© Andrea Holzer-Rhomberg

Holzer-Rhomberg, Andrea

Lisas Traum

Entwicklung einer Klanggeschichte im Violin-Gruppenunterricht

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 2/2020 , Seite 26

„Dürfen wir auch auftreten?“, fragten mich die Mädchen meiner Geigen­gruppe mit leuchtenden Augen, als sie vom Termin des Klassenkonzerts erfuhren. Die fünf Mädchen waren zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt und hatten gerade einmal die ersten paar Wochen Instrumental­unterricht hinter sich.

Obwohl die Kinder bereits viel gelernt hatten, waren sie noch einige Schritte davon entfernt, ein Lied im traditionellen Sinn vorzuspielen – mit Streichen und Greifen von Tönen auf dem Griffbrett, so wie sich das ein Elternpublikum im Allgemeinen vorstellt. Keinesfalls jedoch wollte ich die große Begeisterung der Kinder bremsen, und so überlegte ich, wie die jungen Geigerinnen jene Fertigkeiten, die sie bereits beherrschten, einem Publikum präsentieren könnten. Ich beschloss, mit den Kindern gemeinsam eine Klanggeschichte für ihren Auftritt zu entwickeln.

Auf Klangsuche

Die Mädchen waren gleich ganz angetan von dieser Idee. Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, eine Klanggeschichte zu entwickeln: Man kann eine bereits bestehende Geschichte erzählen und zu den einzelnen Handlungsabschnitten bzw. „Bildern“ der Geschichte passende Klänge erfinden.
Es besteht aber auch die Möglichkeit, eine Bestandsaufnahme der bereits erlernten musikalischen und instrumentalen Fähigkeiten vorzunehmen und um diese herum eine eigene Geschichte zu kreieren. Die zweite Möglichkeit erschien mir in diesem Fall sinnvoller. Also regte ich die Kinder dazu an, sich zu überlegen, was sie bereits alles gelernt hatten und was davon sie in ihre Geschichte einbauen wollten.
Die Kinder begannen, alles aufzulisten, was sie bereits gut beherrschten. Dazu gehörten spieltechnische Fertigkeiten wie Zupfen und Streichen auf leeren Saiten, Oktav-Flageoletts und Flageolett-Glissandi, Tremoli usw., aber auch allgemeinmusikalische Inhalte wie das Metrum zu spüren, mit rhythmischen Bausteinen zu experimentieren, hohe und tiefe Töne zu erkennen und zu erzeugen. Nun überlegten wir gemeinsam, was für Klänge und Geräusche uns sonst noch zur Verfügung stehen könnten: Vom Streichen hinter dem Steg über Klopfen mit den Fingern auf dem Korpus der Geige bis hin zum Stampfen auf den Boden reichte die Palette der zusätzlichen Ausdrucksmöglichkeiten.
Nach dieser Bestandsaufnahme entschieden wir uns dafür, die folgenden musikalischen und spiel­technischen Aktionen in unsere Geschichte aufzunehmen:
– Metrum spüren: sich zu einer Klavierbegleitung im passenden Tempo bewegen bzw. im passenden Tempo dazu spielen.
– Streichen an verschiedenen Bogen- und Kontaktstellen mit unterschiedlich langen Bogenstrichen; Tremolo leise und laut.
– Streichen und zupfen verschiedener Rhythmen. Die Kinder kannten bis dahin Halbe ­Noten, Viertel- und Achtelnoten sowie Pausen. Bei den rhythmischen Bausteinen beschränkten wir uns auf diese vier: ta-ta wie Eis-bär, ta-ti-ti wie Schild-krö-te, ti-ti-ta wie Pa-pa-gei und ti-ti-ti-ti wie Klap-per-schlan-ge.


– Verschiedene Tonhöhen erzeugen: höhere Töne (Oktav-Flageoletts) und tiefere Töne (lee­re Saiten) abwechselnd spielen; Glissandi übers ganze Griffbrett im Flageolett oder mit einem gegriffenen Ton.
– Geräusche: auf den Korpus klopfen; schrille, spitze Töne hinter dem Steg streichen; „quietschende“ Töne durch kleine Aufwärts-Glissandi am oberen Ende des Griffbretts erzeugen; mit dem Fuß stampfen.

Fantasie gefragt!

Im nächsten Schritt gingen wir daran, eine Geschichte um diese musikalischen Aktionen herum zu entwickeln. Dabei halfen uns folgende Fragen: Woran erinnern uns diese Klänge? Was könnten sie darstellen? Worum soll es in unserer Geschichte gehen? Wer soll in dieser Geschichte vorkommen? Was passiert alles in dieser Geschichte?
Wir wählten für unsere Geschichte das Thema Traum. Die Protagonistin sollte ein Mädchen namens Lisa sein (mit dem sich meine jungen Schülerinnen identifizieren konnten), das in seinem Traum die abenteuerlichsten Dinge erlebt. Außerdem sollten die vier Tiere aus Abbildung 1 darin vorkommen, die die Mädchen gerade im Zusammenhang mit den rhythmischen Bausteinen kennengelernt hatten. So wird Lisa z. B. von einer Windböe davongetragen und reist auf diese Weise bis in den hohen Norden, wo die Schneeflocken tanzen. Dort begegnet sie einem gut gelaunten Eisbären, der sie fröhlich mit seinem Song begrüßt. Auf ihrer weiteren Reise, die sie anschließend in südlichere Gefilde führt, begegnet sie dem gelbgrünen Papagei, der hoch in einer Baumkrone sitzt, das rege Treiben im Urwald beobachtet und die Urwaldbewohner vor Gefahren beschützt.
Nachdem wir uns die Geschichte bis in alle Einzelheiten ausgemalt hatten, erfanden wir ein „Traumliedchen“, das den Rahmen bildete. Es kam in der Einleitung vor und wurde zum Schluss noch einmal vorgetragen. Bei der Aufführung wurde die Geschichte von mir vorgelesen und die Musik an den passenden Stellen gespielt. Die Geigenstimmen der Stücke habe ich mit den Kindern gemeinsam erarbeitet und anschließend noch eine Klavierbegleitung dazugeschrieben.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2020.