Erben, Eva

„Im Grunde gibt es eigentlich nur eine Methode“

Georg Kerschensteiner warnt vor der Gefahr, die produktiven Kräfte der ­Kinder methodisch zugrunde zu richten

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 5/2020 , Seite 48

Als Reaktion auf die Kunsterziehungstage in Dresden (1901: Schwerpunkt Kunst), Weimar (1903: Schwerpunkt Literatur) und Hamburg (1905: Schwerpunkt Musik) erschien 1905 das Buch Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung von Georg Kerschensteiner. Der daraus entnommene Textauszug ist zu finden unter dem die Untersuchung beschließenden „§ 14. Pädagogische Schlussbetrachtungen allgemeiner Art“.1 Kerschensteiner wertete für die Reform des Zeichenunterrichts, mit der er in seiner Funktion als Stadtschulrat betraut war, nicht weniger als 300000 Zeichnungen Münchner Schulkinder aus, um neue Erkenntnisse über deren zeichnerische Ausdrucksfähigkeit zu erlangen.2 Geboren 1854, gilt er als Begründer der Arbeitsschule,3 war Gymnasiallehrer und Schulreformer. Zeichnerisch und musikalische äußerst begabt, widmete er sich ausgiebig der Malerei und dem Klavierspiel.4
Nach Kerschensteiner ist Methode zu verstehen als Weg, an dem entlang „die geistige Kraft des Menschen sich entwickelt“. Der Weg des Einzelnen wird bestimmt durch seine individuelle Begabung. Im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens steht also der Lernende mit seinen Stärken und Schwächen, seinen Vorlieben und Abneigungen – und nicht die virtuose Anwendung eines umfangreichen Methodenrepertoires durch den Lehrenden. Ein solch konstruktivistisches Methodenverständnis degradiert den Lernenden nicht zum Objekt, er wird vielmehr zum Mitgestalter seines eigenen Lernprozesses.
Dass Kinder die Fähigkeit dazu besitzen, steht außer Frage. Doch bedarf es nach Kerschensteiner der Anstrengung und Übung. So gibt er zu bedenken, „dass die Kinder geistige Zähne haben, welche ähnlich wie die Zähne des Eichhörnchens nur dadurch scharf gehalten werden können, dass sie beständig Nüsse und sonstige harte Dinge knacken“. Im Vordergrund steht demzufolge nicht in erster Linie die Wissensvermittlung, sondern die Weckung der „produktiven Kräfte unserer Kinder“.

1 Georg Kerschensteiner: Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung. Neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen, München 1905, S. 504 f.
2 vgl. ebd., S. 487.
3 Die Idee der Arbeitsschule strebt nach Kerschensteiner die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten des Kindes („geistige Arbeit“) durch praktische Tätigkeit („manuelle Arbeit“) an. „Dazu ist nötig, daß die Betätigung des Kindes aus einem vom Kinde selbst durchdachten Plane heraus erfolgt, welcher der Verwirklichung eines Zweckes dient und eine Sache erzeugt (objektiviert), die ein getreues Abbild des gefaßten Planes ist. So geht also jeder manuellen Arbeit, die pädagogischen Wert, oder, noch bestimmter ausgedrückt, Bildungswert haben soll, zunächst ein ausgesprochener geistiger Akt voraus.“ (Begriff der Arbeitsschule, Leipzig und Berlin 61925, S. 44.
4 vgl. Marie Kerschensteiner: Georg Kerschensteiner. Der Lebensweg eines Schulreformers, München 1954, S. 79.

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