Dahlhaus, Bernd

Eine stimmige Branche?

Für ein gutes Selbstmanagement der Instrumentalpädagogik. Selbstmanagement für Instrumental­pädagogen – Teil 4

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 5/2014 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

– Lehrer einer Musikschule gehen bewusst wert­schätzend miteinander um, besonders bei künstlerisch, pädagogisch und organisatorisch unterschiedlichen Auffassungen und Fähigkeiten.
– Eine Musikschulleiterin berichtet bei der monatlichen Musikschulleitersupervision von ihrer Selbsterkenntnis, in vielen Gesprächssituationen mehr auf ihre eigene Meinung fokussiert zu sein, statt wirklich offen und respektvoll mit den Mitarbeitern zu kommunizieren.
– Ein Regionalvorsitzender eines Dachverbands für Musikberufe erfüllt nicht nur zuverlässig seine Amtspflichten, sondern vermittelt den Mitgliedern seines Bezirks auch persönlich, in der Gemeinschaft willkommen zu sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Eingangsbeispiele beschreiben, wie wir uns unsere Berufspraxis wünschen. Selten werden solche Wünsche in dieser Weise in Gesprächen unter Lehrkräften, in Versammlungen oder Sitzungen wie auch in Fachzeitschriften konkret und detailliert formuliert. Unsere Wünsche und die dahinterstehenden Bedürfnisse sind leitend für ein gutes Selbstmanagement für Inst­rumentalpädagogen. In den vorangegangenen Beiträgen der Artikelreihe ging es um Ideen und Anregungen, wie der Einzelne denken und handeln kann, um seine Berufsqualität zu verbessern. In diesem Beitrag möchte ich die zentralen Merkmale eines guten Selbstmanagements1 auf das kollegiale Miteinander in der Instrumentalpädagogik beziehen.
Ich verstehe Musikschulkollegien, musik- und instrumentalpädagogische Interessenvertretungen, Vereine und (Berufs-)Verbände, Arbeits- und Projektgruppen als ­instrumentalpädagogische Systeme. Die Kommunikations- und Verhaltensmuster im Miteinander zeigen, wie ein solches System „tickt“: Wer spricht mit wem wie wann und wo worüber und welche offenen und verdeckten „Spielregeln“ im System gibt es (Sitzordnung, Rituale, Umgang mit Zeitdruck, Loyalitätserwartungen…)? Diese Muster können zum großen Teil durch Selbstbeobachtung und zusätzlich durch Rückmeldungen von außen bewusst gemacht und auf ihre Nützlichkeit (oder auch „Menschlichkeit“) hinterfragt werden.2 Einschränkende Muster lassen sich so nach gemeinsamer Absprache und mit entsprechender Einübung verändern.
Richten die Mitglieder eines Systems ihre Aufmerksamkeit auf die eigenen Muster des kommunikativen Umgangs untereinander, offenbaren sich im individuellen Erleben der Systemwirklichkeit bedeutsame Unterschiede: Einer „offiziellen Wirklichkeit“, der alle Systemmitglieder zustimmen „müssen“, weil es moralisch oder satzungsgemäß „richtig“ ist oder es sich dem Kodex des Systems entsprechend „so gehört“, steht häufig eine andere, vom einzelnen Mitglied individuell erlebte Wirklichkeit gegenüber. Diese ist weniger logisch-rational fassbar; häufig ist sie intuitiv mit einem Gefühl von Unstimmigkeit, mit einer individuell erlebten Dissonanz verbunden. Wenn beispielsweise ein Leiter einer Musikschule bekundet, dass ihm die fachlichen Ideen seiner Mitarbeiter am Herzen liegen, können die Mitarbeiter sein Verhalten ganz anders, nämlich als „irgendwie nicht stimmig“ erleben. Häufig werden diese inneren Dissonanzzustände aus Scham, Resignation oder sogar Furcht vor Sanktionen unterdrückt, sodass die dahinter liegenden Bedürfnisse nicht als wertvolle Informationen im System genutzt werden können. Auf diese Weise wird langfristig Potenzialentfaltung verhindert („Dienst nach Vorschrift“). Aus dieser Perspektive schätze ich, dass viele Musikschulen weniger als die Hälfte ihres „Leistungsvermögens“ umsetzen.
Die Informationen aus dem Dissonanz­erleben der Mitglieder sind ebenso wie die Erfahrungen, Ideen, Zweifel und Befürchtungen der Mitglieder Ressourcen, die im System vorhanden sind und zur Weiterentwicklung des Betriebsklimas und letztlich zur Existenzsicherung des Systems genutzt werden können.3 Stattdessen werden dem System von einer übergeordneten Entscheidungsebene (meist wissenschaftlich legitimierte) Maßnahmen, Konzepte, Projekte und Programme übergestülpt, das heißt mit finanziellen Ressourcen ausgestattet und zur Umsetzung verordnet, um so eine Systemoptimierung zu erreichen (Stichworte: „Qualitätsmanagement“, „Vernetzung“ und „Kooperationen“, „Breitenmusikalisierungsprogramme“, „Interkultureller Unterricht“ sowie jüngst „Inklusion“).

Musikförderung von innen

Die musikpolitischen Forderungen nach angemessener Vergütung von Instrumentallehrkräften, nach besserer Ausstattung der Musikschulen sowie nach einer musikpädagogisch seriösen Konzeption zur sinnvollen Ergänzung von schulischer und außerschulischer musikalischer Bildung sind ohne Zweifel wichtig und dringend. Dennoch ist anzunehmen, dass mit Erfüllung dieser Forderungen weder die Arbeitsqualität noch die Berufszufriedenheit von Inst­rumentalpädagogInnen automatisch und nachhaltig steigen würden. Eine (notwendige!) finanzielle Besserstellung der verschiedenen instrumentalpädagogischen Ar­beitsgebiete verbessert nicht per se die Beziehungs- und Kommunikationsqualität in deren Systemen. Diese Qualitäten sind aber Grundlage für Wohlbefinden, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit der Beteiligten. Die Beziehungs- und Kommunikationsmuster in instrumentalpädagogischen Systemen können bewusst gemacht werden, indem die Aufmerksamkeit u. a. auf folgende Aspekte gerichtet wird:4
– Inwieweit werden Prozessmuster im System (Kollegium, Verband, Arbeitsgruppe) gezielt und regelmäßig reflektiert und auf ihre gewünschten und unerwünschten Auswirkungen hin überprüft?
– Worüber und auf welche Art wird üblicherweise im System gesprochen? Worum „kreist“ das System? Worüber wird nicht gesprochen, welche Themen gelangen erst gar nicht in die Kommunikation?
– Welche Art von Rückmeldekultur wird im System gepflegt? Werden bewusst interne und externe Feedbackschleifen initiiert? Wo bestehen „blinde Flecke“ im System und wie wird mit ihnen umgegangen?
– Inwieweit werden die „offizielle Wirklichkeit“ und die individuell erlebten Wirklichkeiten im System abgeglichen? Werden individuelle Dissonanzzustände als Systemressourcen bewusst genutzt?
– Wird Vielfalt und Unterschiedlichkeit im Sinne einer „ertragenen Differenz“5 im System gewünscht oder (offen oder verdeckt) zu Einheitlichem reduziert?
– Wie werden Entscheidungen im System getroffen, legitimiert und kommuniziert?
– Wie wird Hierarchie im System gelebt? Welche Mustermerkmale zeichnen das (offene oder verdeckte) „Führen“ und das „Folgen“ im System aus?
– Wie wird im System mit Unsicherheiten, Ambivalenzen und Unentscheidbarem umgegangen?
– Welche offenen oder verdeckten Spiel­regeln gibt es zu Ritualen, Arbeitsabläufen und Verhaltensweisen aller Beteiligten?
– Was macht den Geist des Systems aus? Aus welchem Sinn speist sich das Miteinander („wofür?“) und wie wird das Bewusstsein dafür in der Alltagsroutine lebendig gehalten?

Künstlerisch-pädagogische Selbstanwendung

Mustertransfer
Die Fähigkeit, die beschriebenen Muster in instrumentalpädagogischen Systemen wahrzunehmen, sie reflektieren und verändern zu können, bestimmt nicht nur die Qualität im fachlichen Miteinander, sondern hat auch einen hohen Einfluss auf die Qualität des Unterrichtens. Ersetzt man in den vorangegangenen Reflexionsfragen das Wort System durch das Wort Unterricht, wird die Parallelität beider Bereiche deutlich: Sowohl bei einer Verbandsversammlung als auch im Unterricht wird mit ­Unterschiedlichkeit umgegangen, werden Entscheidungen getroffen und Hierarchie gelebt.
Die Prägung oder zumindest Beeinflussung des Unterrichtens durch Muster­erfahrungen in instrumentalpädagogischen Systemen wird weder von den Beteiligten in der Praxis noch von den meisten AutorInnen instrumentaldidaktischer Konzepte realisiert oder explizit berücksichtigt. Ein Transfer von Lernerfahrungen aus dem ­einen in den anderen Bereich könnte im Sinne einer angewandten Weiterbildung vielfältige Verbesserungen bewirken. Fachbereichskonferenzen würden so zum Übungsfeld für Gruppenunterricht, und Lehrkräfte würden im Umgang miteinander das (mehr) leben, was sie auch an ihre Schüler weitergeben möchten.

Das Künstlerische des Pädagogen
Die in den vergangenen 15 Jahren stark ausgeweitete „Breitenmusikalisierung“ in der Instrumentalpädagogik hat u. a. dazu geführt, dass in der Praxis viele Lehrkräfte primär mit unterrichtsmethodischen Aspekten und der Suche nach geeigneter Spielliteratur beschäftigt waren und sind – in der Hoffnung, damit die Anforderungen der (neuen) anspruchsvollen Arbeitskontexte bewältigen zu können. Hierbei gerieten übergreifende didaktische Aspekte sowie das genuin Künstlerische aus dem Blick. Das Künstlerische zeigt sich u. a. in einem stimmigen Selbstausdruck beim Musizieren und in einer fachlichen und persönlichen Reife im kommunikativen Austausch mit anderen.
Die Ausrichtung auf das Künstlerische sollte auch im einführenden Instrumentalunterricht Kern und Ziel instrumental­pädagogischer Bemühungen sein und zu einem wesentlichen Teil die berufliche Identität eines Instrumentallehrers ausmachen. Hier erleben Schüler häufig intuitiv an vielen InstrumentallehrerInnen einen Widerspruch zwischen dem, was der Lehrer im Unterricht als ihm (musikalisch) wichtig benennt (seiner Botschaft) und dem, was dieser Musiklehrer selbst musikalisch-künstlerisch verkörpert (seiner ­inneren Haltung). Wird ein Lehrer von Schülern als künstlerisch authentische Persönlichkeit erlebt, hat dies positive Auswirkungen auf die Unterrichtsqualität.

Musik für Worte
Instrumentalpädagogen bzw. deren Interessenvertreter, Funktionäre und Vorgesetzte weisen auf Probleme, Missstände und die dramatischen Folgen weiterer Finanzkürzungen in der Instrumentalpädagogik in der Regel mit Worten hin. Brandgespräche, Erklärungen und Petitionen sind als dringende Maßnahmen in den vergangenen Jahren ausgiebig und glücklicherweise oft erfolgreich getätigt worden. Dennoch: Forderungen zu stellen – so berechtigt diese auch sind –, ist musikpolitisch keine große Kunst (mehr). Ergänzend könnten Instrumentalpädagogen das eigene Medium nutzen, um auf ihre Anliegen und auf das, worum es beim Musizieren(lernen) geht, aufmerksam zu machen. So könnten sich zum Beispiel Instrumentalpädagogen zusammentun, um gemeinsam eine Veranstaltung zu entwickeln, welche die vielfältigen Perspektiven des Musiklehrerberufs zum Inhalt hat.
Musiklehrkräfte könnten ein kreatives, kritisches, vielleicht auch ein bisschen selbstironisches und vor allem für Zuhörer attraktives abendfüllendes Programm gestalten, mit dem sie künstlerisch auf (ihre) Probleme im Unterricht und im Beruf hinweisen und gleichzeitig für sich und das Musizieren werben. Und sofern sie die dafür notwendige Zeit und Energie nicht als zusätzlichen beruflichen Arbeitsaufwand betrachten, sondern Freude an dieser Art Kreativität haben, könnten die Beteiligten ihre eigene musikalische und kollegiale Begeisterung wieder (oder mehr) ausleben. Zusätzlich hätte solch ein Projekt vielfältige weiterbildende Aspekte.

Selbst- und Systemmanagement

Mittlerweile weist auch die wissenschaft­liche Musikpädagogik darauf hin, dass die inneren Ressourcen des Instrumentalpädagogen einen entscheidenden Einfluss auf gelingenden Unterricht haben. In der Literatur finden sich hierzu Konzeptbegriffe wie Selbstkompetenz, Selbstmanagement, Empowerment und andere. In einer Forschungsstudie mit dem Titel „Individuelle Förderung im instrumentalen Gruppenunterricht. Ein Aspekt von Lehrendenkompetenzen im Programm ‚Jedem Kind ein Instrument‘“ empfehlen Thomas Busch und Ulrike Kranenfeld, „durch Aus- und Weiterbildung zur Förderung von Selbstwirksamkeitserwartungen von Lehrenden beizutragen“.6 Die Aussage entspricht dem Trend, der seit einigen Jahren in vielen Bereichen der Gesellschaft zu beobachten ist. Hierbei wird angestrebt, sich sowohl im Beruf, in Fragen der Gesundheit, der Gestaltung von Beziehungen und der eigenen Identität selbst zu optimieren und dazu innere Ressourcen nicht nur zu nutzen, sondern auf Effizienz zu trimmen.7 Will der Einzelne seine Überlebenschancen verbessern, muss er das Letzte aus sich herausholen.
Unterschwellig bürden wir uns dadurch gegenseitig die Verantwortung für Wohlbefinden, Glück und Erfolg auf und erwarten vom Einzelnen Willenskraft und den Glauben an eine grundsätzliche Machbarkeit. Auf diese Weise verlieren wir aus den Augen, dass wir die Gemeinschaft brauchen, um überleben zu können, dass nur in einem guten Miteinander die Möglichkeiten zu einer Weiterentwicklung vorhanden sind. Für die Instrumentalpädagogik bedeutet dies, dass sich Musiklehrer einerseits um ihr persönliches Selbstmangement kümmern und andererseits gleichzeitig auf ein gutes Management in den ­instrumentalpädagogischen Systemen achten sollten. Eine wirkliche Verbesserung der Berufsqualität gelingt nur in der Verbindung beider Bereiche und wenn diese Erkenntnis Auswirkungen auf die Aus- und vor allem die Weiterbildung von Inst­rumentalpädagogInnen hat.

1 Als Stichpunkte seien genannt: Selbstbeobachtung und -reflexion, Selbstregulation und Kompetenzerleben. Siehe den Beitrag „Der Musiklehrerberuf als Passion?!“ in: musikschule )) DIREKT. Supplement zu üben & musizieren 6/2013, S. 7-9.
2 vgl. Fritz B. Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, Heidelberg 2006.
3 s. hierzu auch die Beiträge „Plädoyer für die Zwickmühle“ in: musikschule )) DIREKT. Supplement zu üben & musizieren 1/2014, S. 6-8 und „Leidige Gewohnheiten verändern. (Wie) Geht das im Instrumentalpädagogikberuf? in: musikschule )) DIREKT. Supplement zu üben & musizieren 3/2014, S. 10-12.
4 vgl. Fritz B. Simon: Einführung in die systemische Organisationstheorie, Heidelberg 2007.
5 Hans Joas: „Die kulturellen Werte Europas. Eine Einleitung“, in: ders./Klaus Wiegand (Hg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 2005, S. 11-39.
6 in: Andreas Lehmann-Wermser/Martina Krause-Benz (Hg.): Musiklehrer(-Bildung) im Fokus musik­pädagogischer Forschung, Münster 2013, S. 99-115.
7 vgl. das Kapitel „Vom Wertewandel zum Werte­sampling“ in: Heiner Barz/Wilhelm Kampik u. a.: Neue Werte – Neue Wünsche. Future Values. Wie sich Konsummotive auf Produktentwicklung und Marketing auswirken, Düsseldorf 2001, S. 69-94.