Fröhlich, Sabine

Margarete Dessoff (1874-1944)

Chordirigentin auf dem Weg in die Moderne

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wolke, Hofheim 2020
erschienen in: üben & musizieren 4/2020 , Seite 59

Diese hervorragend recherchierte und brillant geschriebene Biografie fokussiert erstmals das Lebenswerk einer bahnbrechenden Frau, die in vielerlei Hinsicht Außergewöhnliches geleistet hat: Margarete Dessoff – Gesangs­pädagogin, Chordirigentin, Konzertveranstalterin und mutige Anwältin neuester Chormusik unterschiedlichster Prägung. Am Anfang dieser einzigartigen Laufbahn stand zunächst der Verlust der eigenen Stimme während ihres Gesangsstudiums in Frankfurt. Der Weg aus dieser Krise führte Margarete Dessoff zur vokalpädagogischen Betätigung und Ensemblearbeit mit ihren Schülerinnen. So fand 1907 in Frankfurt das erste Konzert des „Dessoff’schen Frauen-Chors“ unter der Leitung von Margarete Dessoff mit einem für ihre spätere Konzertdramaturgie bereits typischen Programm statt: Alte und Neue Musik stehen sich in kontrastierender Wechselwirkung gegenüber.
Als Tochter des Brahmsfreundes Otto Dessoff, der 1876 dessen 1. Sinfonie in Karlsruhe zur Uraufführung gebracht hatte, orientierte sich Margarete Dessoff stets am väterlichen Einsatz für Unbekanntes und Modernes. Ebenso wenig wie ihr Vater inszenierte sie sich als Pultstar, sondern erschien als uneitle, pädagogisch motivierte Vermittlerin eines alle Epochen umspannenden Repertoires – darin Nadia Boulanger durchaus vergleichbar, wie die Autorin überzeugend darstellt.
Margarete Dessoffs künstlerisch-pädagogische Visionen fanden ab 1923 ihre Verwirklichung in New York. Mit den (heute noch existierenden!) Dessoff Choirs leistete sie in New York eine immense Bildungsarbeit, einen kulturellen Brückenschlag zwischen Amerika und Europa. Nicht nur Komponisten der europäischen Moderne wie Schönberg, Caplet und die Schreker-Schüler Hugo Herrmann und Felix Petyrek wurden von ihr propagiert – ebenso nachdrücklich setzte sich Dessoff für Chormusik des 16./17. Jahrhunderts ein und brachte 1933 die musikalische Komödie L’Amfiparnaso (1595) des Renaissance-Komponisten Orazio Vecchi zur amerikanischen Erstaufführung. 1936 beendete Margarete Dessoff ihr überaus verdienstvolles, erfolgreiches Wirken in New York und zog sich nach Wien zurück. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland rettete sich Dessoff in die Schweiz, wo sie fast vergessen am 27. November 1944 starb.
Sabine Fröhlichs Biografie zeichnet ebenso detailliert wie spannend den Weg einer Musikerin nach, die Profis und engagierten Amateuren die Chance von Aufführungen bedeutender geistlicher und weltlicher Chormusik aller Epochen auch jenseits des Standardrepertoires gegeben hat. Die faksimilierten Konzertprogramme bieten vielfache ­Anregungen für ChorleiterInnen und KonzertdramaturgInnen, zugleich präsentieren sie rezeptionsgeschichtliche Meilensteine der Wiederentdeckung Alter Musik im frühen 20. Jahrhundert.
Kolja Lessing