )) DIREKT, Seite 06

Als ich mich in einer Unterrichtsstunde mit meiner achtjährigen Querflötenschülerin Olivia ans Klavier setzte, um sie bei einem Stück zu begleiten, strahlte sie mich an und fragte: „Au prima, spielst du heute wieder die B-Leitung?“ „Was bitte soll ich spielen?“, fragte ich verständnislos. „Na, die B-Leitung, so wie letztes Mal“, sagte Olivia. Ich grübelte angestrengt, wovon hier wohl die Rede sein könnte und ob Olivia meinte, sie spiele dann die A-Leitung. Doch auch dazu – und zu dem dann zwangsläufig existierenden Verhältnis zwischen A- und B-Leitung – fiel mir nichts ein. Ich versank in Schweigen.

Plötzlich wurde mir klar, dass Olivia natürlich nicht die B-Leitung, sondern die Begleitung meinte. „Ach, du meinst sicher die Begleitung“, sagte ich. „Ja, sag ich doch, die B-Leitung“, bestätigte Olivia. „Das heißt aber Begleitung und nicht B-Leitung“, erklärte ich mit phonetisch korrekter Betonung und überdeutlicher Artikulation. „Ich be-glei-te dich am Klavier.“ Dann fingen wir an, zusammen zu spielen. Damit war der Fall für mich zunächst erledigt und ich hinterfragte nicht, warum Olivia das Wort falsch verstanden hatte: Hatte ich das Wort zu undeutlich ausgesprochen? Hatte sie vielleicht ein Hörprob­lem? War es einfach nur ein Missverständnis, wie es bei Kindern häufiger vorkommt, weil das Wort „Begleitung“ in Olivias Gedächtnis überhaupt nicht oder zumindest nicht im Zusammenhang mit Musik repräsentiert war?

Sprache als Stiefkind der Ausbildung

In meiner Zeit als Berufsanfängerin war mir die ungeheure Bedeutung von Sprache als Unterrichtsmedium noch nicht richtig klar. Sprache war kein Thema im musikpädagogischen Studium der frühen 1990er Jahre, weder im Lehramtsstudium noch im Studium der Instrumentalpädagogik. Selbstverständlich ging man davon aus, dass die Kommunikation im Unterricht reibungslos funktioniert. Auch heute spielt Sprache eine vergleichsweise geringe oder gar keine Rolle im musikpädagogischen Studium, obwohl eine reibungslose Kommunikation längst nicht mehr vorausgesetzt werden kann.
Vor Kurzem, viele Jahre nach meinem Erlebnis mit Olivia, hospitierte ich im MGA-Unterricht, der im Rahmen einer Kooperation einer Berliner Musikschule mit einer „Brennpunktschule“ einmal pro Woche stattfindet. Die Lehrerin spielte mit zwölf Kindern der ersten und zweiten Klassenstufe, die alle einen Migrationshintergrund hatten, ein musikalisches Bewegungsspiel. Sie erklärte, was getan werden soll, es wurden zwei Mannschaften gebildet, das Spiel begann. Doch die Regeln wurden von den Kindern nicht eingehalten, und sie bewegten sich auch nicht so zur Musik, wie es die Lehrerin beabsichtigt hatte (schleichen, hüpfen und weitere Fortbewegungsarten zu unterschiedlicher Musik). Schließlich war das Chaos perfekt, alle rannten irgendwie durch den Raum, die Stunde lief aus dem Ruder.
Daraufhin nahm ich einige Kinder zur Seite und fragte sie, ob sie ihrer Meinung nach das Spiel so spielen würden, wie die Lehrerin es erklärt hatte. „Wie geht das Spiel, könnt ihr es mir nochmal erklären?“, fragte ich. Dabei zeigte sich, dass vier von sechs Kindern nicht verstanden hatten, was sie tun sollten.

Sprache als Unterrichtsmedium

Sprache ist das zentrale Unterrichtsme­dium. Sie hat die Funktion, Inhalte zu vermitteln, Prozesse zu begleiten und Beziehungen zu schaffen. Selbstverständlich kann man auch nonverbal musikalisch handeln, doch Musikunterricht kommt niemals gänzlich ohne Sprache aus. Vor- und Nachmachen sind zwar bewährte Methoden bei der Vermittlung musikpraktischer Fertigkeiten. Auch Musikverstehen kann sich zumindest teilweise ohne Sprache vollziehen, und jeder, der Musik studiert hat, kennt Momente, in denen man auch ohne Erklärungen des Lehrers oder der Lehrerin plötzlich verstand, wie man eine bestimmte Stelle zu spielen habe; man hatte die „Botschaft“ des Komponisten verstanden.
Doch diese Momente stellen nicht den Hauptanteil des Unterrichts dar. Instrumen­talpädagogInnen erklären viel, ihr Rede­anteil ist gegenüber dem der SchülerInnen sehr hoch, die Rollen sind fest verteilt: Die Lehrperson erklärt, der Schüler oder die Schülerin nimmt das Gesagte rezeptiv auf und versucht, es umzusetzen. Daran, wie es umgesetzt wird, kann die Lehrperson erkennen, ob der Schüler oder die Schülerin das, was sie gesagt hat, verstanden hat. Oft laufen auch Erklärung und Vorspielen durch die Lehrkraft gleichzeitig ab, sodass sich die sprachliche Absicht und die musikalische Umsetzung gegenseitig verstärken. Dieses Modell funktioniert auch heute noch bei der „klassischen“ Musikschulklientel: SchülerInnen mit altersangemessener Sprachkompetenz auf einem bildungssprachlichen Niveau.

Sprachkompetenz ist nicht mehr selbstverständlich

Mit der Erschließung neuer Zielgruppen (bildungsferne SchülerInnen, MigrantInnen) – vor allem in Kooperationsmodellen – und mit der Einführung der Inklusion können Lehrkräfte nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass alle Kinder sie verstehen, wie das Beispiel der Lehrerin an einer Berliner Brennpunktschule zeigt. Lehrkräfte, die mit Migranten, Behinderten oder bildungsfernen Kindern und Jugendlichen arbeiten, sollten sich bewusst machen, dass sie ihre Sprache an das (auch innerhalb einer Gruppe oft sehr heterogene) Sprachniveau anpassen müssen.
Bis zu 25 Prozent aller Kinder eines Jahrgangs haben mittlerweile im Jahr vor der Einschulung Sprachförderbedarf, und dies betrifft keineswegs nur Kinder mit Migrationshintergrund. Auch um die Lesekompetenz ist es nicht bei allen Kindern gut bestellt und etwa fünf Prozent aller Kinder leiden an einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Dies erschwert auch das Lesen von Texten in Instrumentalschulen, die sich oft noch an einer gegenüber der Umgangssprache viel komplexeren Bildungs- und Fachsprache orientieren und keine nach verschiedenen Textniveaus differenzierten Texte anbieten.

Förderliches Sprachverhalten von Lehrkräften

Um sein eigenes Sprachverhalten als LehrerIn an das Sprachniveau der Schülerinnen und Schüler anzupassen, bedarf es der Kenntnis von sprachlichen Problemen, die generell auftreten können – z. B. Hörprob­leme, mangelnde Kenntnisse auf grammatikalischer Ebene, geringer Wortschatz, Aussprachstörungen, Redeflussstörungen wie Stottern oder Poltern, Dysgrammatismus u. a. –, sowie der Kenntnis von Möglichkeiten, darauf zu reagieren. (Inwieweit Sprache in Inklusionsfortbildungen berücksichtigt wird, kann an dieser Stelle nicht festgestellt werden.)
Mit „Anpassung“ ist keineswegs gemeint, genauso zu sprechen wie die SchülerInnen. Vielmehr geht es darum, so weit wie möglich sicherzustellen, dass die Kinder verstehen, was gemeint ist, und eine erfolgreiche Kommunikation im Unterricht zu ermöglichen. Dies funktioniert nur mit einer Passung zwischen Lehrer- und Schülersprache. Ein nicht zu vernachlässigendes Problem ist, dass Musiklehrkräfte, die in Kooperationen an Schulen arbeiten, von den Lehrkräften der allgemein bildenden Schulen oft keine Auskünfte darüber erhalten, welche Kinder welche Sprachprob­leme haben. Oft argumentieren die Lehrkräfte der Schulen damit, dass der Datenschutz solche Auskünfte verhindere. Hier muss sich noch viel bewegen, denn ein angemessenes Sprachverhalten aller Lehrkräfte gehört ohne Frage zu einem pädagogischen Konzept, da es den Lernprozess der SchülerInnen maßgeblich beeinflusst. Doch Musikschullehrkräfte oder freie MusikpädagogInnen sind keine Sprachdidaktiker und daher auf die Auskünfte der schulischen Lehrkräfte angewiesen.
Im Musikschulunterricht (Instrumental­unterricht, EMP, Singprojekte und andere Angebote) nehmen die Kinder überwiegend eine Rolle als Sprachrezipienten und nicht als Sprachproduzenten ein. Dem­zufolge sind Hörverständnisprobleme viel gravierender als Probleme bei der Sprachproduktion, da die SchülerInnen Aufträge nicht umsetzen können. Mangelndes Hörverständnis führt allerdings auch dazu, dass auf Fragen keine adäquaten Antworten gegeben werden können, selbst wenn entsprechende sprachproduktive Fähig­keiten vorhanden sind, und die gesamte Kommunikation erschwert ist.
Davon betroffen sind insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund und mit Hörbeeinträchtigungen. Kinder und Jugend­liche mit Migrationshintergrund tendieren dazu, nicht ohne Weiteres zuzugeben, dass sie etwas nicht verstanden haben. Fragt die Lehrkraft, ob alle verstanden haben, was sie tun sollen, antworten sie oft mit „ja“. Erst später stellt sich heraus, dass sie es eben nicht verstanden haben. Hilfreicher ist es daher, diese Frage nicht zu stellen, sondern einige SchülerInnen einen erteilten Auftrag mit eigenen Worten wieder­holen zu lassen. Darüber hinaus können Lehrkräfte den Unterricht durch folgende Verhaltensweisen kommunikationsfördernd gestalten:
– Eine falsch angewandte Grammatik sollte nicht dahingehend korrigiert werden, dass Kinder mit den Worten „das heißt aber…“ verbessert werden, da dies nach mehrmaligen Korrekturen dazu führen kann, dass sich derart korrigierte SchülerInnen überhaupt nicht mehr verbal am Unterricht beteiligen. Günstiger ist es, die falschen Stellen im Kontext richtig zu wiederholen. Sagt eine Schülerin z. B.: „Paula hat mir die Noten nicht gegebt“, kann man formulieren: „Warum hat Paula dir die Noten nicht gegeben?“ Sprachfördernd ist es auch, wenn Kinder ermutigt werden, Fragen nicht nur in Ein-Wort-Sätzen zu beantworten.
– Über Musik kann in sehr vielfältiger Weise gesprochen werden: Musik und Emo­tionen durch Musik können beschrieben, bewertet, eingeordnet, erklärt, begründet, gedeutet oder erzählt werden und sie eignen sich auch als Diskussionsanlass. All diese Sprachhandlungen lassen sich auch auf außermusikalische Sprach­situationen übertragen, sodass allgemeine kommunikative Fähigkeiten gefördert werden.
– Die Lehrkraft sollte selbst ein Sprachvorbild sein. Lehrersprache sollte nicht zu schnell und frei von Füllwörtern wie „äh“ oder „halt“ sein. Lehrkräfte sollten Wichtiges durch Lautstärke hervorheben, die Klangfarbe abwechseln (z. B. kann Flüstern – sparsam eingesetzt – die Aufmerksamkeit durchaus steigern). Die Sprache sollte generell laut genug sein und man sollte sich, falls hörgeschädigte SchülerInnen am Unterricht teilnehmen, im Raum so positionieren, dass alle SchülerInnen die Mundbewegungen der Lehrkraft sehen können. Sätze sollten nicht zu lang und verschachtelt sein und immer beendet werden (was keineswegs selbstverständlich ist, wie Unterrichtsmitschnitte zeigen). Die nonverbale Lehrersprache (Gestik und Mimik) sollte immer kongruent mit der verbalen Sprache sein, da es sonst zu Missverständnissen und Unsicherheiten kommen kann.
– Aufträge (auch für das häusliche Üben), die für eine Gruppe erteilt werden, sollten klar formuliert sein und können nach­einander auf zwei verschiedenen sprach­lichen Niveaustufen erteilt werden (komplexe Sprache und einfache Sprache).
– Fachsprachliche Ausdrücke können sich nur dann festigen, wenn die SchülerInnen ausreichend Gelegenheit erhalten, sie selbst sprachlich anzuwenden.
– Zur Unterstützung von Wortbedeutungen ist die Verwendung von Bildern sinnvoll; wird z. B. ein Lied gesungen, in dem bestimmte Tiere vorkommen, kann es SchülerInnen mit geringen Wortschatzkenntnissen helfen, wenn sie die Tiernamen mit einem Bild verknüpfen können. Gerade, wenn Liedmelodien auf Instrumenten musiziert werden, ist das Verständnis des Liedtextes eine Voraussetzung für eine adäquate Interpretation auf dem Instrument; genauso gilt dies auch für programmatische Inhalte von Musik.
Auch wenn man selbst nicht über sonderpädagogische Kenntnisse verfügt, kann man durch solche leicht umzusetzenden Verhaltensweisen dazu beitragen, seinen Unterricht kommunikationsfördernd zu gestalten und dadurch auch etwas zur Entwicklung der Sprachkompetenz der Schülerinnen und Schüler beizutragen – auch wenn dies nicht die Hauptaufgabe von Musiklehrkräften ist. Für den Lernprozess wird es dennoch förderlich sein.

Literatur
Beiderwieden, Rolf: Musik unterrichten. Eine systematische Methodenlehre, Bosse, Kassel 2008
Biegholdt, Georg: Theorie und Praxis der Lerngruppensprache im Musikunterricht, Disserta­tionsschrift an der Universität Potsdam 2014
Brandstätter, Ursula: Musik im Spiegel der Sprache. Theorie und Analyse des Sprechens über Musik, Metzler, Stuttgart 1990
Kaiser, Constanze: Körpersprache der Schüler. Laut­lose Mitteilungen erkennen, bewerten, rea­gieren, Luchterhand, Neuwied 1998 (nur antiquarisch)
Kraemer, Rudolf-Dieter: Musikpädagogik – eine Einführung in das Studium, Wißner, Augsburg 22007
Sallat, Stephan: „Unterricht bei Kindern mit Sprach- und Kommunikationsstörungen“, in: Sprache Stimme Gehör 2/2015, S. 70-75