Heberle, Kerstin

Zur Konstruktion von Leistungsdifferenz im Rahmen musikpädagogischer Unterrichtspraxis

Eine Videostudie zum instrumentalen Gruppenunterricht in der Grundschule

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Waxmann, Münster 2019
erschienen in: üben & musizieren 4/2020 , Seite 58

Differenz nicht als objektives Merkmal der SchülerInnen, sondern aus einer konstruktivistischen Perspektive zu begreifen, ist die Grundannahme der Studie Zur Konstruktion von Leistungsdifferenz im Rahmen musikpä­dagogischer Unterrichtspraxis von Kerstin Heberle. Damit schließt Heberle an den erziehungswissenschaftlichen Diskurs zur Differenzforschung an, in den sie die LeserInnen im zweiten Kapitel einführt. Zunächst grenzt sie die konstruktivistische Perspektive von den Ansätzen ab, die Differenz als Merkmal der SchülerInnen verstehen, und erläutert dabei die soziologische Perspektive einer gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit in Interaktionsprozessen.
Anschließend führt sie das ethnografische Theorem „Doing Difference“ von West & Fenster­maker (1995) an, welches dieser Studie zugrunde liegt, und beschreibt die Forschungsperspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Differenzforschung. Aus der Beschreibung des aktuellen empirischen Forschungsstands zu Doing-Difference-Prozessen im (Musik-)Unterricht der allgemeinbildenden Schule geht hervor, dass die Konstruktion von Leistungsdifferenz im Gegensatz zu Kategorien wie Geschlecht, Migration und soziale Herkunft weniger beforscht wurde, sodass sich Heberle im dritten Kapitel insbesondere mit dem Forschungsstand zur Leistungskonstruktion im Unterricht der allgemeinbildenden Schule beschäftigt und dabei ein musikpädagogisches Desiderat feststellt.
Heberle geht davon aus, dass fachspezifische Besonderheiten in musikpädagogischen Lehr-Lernprozessen zu erwarten sind, und untersucht im Rahmen einer Videostudie, wie Leistungsdifferenz im instrumentalen Gruppenunterricht in der Grundschule (JeKi) interaktionsbezogen markiert wird, wie Lehrende und SchülerInnen bei der Konstruk­tion von Differenz interagieren und wie Differenzkriterien in die musikpädagogische Unterrichtssituation eingebracht und verhandelt werden.
Nach einer ausführlichen Darstellung der methodologischen Überlegungen und des methodischen Vorgehens präsentiert sie ihre empirischen Ergebnisse mithilfe von Transkriptionsauszügen und Video-Stills sehr anschaulich, sodass sich deren Relevanz für die musizierpädagogische Praxis sofort erschließt. Dabei identifiziert sie die Rückmelde­situationen nach dem Instrumentalspiel als Schlüsselszenen für die Konstruktion von Leistungsdifferenz im Instrumentalunterricht, aus denen sie die Exposi­tion als Kernkategorie herausarbeitet. Unter Exposition versteht sie Handlungsmuster, die die Leistung von SchülerInnen als different zu anderen markieren und in denen diese differente Leistung von Lehrenden und/ oder SchülerInnen in den Fokus gerückt bzw. verstärkt wird. Im Rahmen ihrer Analysen kann Heberle verschiedene Varianten für die Markierung von Leistungsdifferenz herausarbeiten (z. B. durch individuelle Adressierung, durch Isolation der musikalischen Tätigkeit und durch Anlegen unterschiedlicher Maßstäbe), die sie ausdifferenziert sowie im interaktionalen Kontext diskutiert.
Insbesondere den in der Musizierpädagogik Tätigen an Musikschulen und Schulen sei die Lektüre der anschaulich dargestellten und praxisrelevanten Ergebnisse für die Reflexion des eigenen Unterrichts empfohlen. Mit ihrer systematischen Darstellung zur Konstruktion von Leistungsdifferenz im Instrumentalunterricht erfüllt Heberle ihren eigenen Anspruch, eine Folie zu eröffnen, mit der unterrichtliches Handeln unter anderem im Rahmen videobasierter Fallarbeit reflektiert werden kann, vollständig. Die Ausführungen bieten darüber hinaus eine gute Grundlage, Konstruktion von Leistungsdifferenz im Musizierunterricht in weitere musizierpädagogische Überlegungen zum Umgang mit Fehlern einzuordnen sowie aus einer pragmatischen Perspektive der Sprachwissenschaft zu diskutieren.
Sebastian Herbst