Hintz, Asmus J.

Musizieren in der zweiten Lebenshälfte

Herausforderungen für Pädagogik und Angebote der Musikschulen

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 5/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Der demografische Wandel wird häufig umschrieben mit der Kurzformel „Älter – bunter – weniger“. Dahinter verbergen sich die Alterung der Gesellschaft, die externe und interne Migration sowie das Sinken der Bevölkerungszahl. Alle drei Trends haben Auswirkungen auf die Entscheidungen von Kultureinrichtungen und insbesondere auf die strategische Ausrichtung von Musikschulen.

Für die Wirtschaft und auch für die Musikschulen stellt das Marktsegment der Älteren sowohl quantitativ als auch hinsichtlich der finanziellen Möglichkeiten künftig eine sehr wichtige Zielgruppe dar. Wer auf die speziellen Bedürfnisse dieser Menschen einzugehen vermag, hat gute Chancen auf wirtschaftliches Wachstum und Stabilität. Bei den Ausgaben für Kulturangebote liegen die 50- bis 65-Jährigen weit vorne mit durchschnittlich 100 bis 250 Euro pro Jahr. Sie stellen besonders hohe Ansprüche an die Qualität. Spartenspezifisch betrachtet rangiert die Musik auf der Beliebtheitsskala der älteren Erwachsenen ganz oben: Zu 70 bis 80 Prozent nennen sie das Hören von Musical, Oper und Operette als beliebteste Freizeit­betätigung.1
Musik ist ein Lebenselixier für Jung und Alt. Menschen in ihrer zweiten Lebenshälfte entdecken für sich selbst beispielsweise die Musik, von der sie bereits in frühen Jahren fasziniert waren, als prägendes Element ihres Alltags wieder. Entweder beginnen sie, ein Musikinstrument zu erlernen, oder sie knüpfen an einst erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten wieder an. Aktives Musizieren, Singen oder Tanzen kann bis ins hohe Alter hinein wieder zu einer lebendigen Erfahrung werden und soziale Netzwerke fördern und stärken.

Vorsicht vor neuen Klischees von den „jungen Alten“!

Das in der Werbung und Konsumforschung gezeichnete Idealbild einer mobilen, konsumfreudigen Generation 50+ trifft nur auf etwa 20 bis 30 Prozent der Menschen dieser Altersgruppe zu.2 Dem entspricht auch das Interesse am Kulturleben in der Region: Jeweils knapp ein Drittel der Befragten sind „stark oder sehr stark“ am Kulturgeschehen interessiert (30%) bzw. „wenig oder überhaupt nicht“ (31%); 39 Prozent der Befragten bezeichnen dieses Interesse als „durchschnittlich“.
Neben dem Alter wird die kulturelle Partizipation primär durch die Gesundheit, die Schulbildung, die wirtschaftliche Lage, einen eventuellen Migrationshintergrund sowie das soziale und familiäre Umfeld beeinflusst.

Hohe Bildungsmotivation im Alter

Das Gros der Menschen im Alter zwischen 50 und 70 Jahren ist davon überzeugt, dass künstlerische Fertigkeiten (z. B. ein Instrument spielen oder ein Bild malen zu können) durchaus auch noch im Alter erlernbar sind. Ein Drittel der bisher nicht künstlerisch Aktiven zeigt zudem Interesse an entsprechenden Angeboten.
Das Interesse der Generation 50+ an künst­lerischen Tätigkeiten könnte auf mittlere Sicht dazu genutzt werden, auch Musikschulen trotz des demografischen Wandels optimal auszulasten. Nötig sind dafür geeignete Angebote, wie sie zunehmend von Musik- und Kunstschulen, Chören und Laienorchestern, Volkshochschulen und kirchlichen Bildungseinrichtungen sowie anderen Trägern der kulturellen Bildung bereitgestellt werden.
Die bevorzugten Gruppenkonstellationen für Angebote zur künstlerisch-kreativen Eigenaktivität in der Freizeit werden von den befragten Personen wie folgt ange­geben:
37 Prozent bevorzugen Teilnehmer „in meinem Alter“, 37 Prozent fühlen sich eher wohl in einer altersgemischten Teilnehmergruppe und 25 Prozent ist es „persönlich egal“. 29 Prozent sind schon einmal in der Freizeit künstlerisch aktiv gewesen, 22 Prozent gehen aktuell einem künstlerischen Hobby nach. Von diesen spielen elf Prozent aktuell ein Musikinst­rument und elf Prozent geben an, die Musik als früheres Hobby ausgeübt zu haben. In dieser Gruppe sind die 60- bis 69-Jährigen am stärksten vertreten. Drei Prozent der Befragten ohne künstlerische Hobbys sind auf jeden Fall interessiert, geeignete Angebote aufzusuchen. Allerdings: Der Anteil von Neueinsteigern bei künstlerisch-kreativer Eigenaktivität liegt unter älteren Menschen derzeit nur bei einem Prozent.3 Das Gros der heute Aktiven war auch in jüngeren Jahren schon kulturell engagiert.

Musikvermittlung für ältere Erwachsene

Im Alter noch ein Instrument erlernen? Die Antwort lautet: Ja! Zu unterscheiden ist zwischen Wiedereinsteigern und Anfängern. Wer früher ein Instrument gespielt oder gesungen hat, kann relativ leicht die latent vorhandenen Fähigkeiten aktivieren und darauf aufbauen: Obwohl längere Zeit nicht praktiziert, sind sie abrufbar und durch Übung zu entwickeln.
Das körpereigene Instrument, die Stimme, steht allen Menschen zur Verfügung. Die Fertigkeit des Singens kann auch im Erwachsenenalter leicht erworben, wieder aktiviert und verbessert werden. Generell gilt: Anfänger haben vergleichsweise mehr Herausforderungen zu meistern, aber das Gehirn des älteren Erwachsenen kann neue Informationen rasch und ökonomisch verarbeiten. Die Feinmotorik und die Beweglichkeit der Finger sind bis ins hohe Alter trainierbar.
Beim Musizieren werden Hirnareale aktiviert, die bei anderen Tätigkeiten nicht angesprochen werden. Es kann wie ein Fitnesstraining für das Gehirn wirken und auch im Alter die kognitive Leistungsfähigkeit stärken, somit als „Chance bewusster Lebensgestaltung“ verstanden werden. Wichtige Erfolgsfaktoren sind die Auswahl der Musikstücke, des Instruments sowie die Lernsituation.
Musik und eigenes Musizieren bieten vielfältige Möglichkeiten mit positiven Auswirkungen auf die Lebensgestaltung. Im Folgenden wird über die Erfahrungen eines Pilotprojekts berichtet, das der Verfasser von 2004 bis 2006 in Hamburg mit 80 Erwachsenen im Alter von 48 bis 78 Jahren durchgeführt hat.4 Im Mittelpunkt stand die Erprobung von Handlungs­modellen mit dem Schwerpunkt Musikvermittlung für Menschen ab 50 Jahren. Es wurde gesungen, mit verschiedenen Inst­rumenten musiziert und ein allgemeiner, auf die Erfahrungen und die Lebens­situation der Teilnehmer abgestimmter Austausch über Musik im Gespräch oder anlässlich verschiedener Vorträge gepflegt. Das Musikvermittlungsangebot sollte den Interessenten größtmögliche Freiheit in der Auswahl der Einzelaspekte überlassen. Hinsichtlich der inhaltlichen Angebote wurden die Teilnehmer in drei Gruppierungen eingeteilt:
– Menschen, die gern mit Gleichgesinnten in altersgemischten Gruppen ihren Interessen nachgehen möchten. Hierunter gibt es aktive und passive Musikhörer, ehemalige und aktive Instrumentalisten sowie solche, die musikalisch vor- und musikalisch unerfahren sind.
– Menschen, die sich aufgrund ihrer Handicaps und Sorgen in altersähnlichen Gruppen ihre Bedürfnisse erfüllen und Freude erleben möchten.
– Menschen, die nach Anregungen suchen, wie sie ihr Leben allein oder in der Gruppe angenehmer, freudvoller und abwechslungsreicher gestalten können.
Grundsätzlich zeigte sich in allen drei Gruppen, dass ältere Erwachsene einen hohen Selbstanspruch und daraus resultierend größere Versagensängste hatten. Der „Beschäftigungsstatus“ reichte von Voll-Berufstätigen, Frühpensionierten, Rentnern, Hausfrauen und -männern bis zu Menschen mit gesundheitlichen Handicaps. Die Freizeitbetätigungen der älteren Erwachsenen zum Zeitpunkt des Pilotprojekts bestanden aus Singen im Chor, Yoga, Fitness und Sport, Reisen, dem Kontakt mit Enkelkindern sowie der Nutzung allgemeiner kultureller Angebote (Theater- und Konzertveranstaltungen, Ausstellungen).

Erkenntnisse aus dem ­Pilotprojekt

Die älteren Erwachsenen zeigten Ansprüche und Erwartungen5
– an das Angebot: andere Lernatmosphäre, musikalische Aktionen, kein aufbauender Unterricht, interessante Vorträge, Musik „zum Anfassen“ erleben
– an sich selbst: eigene Fähigkeiten ent­decken, das Alter annehmen und schauen, was geht; entdeckendes Lernen praktizieren, Aktivitäten selbst planen, eigene Lernkonzepte entwickeln
– an das Programm: Geselligkeit und Austausch haben einen großen Stellenwert, nichts „Verschultes“; leichte Anforderung, kein strenges Curriculum
– an die Materialien: viele bildhafte Darstellungen, geringer Textumfang, große Schrift, klare Botschaften
– an das Musizieren: Wahl und Wechsel ­eines Schwerpunktinstruments sollten innerhalb des Programms möglich sein, im Ensemble musizieren und gemeinsam singen; möglichst rasch seinen Wunschtitel spielen, etwas über den Komponisten erfahren, das Original anhören und sich darüber austauschen
– an weitere inhaltliche Komponenten: moderierte „Fantasiereisen“ mit Musikunterstützung, kreatives Schreiben bzw. Malen, Rhythmus und Tanz, „Wellness“ mit Musik, Musik zum Mitspielen und Musizieren ohne häusliches Üben
– an die Rahmenbedingungen: bequeme Sitzplätze in ausreichender Zahl, Möglichkeiten zum Gespräch und Austausch untereinander, flexible Angebotszeiten.
Außer der Möglichkeit zum Erlernen der Instrumente Klavier, Keyboard, E-Gitarre, E-Bass, akustische Gitarre, Saxofon, Querflöte sowie von Popgesang wurden Vorträge oder Workshops zu folgenden Themen angeboten: „Musik hören – aber wie?“, „Gesungene Konflikte – Don Giovanni, ein Mann zwischen Himmel und Hölle“, „CD-Produktion heute – Wie kann ich mit einem Laptop CDs produzieren?“, „Drumsland – Geschichte und Funktion des Schlagzeugs“, „Von Orfeo bis Starlight Express – Entwicklung von Oper, Operette, Musical“, „Das Fundament – Kontrabass und Bassgitarre“, „Frühkindliche Musikalisierung – Wie lernen Kinder?“, „Malerische Fähigkeiten der Musik – Bilder vertonen“, „Gitarrenwelt – Wozu braucht man so viele verschiedene Gitarren?“
Was gefiel den Erwachsenen an den Vorträgen und Workshops?6
– die Themen
– die Vorträge der Gastdozenten
– die Nähe zu den Dozenten (praktisch zum Anfassen)
– die Möglichkeit, Fragen stellen zu können
– die Möglichkeit, ausprobieren zu können
– ernst genommen zu werden, egal wie „dumm“ die Frage ist
– das Aha-Erlebnis
– der Einsatz von Instrumenten oder der Stimme
– die einfache Orientierung im Notensystem
– die schnellen Erfolgserlebnisse
– der Spaß in der Gruppe

Bedeutsame Aspekte

– Programm: Das Programm für den Inst­rumentalunterricht sollte sich besonders für den Gruppenunterricht eignen und zusätzlich das Selbststudium fördern.
– Stundeneinstieg: u. a. mithilfe von Moderationsmethoden (Kartentechnik oder MindMapping), um die (Tages-)Bedürfnisse abzufragen.
– Gruppenarbeit: Alle zwei Wochen 90 Minuten Unterricht, aufgeteilt in 45-minütige Programmmodule, außerdem Probe­unterricht nach Bedarf zum Kennenlernen unterschiedlicher Instrumente; fünf bis zehn Minuten Konzertvortrag durch die Lehrkraft oder eine andere Fachkraft, Kom­munikation und Geselligkeit – sinnvoll und bedürfnisorientiert über die 90 Minuten verteilt. Zwischen den Terminen steht den Teilnehmenden idealerweise der Raum auch ohne Moderator(in) zur Verfügung.
– Gruppenleitung: weg von der Lehrerrolle, eher als Moderator, Coach, Begleiter, Berater, Kommunikator wirken; bedürfnisorientiertes Begleiten der Gruppe, zuhören können und dadurch helfen, Stimmungen aufzufangen und zu kanalisieren.

Konsequenzen für ­Musikschulen

Das Programm für die Musikvermittlung sollte im Schwierigkeitsgrad leicht ansteigendes Material anbieten und für Zusammenkünfte der Interessenten in regelmäßigen Zeitabständen konzipiert sein (wöchentlich oder 14-tägig). Bewährt haben sich Treffen mit Clubcharakter, das heißt, die Kommunikation unter den älteren Erwachsenen erhält einen größeren Stellenwert als bei herkömmlichen Unterweisungs- oder Unterrichtssituationen. Um dieses Anliegen zu unterstützen, kann die gemeinsame Zeit beispielsweise aufgeteilt werden in zwei Arbeitseinheiten mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und einer ausreichend bemessenen Pause dazwischen.
Auch Quereinsteiger finden leicht den inhaltlichen Anschluss an eine bestehende Gruppe, wenn die Lieder, Mitspielsätze und Klangspiele auch ohne Voraussetzungen musikalisch umsetzbar sind und das bereits Gelernte in den Ensembles regelmäßig gefestigt wird.
Die Musikvermittlungsangebote haben vielfach (wiedererwachende) Lebensfreude bei den Teilnehmern ausgelöst. Durch spezielle Angebote für Menschen ab der Lebensmitte erweitert sich der Kreis derjenigen, die ihr Leben mit Musik gestalten und bereichern können. Musikangebote für diese Altersgruppe steigern deren Lebensqualität und fördern die Teilnahme am öffentlichen Leben (Anschluss an Gruppen, Aufsuchen eines Treffpunkts ­außerhalb der eigenen Wohnung, Vorführung des Gelernten vor anderen).
Musikschulen sollten durch entsprechende Musikvermittlung künftig verstärkt heterogenen Bevölkerungsschichten unterschiedliche Wege zur Musik anbieten, Annäherung und Verständnis für Musik in ihrer Vielfalt bewirken. Es lohnt sich, ältere Menschen zu ermutigen, das eigene Musizieren, in welcher Form und auf welcher Fähigkeitsstufe auch immer, als selbstverständlichen Bestandteil ihres Lebens zu verstehen und ihnen eine Perspektive für eine sinnerfüllte Lebensgestaltung im Alter aufzuzeigen. Das Überleben der Musikschulen hängt u. a. davon ab, ob und wie sie es schaffen, verstärkt Angebote für ältere Erwachsene zu entwickeln. Denn diese werden in wenigen Jahren die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren.

1 Untersuchung „Kulturbarometer 50+“ des Zentrums für Kulturforschung.
2 vgl. Zentrum für Kulturforschung: „KulturBarometer 50+. Zusammenfassung von Ergebnissen der Repräsentativumfrage mit ersten Schlussfolgerungen“ (2007), siehe z. B. www.kulturvermittlung-online.de/pdf/kurztheseninfo.pdf (Stand: 23. Juli 2014).
3 vgl. Hans Hermann Wickel: „Bedeutung des Musizierens für ältere Erwachsene“, Luzern 2012, www.hslu.ch/download/m/forschung%5Cmusik-alter/m-musik-alter-2012-Wickel-ppt.pdf (Stand: 23. Juli 2014).
4 vgl. Asmus J. Hintz: „Wenn ältere Erwachsene zum Instrument greifen“, in: neue musikzeitung 4/2007, www.nmz.de/artikel/wenn-aeltere-erwachsene-zum-instrument-greifen (Stand:
23. Juli 2014).
5 Die hier geschilderten Ergebnisse sind nach wie vor gültig.
6 Die Reihenfolge der Nennungen gibt keine Priorität an.