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Naumann, Alexandra

Focusing on the Moment

Achtsamkeit und Selbstakzeptanz im Musikunterricht

Rubrik: Kommunikation
erschienen in: üben & musizieren 4/2020 , Seite 40

Was macht achtsamen und zugleich effektiven Musikunterricht aus? Die Gesangspädagogin Alexandra Naumann fokussiert sich auf das personen- und prozessorientierte Lehren und Lernen von Musik.

Ein kleines Experiment: „Ceci nʼest pas une pomme“

Der Maler René Magritte wusste: Ein Apfel wird erst dann zum „Apfel“, wenn der Betrachtende ihn dazu erklärt. Ich lade Sie ein, das einmal etwas tiefer nachzuvollziehen. Nehmen Sie sich ein wenig Zeit und betrachten Sie das Foto auf der gegenüberliegenden Seite. Welche Gedanken kommen Ihnen zu diesem Apfel? Riechen, schmecken, spüren Sie den Apfel? Fallen Ihnen Geschichten dazu ein? Hören Sie vielleicht Musik? Und welche Emotionen löst er in Ihnen aus? Nun schließen Sie für einen Moment die Augen und fragen sich dabei: Was bleibt in mir von diesem Apfel übrig, wenn ich ihn nicht mehr anschaue? Welche Stimmung löst er in mir aus, sprich: Wie ist mein ganz persönliches Verhältnis zu diesem Apfel? (Gönnen Sie sich eine Pause…)
Wenn Sie nun die Augen wieder öffnen – ist der Apfel nicht mehr derselbe. Selbst­redend ist Ihre Geschichte mit dem Apfel ziemlich persönlich geworden, und sicherlich können Sie gerade gut nachvollziehen, dass andere Menschen „Ihren“ Apfel ganz anders sehen und empfinden als Sie selbst. Wie muss es uns dann erst mit etwas so Komplexem, Vielschichtigem und individuell Unterschiedlichem wie dem Musikmachen ergehen?

„Werde, der du bist“1

Was ist mit „Selbstakzeptanz“ eigentlich gemeint? Im Zitat des griechischen Poeten Pindar scheint mir gut ausgedrückt zu sein, was es bedeuten kann, sich und anderen im Prozess des Lebens und Lernens mit Akzeptanz zu begegnen. In diesem Zitat steckt das Wissen, dass die Wahrnehmung der eigenen Welt (innen wie außen) einen Bezugspunkt des „Stimmigen“ in uns besitzt, von dem aus wir spüren können, was wir sind und wie wir werden können. Bei unserem Gegenüber im Unterricht ist uns das meist sehr ersichtlich: Jemand, der mit Sinnempfinden und Lebendigkeit bei der Sache ist, lernt gerne und kommt auch meist gut voran. Anders sieht es aus, wenn Hindernisse auftauchen wie etwa mangelnde Motivation, Überforderung oder Stress, die zu Lernverzögerungen führen. Da ist es für beide Seiten schwer, sich in Akzeptanz für sich selbst und den anderen zu üben. An dieser Stelle reagiert die traditionelle Pädagogik – angetrieben von dem Druck, der durch unsere Verantwortung als Lehrende entsteht – daher oft mit erhöhtem Leistungsdruck von außen. Das Ergebnis ist allerdings selten überzeugend.

Dabei sein ist alles

Seit Langem verfolgt mich als Musikpädagogin also die Frage: Wie kann ich meinen Unterricht so gestalten, dass ich das persönliche Lernen unterstütze, der Individualität Rechnung trage, mich andererseits aber auch nicht verzettele und doch einen passenden Rahmen für einen erfolgreichen Unterricht anbiete? Ich machte mich auf die Suche nach zusätzlichem Wissen, nicht zuletzt angetrieben durch den Wunsch nach einer energetischen Selbstfürsorge für mich als Lehrende, die fast täglich mit dem Thema „Mensch und Musik“ zu tun hat. Die genannten unvermeidlichen Konflikte, die in schwierigeren Phasen des Unterrichts entstehen, aber auch der Wunsch nach einer möglichst stressfreien und respektvollen Unterrichtsbeziehung trieben mich um.
So stieß ich auf die „Focusing-Methode“, begründet vom Philosophen und Psychologen Gene Gendlin (1926-2017). Gendlin forschte zunächst über die Effektivität von Therapien und stieß dabei auf die Wichtigkeit, die eigene Körperlichkeit im Lebensprozess achtsam wahrzunehmen und sie als authentischen Spiegel und „Container“ für alles, was lebendig ist, wertzuschätzen. Er prägte den wichtigen Satz: „Der Körper ist in der Situation, und die Situation ist im Körper.“2 Und er fand heraus: Wer mit allen Sinnen anwesend ist, in achtsamer Beziehung zu sich selbst, der Situation und zu seinem Gegenüber, macht die größeren therapeutischen Fortschritte. Für mich wurde schnell klar, dass der Zugang zu diesem mentalen, emotionalen und körperlichen „Momentum“ auch essenziell für jede Art von Musiklernen ist.

1 Pindar (ca. 518-438 v. Chr.): Zweite Pythische Ode.
2 Gene Gendlin (Livezitat).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2020.