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Gagel, Reinhard

Klang als Zeichen

Kollektives Komponieren im Live-Prozess

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2020 , Seite 18

Ich untersuche hier, wie musikalische Struktur im Live-Prozess adhoc, also ohne Vorplanung, componiert1 wird. Componieren als kollektive ­Kompo­sition ist Handeln von vielen, um musikalisches Material im Verlauf einer Performance zu Strukturen zu ordnen (zusammenstellen = komponieren). Das geschieht durch Kommunikationsprozesse, in denen Klang und Form­elemente als Zeichen miteinander ausgetauscht werden und zur Verständigung über die jeweilige Formbildung dienen.

MusikerInnen müssen für solche Kommunikationsprozesse soziale Fertigkeiten (Empathie, Akzeptanz, Achtsamkeit), kommunikative Fähigkeiten (hören, zuhören, interagieren) und kombinatorische Strategien (Zeichen lesen und neu zusammensetzen) erbringen. Durch originelle Spielweisen, Intensität des Spielens und Offenheit des Spielvorgangs können besondere, einmalige Spiel- und Klangqualitäten entstehen. Die Adhoc-Situation erzeugt spontane Emergenz von Formen: Was entstehen wird, ist unvorhersehbar. Dennoch kann es durch geeignetes methodisches Vorgehen in Probe und Unterricht vorbereitet und unterstützt werden.

Kollektives schöpfe­risches Arbeiten

Mit anderen Menschen zusammen musikalisch schöpferisch zu sein, widerspricht der Anschauung des autonom schaffenden Künstlers (als Genie), der frei von äußeren Einflüssen sein soll. Ein Stück „nur aus sich heraus“ selbst zu komponieren, beweist die eigene Originalität, macht das Stück zum Eigentum des Künstlers; ein Werk in der „Fassung letzter Hand“ ist sein Markenzeichen. Darauf beruht die Kompositionsidee westlicher Musik.

Einem anderen mit seiner eigenen Originalität Platz zu geben, verlangt, dass ich mich selbst flexibel und ­akzeptierend verhalte.

Es gibt in der Tat sehr wenige komponierende Kollektive. Einem anderen mit seiner eigenen Originalität Platz zu geben, verlangt, dass ich mich selbst flexibel und akzeptierend verhalte. Zwei monologisierende KünstlerInnen werden keine kollektive Komposi­tion erstellen. Es bedarf eines ziemlichen Muts, in so feinen Prozessen wie dem künstlerischen Arbeiten einander zu begegnen, um etwas geschehen lassen zu können, was im besten Sinne nicht nur eine Ergänzung, sondern geradezu ein Ineinander-Aufgehen verlangt. Bruce E. Benson bezeichnet das als „Horizont-Verschmelzung“.2 Zwar besteht die Gefahr, dass das Originelle des Einzelnen in diesem kollektiven Prozess verloren geht. Genauso gut aber kann kollektives Arbeiten ein großer Gewinn sein, weil man erlebt, wie man miteinander schwingt und über sich selbst hinauswächst.
Mit kollektiver Kreation meine ich hier das öffentliche, für alle hörbare Componieren als Performance. Der schöpferische Vorgang ist für die MusikerInnen wie auch für das Publikum ein Live-Prozess, dessen Charakter sehr vom Dialogischen bestimmt ist. Wir gehen mit dem Medium Musik um, das Interagieren im Zusammenspielen ermöglicht und dadurch eine klingende Struktur schafft. Musik ist Gemeinschaftserfahrung, sowohl im Strukturellen, in den verschiedensten Besetzungsformen, als auch im Kontakt mit einem Publikum.
Das meint allerdings nicht bloß das Finden von Lösungen in einer Gruppe, die dann zu einem Werk, das später zu hören ist, zusammengetragen werden (in der Art von Teamwork). Hier befinden wir uns immer in der Situation: Handeln = Ergebnis. Alles was geschieht, ist das einzige, was geschehen kann. Das hat mit dem Zeitpfeil musikalischer Prozesse zu tun, der nie rückläufig ist. Man kann nichts rückgängig machen oder verbessern.

Interagieren

Intention des Componierens ist, ein Stück zu erschaffen und zum Klingen zu bringen. Was aber soll das für ein Stück sein? Es ist eher ein Prozess, der erst durch Spielen selbst entsteht. Wie wissen die SpielerInnen, woran sie gerade sind, was sie spielen können? Wie erfahren sie, was sie nicht machen dürfen? Absprachen, Partituren oder Hinweise während des Spielens fallen weg. Die SpielerInnen müssen stattdessen
– die anderen wahrnehmen und hören, also Beziehung herstellen,
– etwas finden, worauf man sich beziehen kann, also Bezüge finden,
– deuten, was die anderen tun, also diese Bezüge mit Sinn füllen,
– auf dieser Basis Strukturen aufbauen, Entwicklungen und Formen gestalten.
Die beteiligten MusikerInnen sollten also den anderen SpielerInnen genau zuhören, das entstehende musikalische Geschehen aushören und dazu Passendes finden.
Wie funktioniert das in der Praxis?3 Betrachten wir es einmal prinzipiell: Ein Ensemble spielt ein Stück ohne eine musikalische Vorbereitung in Bezug auf Stilistik, Material und Spieltechnik usw. Adhoc-Situationen sind unvorhersehbar. Was in ihnen geschieht, taucht eher auf, als dass es gezielt angestrebt wird. Man beginnt zu spielen, ohne Netz und doppelten Boden. Man orientiert sich, indem man abwartet, zuhört und achtsam ist. Man reagiert, folgt oder wird initiativ. Man findet sich zurecht und bildet ein Interaktionsgewebe. Es gilt nur die Handlung im Moment.
Wenn das gemeinsame Spielen kein beliebiges Nebeneinander erzeugen soll, müssen die SpielerInnen zueinander finden und sich auf etwas verständigen. Dies geschieht, indem sie Anhaltspunkte für Einigungen suchen. Componieren spiegelt das Suchen der SpielerInnen nach dieser Einigung wider. Ich spiele und kann in dem, was die anderen und wie sie es tun, erkennen, welchen gemeinsamen musikalischen Gedanken wir verfolgen.
Ein Beispiel: In einem Ensemblespiel entsteht eine Generalpause, aus der heraus dann das Geschehen fortgesetzt wird. Dieser Moment der Pause wird dann als etwas, das wir erkennbar gemeinsam getan haben und was sich deshalb wiederholen lässt, also als Formelement wahrgenommen, denn es folgt ein weiteres Mal eine Generalpause und der Spiel-Prozess wird im Folgenden von der Gegensätzlichkeit Klang versus Generalpause geprägt.

1 Ich nenne es im Folgenden mit der alten lateinischen Vorsilbe com = zusammen: componiert. Diese Bezeichnung steht in diesem Text für den üblichen Terminus Improvisation, weil ich meine Untersuchung auf die form- und strukturgestaltenden Aspekte fokussieren möchte. Andere ähnliche Bezeichnungen wären Instant Composition oder Adhoc-Komposition oder Comprovisation.
2 Bruce E. Benson: The Improvisation of Musical Dialogue, Cambridge 2003, S. 169.
3 Die folgenden Überlegungen basieren u. a. auf Erfahrungen, die ich im Forschungsprojekt „Quo Vadis Teufelsgeiger?“ (www.quovadisteufelsgeiger.at) sowie in meiner Lehrtätigkeit an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien gesammelt habe.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2020.