Gretsch, Stefan

Berliner Musikschule

Berlin ist das einzige Bundesland, das seine Musikschullehrkräfte generell mit sozial und finanziell unwürdigen Honorarverträgen abspeist. Blaupause für die Republik?

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 5/2013 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Die deutsche Musikschullandschaft ist zumindest in Europa einzigartig. Nirgendwo anders gibt es so viele gleichermaßen auf hohe Qualität wie auf Flächendeckung und musikalische Breitenbildung angelegte Musikschulen wie hierzulande. Ihre Geschichte, ihre Impulse verdanken sie dabei von Anbeginn der jeweiligen Berliner Situation, in der Weimarer Republik ebenso wie in der Zeit des Naziterrors oder der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg – in guten wie in schwierigen Phasen.
Seit der Nachkriegszeit wird in Berlin ein Modell praktiziert, das Anlass zu größter Sorge bietet und aktuell sogar zu bundesweiter Fassungslosigkeit und Empörung führt. Berlin ist das einzige Bundesland, das seine Musikschullehrkräfte generell mit sozial und finanziell unwürdigen Honorarverträgen abspeist.
Eine Bereitschaft der Landesregierung zum längst überfälligen Umsteuern ist nicht erkennbar. Da dies durchaus erneut erheb­lichen Einfluss auf die Entwicklung in Deutschland haben kann, sei zunächst ein Blick auf die Geschichte der Musikschulen vorangestellt.

Erziehung zur Menschlichkeit durch Musik (Leo Kestenberg)

Weimarer Republik
Die Gründung der Musikschulen in Deutschland geht zurück auf den Pianisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter Leo Kestenberg. Er verfolgt einen strikt volkspädagogischen Ansatz, der unter Einhaltung der Balance zwischen Elite- und Breitenkultur auf die Zugänglichkeit von Bildungsangeboten für alle gesellschaftlichen Schichten gerichtet ist. Er ist es, der in der später nach ihm benannten „Kestenbergreform“ den modernen Typus der Musikschule allererst begründete.

1945 – 1990
In der Zeit der Teilung haben sich die Musikschulen in den beiden deutschen Staaten sowie in West-Berlin sehr unterschiedlich entwickelt. Alle drei begannen mit dem Aufbau von (Volks-)Musikschulen in den 50er Jahren.
In der DDR und Ost-Berlin sind die Musikschulen zunächst ganz im Kestenberg’schen Sinne auf Volksbildung angelegt. Seit 1961 wird dann stärkeres Gewicht auf die Eliteförderung gelegt. Durch eine Verzahnung von Schule, Krippe und bezirklichen Musikschulen bleibt der Breitenaspekt dennoch erhalten.
In der BRD richten die Kommunen seit den 50er Jahren, insbesondere in den 60er Jahren, eigene Musikschulen und Volkshochschulen (VHS) ein. Sie sind wesentlich auf Breitenbildung bedacht und sichern die Begabtenförderung mit den ­Mitteln besonderer Entgelt-Ermäßigungen und der Einrichtung von studienvorbereitenden Abteilungen. Aufgrund der föderalen Bildungsstruktur entwickeln sich die Regionen dabei recht unterschiedlich.
In beiden deutschen Staaten sind die Musikschulen kommunale bzw. bezirkliche Einrichtungen, ausgestattet mit festangestellten Musikschullehrkräften und mehr oder minder verbindlichen pädagogischen Konzepten.

Der Berliner Sonderweg: freie Unternehmer statt ­Angestellte

Die Entwicklung in West-Berlin
1950 – 1979
Die Musikschule ist hier lediglich eine Untereinheit der VHS und hat keine eigene, schultypische Struktur. Die Lehrkräfte werden wie alle Dozenten der VHS nur freiberuflich beschäftigt. Sie bekommen auf Grundlage eines Vermittlungsvertrags mit dem Bezirk, in dem auch das Honorar festgelegt ist („Honorarbegrenzungsklausel“), Schüler sowie „nach Möglichkeit“ Unterrichtsräume.
Die Lehrkräfte kassieren ihr Honorar direkt bei den Schülern, mit denen sie einen vorgeschriebenen Mustervertrag abschließen. Entgelt-Ermäßigungen für SchülerInnen, die der Bezirk gewährt, sind beim Kassieren abzuziehen und werden der Lehrkraft einmal im Quartal vom Bezirksamt gesondert erstattet.
1979 wird innerhalb der Abteilung Volksbildung die Musikschule aus der VHS ausgegliedert und als Amt eingerichtet, mit eigener Leitung und Verwaltung. Die Ausstattung mit adäquaten Unterrichtsräumen und Gebäuden ist berlinweit sehr unterschiedlich. Im Regelfall findet der Unterricht nach Schulschluss in Klassenräumen der allgemein bildenden Schule oder zuhause bei den LehrerInnen statt.

1980 – 1990
1980/81 wird in Folge eines Gerichtsentscheids der Vermittlungsvertrag durch einen „Dienstvertrag“ ersetzt.1 Er ist seit 1981 im Kern bis heute Grundlage für die Tätigkeit der nicht angestellten „Freien Mitarbeiter“.
Der neue Vertrag regelt im Wesentlichen Honorarhöhe, Schülerzuweisung und Modalitäten zum Nachholen von ausgefallenem Unterricht. Er ist zweimal im Jahr mit einer Frist von einem Monat kündbar. Die SchülerInnen schließen einen Unterrichtsvertrag mit der Musikschule ab.
Für Fachbereichs- und Ensembleleitungen sowie andere zentrale Aufgaben der Musikschule werden einige wenige feste Stellen geschaffen, das Gros der Lehrkräfte jedoch (90 Prozent) bleibt Honorarkraft. Das Honorar wird in Anlehnung an den BAT berechnet und ganzjährig monatlich bezahlt.2 Seit Mitte der 80er Jahre wird es zudem an die Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst gekoppelt (Dynamisierung). Mit der Gründung der Künstlersozialkasse 1983 wird auch eine freiwillige Fortzahlung im Krankheitsfall in Höhe von 80 Prozent des Honorars ab dem vierten Krankheitstag eingeführt.
Sozialer Schutz, wie ihn Festangestellte ha­ben (Mutterschutz, Kündigungsschutz, Ar­beitslosenversicherung, vollständiger Krank­heitsschutz) bleibt ihnen bis auf den heutigen Tag verwehrt. In der irrigen Annahme, das Land werde ihre Situation stetig verbessern und auf Bundesniveau führen, binden sie sich freiwillig ein in den „Betrieb“ Musikschule und leisten – in der Regel unentgeltlich – einen enormen Beitrag zum Aufbau der Westberliner Musikschulen.

1990 – 2008
Seit der Wiedervereinigung 1990 werden die Ostberliner Musikschulen rasch auf das Westniveau gesenkt, die vergleichsweise hohe Stellenausstattung wird durch Honorarbeschäftigungsverhältnisse ersetzt. Meh­rere Anläufe zu einem Bezirksausgleich, wonach unter anderem Stellen aus dem Osten in den Westen transferiert werden sollen, scheitern weitgehend.
1995 werden die Honorare abgesenkt, der direkte Bezug zum BAT wird gestrichen, die Dynamisierung wird erst ausgesetzt und dann bis heute nur sehr eingeschränkt wieder eingeführt. In der Rückschau wissen wir, dass spätestens zu diesem Zeitpunkt für die überwiegende Zahl der Berliner Honorarkräfte der Abstieg in das Prekariat einsetzt.3
2001 werden die 23 Berliner Stadtbezirke zu 12 Bezirken fusioniert. Die Musikschulen werden dadurch zu den mit Abstand größten Musikschulen Deutschlands. Auf Landesebene werden sie innerhalb der Senatsbildungsverwaltung von der Abteilung Schule in die Abteilung Weiterbildung und damit wieder in die Nähe zur VHS geschoben. Nach fast 30 Jahren Eigenständigkeit muss die Musikschule seitdem erneut erklären, warum sie keinesfalls nach den Maßstäben der VHS strukturiert und verwaltet werden kann.
Wenige Jahre später werden Musikschulen und Volkshochschulen im Berliner Schulgesetz (§§ 123, 124) neu verankert. Grundsätzlich wird ab jetzt für Musikschullehrkräfte der Abschluss eines adäquaten Hochschulstudiums vorausgesetzt.

2009 – 2013
Trotz der Aufwertung durch die Neufassung des Schulgesetzes setzt nun jene Entwicklung ein, die aktuell für allgemeine Empörung und Proteste sorgt. 2009 werden an der bezirklichen Musikschule Marzahn-Hellersdorf auf Veranlassung der zuständigen Amtsleiterin und zum Entsetzen des ganzen Landes zeitgleich sämtliche Honorarverträge gekündigt. Die Gründe sind unklar, das Wort von der Säuberungsaktion geht um in der Stadt. Aufgrund landesweiter Proteste werden die meisten Ho­norarkräfte jedoch wieder beschäftigt.
Im Jahr darauf prüft die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) überraschend diese Schule. Nach Darstellung des Senats kommt die DRV dabei zu dem Ergebnis, dass die Honorarkräfte scheinselbstständig, also faktisch wie Angestellte tätig seien. Hauptmerkmale seien dabei unter anderem die Honorarfortzahlung im Krankheitsfall sowie die Bezahlung in pauschalen Monatshonoraren. Das Land sei nun gezwungen, binnen angemessener Frist diesen Zustand abzustellen. Andernfalls drohten dem Land und den Lehrkräften erhebliche Nachforderungen zu Rentenbeiträgen. Die Korrespondenz zwischen DRV und Senatsbildungsverwaltung wird dabei beharrlich weitestgehend unter Verschluss gehalten.
Die in der Senatsbildungsverwaltung für die Musikschulen zuständige neue Leiterin des Referats Weiterbildung wird mit der Neufassung der Ausführungsvorschriften (AV) für die Musikschulen beauftragt. Die Neue ist keine Unbekannte. Der Zufall will es, dass die Amtsleiterin aus Marzahn-Hellersdorf zwischenzeitlich in die Senatsebene aufgestiegen ist. Es sei nun strikt ­darauf zu achten, dass die Honorarkräfte zweifelsfrei als freie Unternehmer tätig sind. Dazu gehöre, dass nur tatsächlich erbrachte Leistungen und Zusatzleitungen bezahlt werden.
Der erste Entwurf der Senatsbildungsverwaltung folgt diesem Grundsatz konsequent: Die Fortzahlung im Krankheitsfall wird abgeschafft, durch Schüler verursachte Unterrichtsausfälle unterliegen nun einer Nachholverpflichtung bzw. werden nicht bezahlt. Zusatztätigkeiten (Abnahme von Prüfungen, Fachberatung, Elternberatung, Teilnahme an Konferenzen, Beteiligung an der gesetzlich vorgeschriebenen Evaluation und vieles mehr) können die Lehrkräfte nun in Rechnung stellen. Allerdings empfinden sie den Rahmen von 7,50 Euro bis maximal 10,74 Euro pro Stunde vor dem Hintergrund ihrer Ausbildung und Qualifikationen als einen Schlag ins Gesicht.
Für sämtliche Tätigkeiten muss ein schriftlicher Auftrag der Musikschule vorliegen, die Erfüllung der Aufträge ist von den Lehrkräften einzeln nachzuweisen und monatlich in Rechnung zu stellen.
Aufgrund massiver Interventionen von verschiedenen Seiten wird dann „nachgebessert“: Die Nachholverpflichtung wird eingeschränkt, aber nicht aufgehoben, monatliche Abschlagszahlungen werden in Aussicht gestellt. Die Einzelstundenabrechnung jedoch bleibt, mit der Folge beiderseits erheblich höheren Verwaltungsaufwands. Zudem entsteht den Honorarkräften ein neuer Einkommensverlust durch den Wegfall einiger bezahlter gesetzlicher Feiertage sowie durch die nun um bis zu 19 Monate verzögerte Anpassung an Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst.
Die größte Überraschung: Die von der Deut­schen Rente hart kritisierte Fortzahlung im Krankheitsfall ist nun doch wieder drin und angeblich von der DRV akzeptiert.

Der aktuelle Stand

August 2012: Die neuen Ausführungsvorschriften treten in Kraft und sollen bis spätestens April 2013 konkret umgesetzt werden. Die LehrerInnen erklären, den damit verbundenen neuen Vertrag nicht unterschreiben zu wollen. Der Senat setzt die Bezirke unter Druck, die bestehenden Vertragsverhältnisse mit den Lehrkräften zu kündigen und gegebenenfalls den SchülerInnen Ersatzlehrer anzubieten. Die landesweite Empörung hält seitdem unverändert an. Wegen eklatanter Verfahrensprob­leme wird die Umsetzungsfrist verlängert. Im April und Juni 2013 veranstalten die Lehrkräfte große Demonstrationen. Das Medieninteresse wächst. Im August 2013 können die neuen Ausführungsvorschriften technisch noch immer nicht umgesetzt werden.
Ein großer Teil der Lehrkräfte hat die Verträge inzwischen unterschrieben, jedoch schriftlich erklärt, dies unfreiwillig unter Druck getan zu haben. Schülern und Eltern, deren Lehrer gekündigt sind, werden nun Ersatzlehrer angeboten. Die meisten lehnen dies in Protestschreiben empört ab, sie wollen ihre LehrerInnen behalten.
Politisch verantwortlich sind der Regierende Bürgermeister, der Finanzsenator, die Schulsenatorin und der zuständige Staatssekretär – allesamt in der SPD. Sowohl die Schaffung von Stellen als auch der Abschluss eines Tarifvertrags sind für sie ­Tabuthemen. Die dramatischen Einkommensverluste der LehrerInnen hält der Staatssekretär für „überschaubar“.
Sämtliche Appelle und Aufforderungen zum Ein- und Umlenken seitens der Fachverbände, des Deutschen Musikrats, der Hochschulen und der großen Berliner Kultureinrichtungen – Philharmonie, Konzerthaus, Opernhäuser und rbb, Rundfunk Orchester und Chöre GmbH (roc berlin) – werden nicht einmal beantwortet. Selbst eindeutige Parteitagsbeschlüsse der eigenen Landes-SPD finden keine Beachtung. Die über Jahre allen Widrigkeiten zum Trotz gewachsenen Strukturen werden zerstört, erfolgreiche Teams befinden sich in der Auflösung und die Musikschulverwaltungen werden in unverantwortlicher Weise überlastet.
Ende August 2013: Weil auch in anderen Bundesländern der Trend zur Abschaffung von Stellen zunimmt, ist die Gefahr groß, dass das Berliner Modell als „erfolgreiche“ Blaupause dienen wird. Deshalb kämpfen Lehrkräfte, SchülerInnen und Eltern auch weiterhin für eine schnellstmögliche Abkehr vom eingeschlagenen Weg.

1 siehe auch Artikel des Autors unter www.nmz.de/artikel/kommunen-hoert-die-signale
2 Die Monatshonorare errechnen sich auf der Grundlage eines festgelegten Stundensatzes und angenommenen 39 Unterrichtswochen im Jahr. Honorarkräfte, die nach dem Gesetz arbeitnehmerähnlich sind, erhalten zusätzlich ein Urlaubsentgelt im Wert von derzeit vier Wochen gesetz­lichen Mindesturlaubs.
3 bundesweit durchgeführte Umfragen zur finan­ziellen und sozialen Situation der Fachgruppe Musik in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in den Jahren 2008 und 2012 unter http://musik.verdi.de/suche?kws%3Alist=Umfrage