Rüdiger, Wolfgang

C…A-Studie

Ein Improvisationsmodell aus aktuellem Anlass

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 5/2020 , Seite 28

Nach fast viermonatigem Verzicht auf gemeinsames Musizieren durfte im Juni 2020 an der Landesmusikakademie Hamburg wieder ein Workshop stattfinden – der erste seiner Art nach vielen Wochen. Gewidmet war er dem Freien Musizieren und Improvisieren in gemischten Ensembles. Wolfgang Rüdiger beschreibt ein auf die aktuelle Situation bezogenes Improvisationskonzept und seine Umsetzung.

Zwölf Musikerinnen und Musiker hatten sich in Hamburg eingefunden, die unter Wahrung der Abstandsregeln in einem großen Kreis Aufstellung nahmen: zwei Gitarristen, zwei Blockflötistinnen, drei Querflötistinnen, ein Hornist, eine Geigerin, zwei Cellistinnen sowie ich selbst als Fagottist und Gastdozent. Für das Kursprogramm hatte ich neben allgemeinen Übungen, Lied-Improvisationen, grafischen und freien Improvisationsformen etc. etwas Besonderes, auf die aktuelle Situation Bezogenes geplant: die Erarbeitung und Aufführung eines Improvisationskonzepts mit dem Titel C…A-Studie. Dieses scheinbar einfache Konzept wurde begeistert aufgegriffen – ein Zeichen dafür, wie groß das Bedürfnis ist, das, was uns seit Monaten bewegt, auf Distanz hält, maskiert, ängstigt und erregt, gemeinsam in Musik zu übertragen.
Die spärlichen Vorgaben setzten eine unglaubliche Kreativität frei, die exemplarisch sein mag für musikalisch-künstlerische Reaktionen auf andrängende Zeitumstände und existenzielle wie gesellschaftliche Herausforderungen, die Menschen bis ins Mark treffen und ihr Leben verändern. Vorgegeben waren nur fünf Töne, in Tonbuchstaben mit überwölbender Fermate auf einer Tafel notiert, sowie die Anweisung, mindestens einmal im Verlauf der Improvisation eine Generalpause zu machen sowie einen Tutti-Akkord mit allen Tönen auszuhalten – bedeutet doch „Corona“ (lat. Kranz oder Krone) in der Musik das Gleiche wie „Fermata“: ein Haltezeichen, ein Ruhepunkt über einem Klang oder einer Pause.1
Aus dieser knappen Materialvorgabe mit minimaler Spielanweisung entwickelte sich innerhalb von anderthalb Stunden ein immenser Ideenreichtum zur Realisation eines „Corona-Stücks“, mit dem die Spielerinnen und Spieler sowohl ihrer subjektiven Befindlichkeit Ausdruck gaben als auch das Stimmengewirr der Gesellschaft musikalisch widerspiegelten – ganz im Sinne Robert Schumanns, den nach eigenem Bekunden alles „affizierte“, was in der Welt geschieht, und der dies in Musik übersetzte.2

Unisono-Statement und „zuckendes Gewusel“

Eine erste zündende Idee lieferte eine Kursteilnehmerin, die fortan die Einsätze gab, mit dem Vorschlag eines klaren Unisono-Statements zu Beginn: c fortissimo mit Fermate. Generalpause. a fortissimo mit Fermate. Generalpause. Bleibt als Material die chromatische Dreitonfolge es-d-e – die Tonbuchstaben des Wortes „StuDiE“, wie geschaffen, um allem Schmerz, allem Schrecken, aller Erregung Ausdruck zu verleihen:3 in einem „zu­ckenden Gewusel“ zwischen Pianissimo und Fortissimo mit leisen Seufzern, lauten Eruptionen, plötzlichen Interruptionen und Explosionen, das in einen lang gehaltenen schreienden Akkord aus allen fünf Tönen im dreifachen Forte mündet. (NB 1)
Hier einigte sich das Ensemble auf die einfache Lösung, dass die beiden lautesten Ins­trumente Horn und Fagott die klangschärfenden, einen chromatischen Cluster generierenden Halbtöne d und es verbindlich übernehmen sollten, derweil die anderen Instrumente die freie Wahl zwischen den verbleibenden Tönen des a-Moll-Dreiklangs in allen Registerlagen hatten.
Zwischenreflexion: Das sparsame Tonmate­rial der C…A-Studie gibt Anlass zu einer kleinen Intervallanalyse, die mehrere Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Instrumentation und Registerlage eröffnet. Verschiedene Sichtweisen auf die Reihenfolge der Töne bieten sich hier an. Beginnt man die Tonreihe mit a aufwärts, so ergibt sich die Intervallfolge kleine Terz, große Sekunde, kleine Sekunde, kleine Sekunde: a-c-d-es-e, zu verstehen als Tonsymbol für das Immer-enger-Werden der gesellschaftlichen Isolation, das Gefühl von Enge, Angst, Angekettet- oder Eingekerkert-Sein. In der barocken Figurenlehre wäre dies die Pathopoeia, die „Leiden Machende“.4
Setzt man hingegen das c an den Beginn einer Fünfton-Reihe, so entsteht im Anschluss an den verminderten Akkord c-es-a (= Kleinterz – Tritonus) eine weitere raumgreifende Aufwärtsbewegung zum e (= Quinte von a) und d (= Septime über e): ein Öffnen und Weit-Werden im Gegensatz zur Verengung. Auch möglich, wenngleich vielleicht nicht so interessant, ist die Anordnung c-e-a-es-d (= Großterz, Quarte, Tritonus und große Septime). Spannend für eine horizontale Auffächerung hingegen ist die Fünfton-Fächerreihe d-c-es-a-e.

1 vgl. Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothec, Leipzig 1732, S. 186: „Corona oder Coronata, also wird von den Italienern dieses Zeichen genannt, welches, wenn es über gewissen Noten in allen Stimmen zugleich vorkommt, ein allgemeines Stillschweigen oder eine Pausam generalem bedeutet. Wenn es aber über einer final. Note in einer Stimme allein steht, so zeigt es an, dass sie daselbst so lange aushalten soll, bis die übrigen Stimmen auch zu ihrem natürlichen Schluss nachkommen.“ Siehe auch den anregenden Artikel von Isabel Steppeler und Helge Toben über „Corona“ als Generalpause und Schutzpatronin in Badische Neueste Nachrichten vom 24.3.2020, https://bnn.de/lokales/karlsruhe/generalpause-und-seuchen-schutzpatronin-corona-hat-vielsagende-namensvetter (Stand: 19.6.2020).
2 So schreibt Robert Schumann im Jahr der Entstehung der Kinderszenen 1838 in einem Brief an Clara Wieck: „Es affiziert mich Alles, was in der Welt vorgeht. Politik, Literatur, Menschen – über Alles denke ich in meiner Weise nach, was sich dann durch Musik Luft machen, ­einen Ausweg suchen will.“ Zit. nach Ulrich Tadday (Hg.): Schumann Handbuch, Stuttgart, Weimar 2006, S. IX.
3 Beispiele für die kompositorische Arbeit mit Tonbuchstaben gibt es unzählige: von Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge über Robert Schumanns Abegg-Variationen op. 1 und anderen Werken bis zu Alban Bergs Lyrischer Suite und KomponistInnen wie Pauline Oliveros und Jorge Horst im 20. und 21. Jahrhundert; vgl. mein Konzept der name pieces in: Ensemble & Improvisation. Musiziervorschläge für Laien und Profis von Jung bis Alt, Regensburg 2015, S. 65-73 (Modelle 11 und 12).
4 vgl. Dietrich Bartel: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, 3., revidierte Auflage, Laaber 1997, S. 223 f.

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