© Ulla Levens

Levens, Ulla

Not macht erfinderisch

Gemeinsames Improvisieren in Zeiten der Vereinzelung

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 4/2020 , Seite 34

Während eines Kontaktverbots bietet der Computer Möglichkeiten, um in Videomeetings mit FreundInnen und SchülerInnen spielerisch in Kontakt zu bleiben. So entsteht Raum für Neues durch gemeinsames Online-Impro­visieren. Wie das auch ohne Noten­vorgaben funktioniert, wird an vier Musikspielen beschrieben.

Technische Anforderungen

Die verwendete Software sollte eine übersichtlich gestaltete Bedienungsoberfläche haben, die individuelle Einstellungen bezüglich des Kommunikationsprozesses anbietet: z. B. gleichmäßige Lautstärkeeinstellung aller TeilnehmerInnen und kein Unterdrücken von Hintergrundgeräuschen. Zudem sollten die netzwerkbedingten Ver­zögerungen (Latenz) möglichst gering sowie Input und Output an jedem Arbeitsplatz zu trennen sein (z. B. durch Verwendung von Kopfhörern), damit Schleifeneinspeisungen nicht das musikalische Ergebnis verfälschen. Bildschirmkamera und Beleuchtung des Arbeitsplatzes sind so auszurichten, dass man mit seinem Instrument für die anderen gut zu sehen ist.
Die Verwendung von für Konferenzen ausgerichtete Software zum gleichzeitigen Musizieren ist möglich, hat aber die Konsequenz, dass an jedem Arbeitsplatz das eigene Spielen von der dort aktiven Person ungefiltert erlebt wird, hingegen das zeitgleiche Spielen der jeweils anderen Personen aufgrund der datenreduzierenden Übertragung nur in Ausschnitten wahrnehmbar ist. Das macht die Audioaufnahme als objektives Ergebnis des Meetings für die anschließende Reflexion des erlebten Musizierprozesses wertvoll für den Vergleich von subjektiv Empfundenem und objektiv Wahrgenommenem und führt zu einer durchsichtigen Gruppenimprovisation.

Hinweise für Lehrende

Lehrende sollten vorab die Gruppe zusammenstellen und die eingeladenen SchülerInnen über das Arbeiten mit der Software informieren. Während des Meetings übernehmen sie die Gruppenführung und legen eine verbindliche Spielreihenfolge fest, um ImprovisationsanfängerInnen den Einstieg in die Gruppenimprovisation zu erleichtern und zu garantieren, dass jeder an die Reihe kommt.
Für die dargestellten Musikspiele 1, 2 (in den ersten beiden Teilen) und 3 gilt beispielsweise folgende Spielreihenfolge: SchülerIn 1/Geige, SchülerIn 2/Cello, SchülerIn 3/Geige, SchülerIn 4/Bratsche, wobei die SchülerInnen beim Spielen gleichberechtigt sind, das heißt es gibt weder die Positionen der 1. und 2. Geige noch die klassische Tonlagenanordnung hoch – mittel – tief.
Vorab sollten allgemeingültige Spielregeln festgelegt werden. Die folgenden Regeln, die situativ angepasst und ergänzt werden können, geben dazu eine Orientierung:
– So, wie du im Moment anwesend bist, und mit dem, was du kannst, bist du willkommen!
– Hast du eine Frage, so hebe bitte deine rechte Hand sichtbar für alle.
– Hört aufeinander, spielt miteinander!*
– Jede Spielphase beginnen wir mit Konzentration und Stille. Dann wird von der Lehrkraft eingezählt.
Ende bzw. Stopps werden durch für alle erkennbare Handzeichen angezeigt. In kurzen Feedbackrunden nach jeder Spielphase kann jede Schülerin und jeder Schüler ein persönliches Statement über das soeben Erlebte geben. Ausführliche Feedbacks haben Platz im zweiten Teil des Meetings.

Vier Musikspiele

Die folgenden Musikspiele nehmen unterschiedliche Aspekte gemeinsamen Musizierens in den Blick. In Musikspiel 1 und 2 werden visuelle Assoziationen als Impulse zum Gestalten mit Klängen eingesetzt, in Musikspiel 3 führen Körperbewegungen zum Experimentieren mit Klängen und in Musikspiel 4 regt ein visuelles Szenario zu einem komplexen musikalischen Interagieren an. Die Musikspiele sind für Gruppen von vier bis acht SchülerInnen geeignet, wobei Instrumentarium, Spielniveau und Altersgruppe flexibel gehandhabt und die Aufgabenstellungen angepasst werden können. In den Beschreibungen gehe ich von einer Gruppe fortgeschrittener AnfängerInnen im Alter von acht bis zehn Jahren in klassischer Streichquartett-Besetzung aus.

Musikspiel 1: Mit kurzen Klangimprovisationen die Gruppe begrüßen
Zur visuellen Einstimmung hält die Lehrkraft Abbildung 1 für alle gut sichtbar in die Kamera.

Dann fordert sie die SchülerInnen zur klanglichen Vorstellung auf: „Schaut euch die bunten Glückssteine an. Wählt einen Lieblingsstein aus und prägt ihn euch ein! Jetzt stellt euch vor, dass euer Spiel auf dem Instrument so klingt wie euer Stein in der Steinkette.“ Die musikalische Aufgabe besteht darin, hintereinander kurze freie Klangimprovisationen als Begrüßung zu spielen. Die Lehrkraft begrüßt zunächst SchülerIn 1, der oder die wiederum selbst die Gruppe begrüßt; es folgt die Lehrkraft mit ihrer Begrüßung von SchülerIn 2 und so weiter, sodass eine Kette nacheinander spielender Personen entsteht: L – S1 – L – S2 – L – S3 – L – S4. Mit dem Hinweis: „Denkt an euren Lieblingsstein und bringt diesen auf eurem Instrument für uns zum Klingen! 3 – 2 – 1“, startet die Klangkette.

Musikspiel 2: Mit Tönen und Geräuschen experimentieren
Wir bleiben beim Bild der Steinkette. Jeder Stein ist unterschiedlich in Größe und Form. Im ersten Teil drücken wir die Steingrößen musikalisch in Tonhöhen aus. Je größer der Stein, desto tiefer der gewählte Ton. Im zweiten Teil drücken wir die Form der Steine (z. B. rund, kantig) durch Geräusche aus. Im dritten Teil wird gemeinsam sowie in freier Reihenfolge und Klangwahl ein durchgehender Klangfaden erzeugt. Während jede Person im ersten und zweiten Teil einmal an der Reihe ist, gibt es im dritten Teil keine Begrenzung der Spielhäufigkeit.

Musikspiel 3: Aus Körperbewegungen Klänge entstehen lassen
Nun geht es um Klänge erzeugende Bewegungen des eigenen Körpers, die nach dem Frage-Antwort-Prinzip erkundet werden. Ausgehend von der Frage: „Welche Bewegung kann dein Körper?“, werden die SchülerInnen zum Experimentieren mit Spieltechniken angeregt. Die aus diesen für alle sichtbar gemachten Körperbewegungen entstehende Klangkette dient den Ausführenden zur Kontrolle und spornt an, neue Techniken der Klangerzeugung auszuprobieren.
Dazu ein Beispiel aus meinem Unterricht: „Welche Bewegung kann dein Körper?“ S1: „Meine Finger können klopfen“ (klopft mit den Fingern sanft auf dem Resonanzkörper der Geige); S2: „Mein rechter Arm kann schwingen“ (schwingt mit dem Arm den Cellobogen über die tiefste Cellosaite einmal hin und einmal her); S3: „Meine Finger der linken Hand können gleiten“ (gleitet nacheinander mit verschiedenen Fingern über eine Geigensaite hin und her und streicht dabei mit dem Geigenbogen.); S4: „Mein rechter Arm kann federn“ (federt mit dem Bratschenbogen in gleichmäßiger Höhe auf einer Saite und führt dabei kurze Striche aus). Auf das Frage-Antwort-Spiel aufbauend wird im zweiten Teil nach dem Körperbewegungsprinzip frei zusammen improvisiert. So können bereits erprobte und auch neue Techniken zur Anwendung kommen. Durch nacheinander und gleichzeitiges Spielen entsteht eine komplexe Klangstruktur, die für jede Person (etwas) anders klingt.

Musikspiel 4: Treffen der Waldgeister – eine themenbezogene Improvisation
Die Lehrkraft hält Abbildung 2 in die Kamera und gibt eine Einstimmung, um die SchülerInnen zu einer nonverbalen Musikgeschichte zu inspirieren, die sich aus vielfältigen Klängen und – ganz wichtig – Pausen zusammensetzt.

Für die gemeinsame Improvisation sollte zuvor eine Dauer vereinbart werden, z. B. fünf Minunten Spielzeit, die dann auch eingehalten wird. Anschließend kann ein gemeinsames Thema spontan aus der Gruppe kommen oder eine freie Improvisation gespielt werden. In frei gestaltbarer Musik können sich alle SchülerInnen einbringen, bekommen aber auch Spielimpulse durch die Themenvorgabe.

Fazit

Gemeinsames Online-Improvisieren bringt Menschen unabhängig von ihren geografischen Standorten zusammen, erspart Reisen und Instrumententransport, bringt Spielfreude durch musikalische Betätigung und lässt gemeinsam gestaltete Musik in gemeinsam gestalteten Prozessen entstehen. Die Online-Improvisation mit einer virtuell anwesenden Gruppe kann jedoch die reale Gruppensituation nicht ersetzen, da dort Körpergestik und Mimik im Einander-Zuspielen und Miteinander-Spielen unmittelbar einfließen. Dennoch hat gemeinsames Online-Improvisieren seinen musikalischen und musikpädagogischen Wert, den es lohnt zu erleben und zu erforschen.

* Gerade beim gemeinsamen Improvisieren ohne Notenvorgaben ist es wichtig, sich genau zuzu­hören und sein eigenes Spiel auch auf Klänge der anderen zu beziehen, unabhängig davon, ob nacheinander oder mehrstimmig gespielt wird. Das Beziehen auf bereits erklungene Musik kann durch Wiederholen, Variieren, Kontrastieren oder durch einen noch nicht gespielten völlig neuen Klang erfolgen.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2020.