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Mitrovski, Marina

„Das ist noch zu schwer für dich!“

Unterschiedliche Sichtweisen auf Ansprüche von Musikstücken

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2020 , Seite 16

Jedes Musikstück bringt einen eigenen Anspruch mit sich. Doch die An­sprüche von außen, die SpielerInnen, Lehrende oder auch ZuhörerInnen Stücken ­auf­erlegen, können die Anforderungen an das Musizieren fast unbegrenzt ­ausweiten. Für wen ist also was wann und warum schwer?

Neben der Komposition selbst wirken der Ausbildungsstand des jeweiligen Musikers oder der Musikerin, individuelle Vorstellungen von gutem und schlechtem Musizieren sowie weitere Faktoren in die Art, wie man ein Stück wahrnimmt, hinein. Dadurch können Missverhältnisse zwischen der Musik und einem Druck von außen entstehen, die nicht nur das eigene Spielerlebnis sowie Erfolgsempfinden beeinflussen, sondern auch zu Spannungen im Unterricht oder zu Barrieren beim Lernen führen.

Schwierigkeiten von Stücken

Anforderungen von Kompositionen, eigenes Ermessen, öffentliche Wahrnehmung – alles fließt in Auffassungen ein, welche Schwierigkeiten Stücke haben. Zunächst der Notentext: Er enthält alle kompositorischen Besonderheiten des Werks, welche die internen Anforderungen eines Musikstücks bilden. Darüber hinaus braucht jede Komposition einen Interpreten. Daraus resultieren die externen Ansprüche von Stücken: die benötigte Spieltechnik und das Ausdrucksvermögen eines Menschen. Strukturelle Aspekte wie Einfachheit und Symmetrie bzw. Kompliziertheit und Unregelmäßigkeit in musikalischer Gestalt, welche die Wahrnehmung und Verarbeitung musikalischer Reize erleichtern bzw. erschweren,1 oder Schwierigkeiten bezüglich der Rhythmik stellen Anforderungen an analytische Fertigkeiten. Des Weiteren haben Stücke stilistische Anforderungen. Kompositionstechnische Regeln und Strukturen spiegeln den Gestus einer Epoche, die in der Musik wie auch in der anzuwendenden Technik zum Tragen kommen.
Je komplexer die Komposition, desto mehr Fähigkeiten und Fertigkeiten verlangt sie, sodass sie als entsprechend schwer eingestuft wird. Im einzelnen Fall bestimmt das Verhältnis von Notentext und Lernstand den individuellen Schwierigkeitsgrad und die damit einhergehenden Anforderungen. Gestalte­ri­sche und technische Ansprüche können dabei durchaus unterschiedlich aufgefasst werden. Vor allem komplexe Stücke verleiten dazu, sich besonders auf die Technik zu fokussieren, auch wenn gerade die Möglichkeiten im interpretativen Potenzial fast unbegrenzt sind.2 Das Spektrum der Anforderungen weitet sich derart, dass beispielsweise ein Andante von Mozart für junge KlavierspielerInnen vielleicht ein gut zu erarbeitendes Stück ist, dasselbe Stück für manchen fortgeschrittenen Klavierstudenten aber sehr diffizil erscheint. Aufgrund der Einfachheit in Form und Tonvielfalt in Kombination mit einem hohen Ausbildungsstand entsteht hier der Anspruch, durch Perfektionierung eines durchsichtigen Klangs jedem Ton in seiner Bedeutung gerecht zu werden. Das zeigt die Relativität von Ansprüchen aufgrund individueller Ansichten und Fähigkeiten des einzelnen Spielers. Lern- und Könnensstand beeinflussen also die eigenen Ansprüche.
Somit stellt sich die Frage: Für wen ist was wann und warum schwer? Es wäre proble­ma­tisch, würde man in der musikpädagogischen Praxis versuchen, den Anspruch eines Musikstücks vom Anspruch des Schülers zu trennen. Beide bilden eine unlösbare Kons­tel­la­tion.

1 vgl. Heiner Gembris: „Musikalische Präferenzen“, in: Rolf Oerter/Thomas Stoffer (Hg.): Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D, Band 2: Spezielle Musikpsychologie, Göttingen 2005, S. 279-332, hier: S. 302 f.
2 vgl. Klaus Wolters: Handbuch der Klavierliteratur, Band 1, Zürich 1967, S. 12.

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