© Berchtesgaden_www.stock.adobe.com

Olejniczak, Jonas Hagen

Eine Frage der Haltung

Machtvolles Musizieren durch gewaltfreie Führung und bedürfnisorientierte Kommunikation

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2021 , Seite 16

Wie können Leiterinnen und Leiter eines musikalischen Ensembles machtvoll kommunizieren und anleiten, ohne dabei unterdrückende Macht auszuüben? Mit Bezug auf Marshall B. Rosenbergs Konzept der „Gewaltfreien Kommunika­tion“ wird eine bedürfnisorientierte Haltung vorgeschlagen und erläutert, die hilfreich sein kann, um machtvolles gemeinsames Musizieren zu fördern.

Bei der Frage nach Machtverhältnissen beim Musizieren und im Musizierunterricht möchte ich die Herausforderungen für die Kommunikation von DirigentInnen, ChorleiterInnen und sonstigen LeiterInnen von musikalischen Ensembles in den Blick nehmen. Die zentrale Frage, die ich mit Bezug auf Marshall B. Rosenbergs Modell der „Gewaltfreien Kommunikation“ betrachten möchte,1 ist: Wie können wir machtvoll kommunizieren, klar anleiten und deutliche musikalische Ansagen machen, ohne dabei unterdrückende Macht auszuüben?
Die kurze und doch komplexe Antwort lautet: Es geht stets um die innere Haltung der anleitenden Person. Die „Gewaltfreie Kommunikation“ nach Rosenberg ist eine Methode, die eine innere Haltung voraussetzt und vorschlägt, die Bedürfnisse aller Beteiligten in den Blick zu nehmen. Unter Bedürfnissen werden dabei nicht Vorlieben oder Wünsche verstanden, sondern universelle Bedürfnisse, die letztlich alle Menschen teilen – wie etwa (Selbst-)Verbundenheit, Sicherheit, Gemeinschaft, Identität, Sinn, Ruhe, Kreativität, Vertrauen, Zugehörigkeit, Ordnung, Struktur, Klarheit, Rücksichtnahme, Verständnis und viele weitere.2 Die „Gewaltfreie Kommunikation“ geht davon aus, dass alle Menschen versuchen, sich mit unterschiedlichen und individuellen Strategien ihre Bedürfnisse zu erfüllen.
Ohne detaillierte Begriffsanalysen vorzunehmen, möchte ich zunächst auf einige Unterscheidungen verweisen, die diese bedürfnisorientierte Haltung genauer erläutern. Die Unterscheidungen sind zum Teil bewusst polarisierend vorgenommen, um die Abgrenzungen deutlich zu machen.3 In einem weiteren Schritt bespreche ich Schwierigkeiten, die auf einem Weg zu einer bedürfnisorientierten Haltung auftauchen können. Diese liegen zumeist in eigenen Ängsten und Unsicherheiten. Schließlich gebe ich einen Ausblick auf die Übertragung dieser Haltung auf das gemeinsame Musizieren.

Dominanz- oder ­bedürfnisorientiert?

Ein dominanzorientiertes System geht davon aus, dass es objektiv richtiges und falsches Verhalten gibt. Die Grundlage bildet eine hierarchische Struktur mit bestimmten Normen und Regeln. Diese werden nicht immer aus eigener Überzeugung, sondern häufig aus Angst oder innerem Druck befolgt. TeilnehmerInnen können sich bei ihrem Verhalten auf die „Obrigkeit“ berufen und damit Verantwortung für ihr Verhalten von sich weisen. Die Triebkräfte eines solchen Systems sind Bestrafungen und Belohnungen. Menschen werden durch Gefühle wie Schuld, Scham und durch Elemente wie Pflicht und Forderungen motiviert. Ein solches System findet sich in Reinkultur heutzutage glücklicherweise nur noch selten in musikalischen Ensembles.
Ein bedürfnisorientiertes System versucht, Rücksicht auf die Bedürfnisse der Beteiligten zu nehmen und so viele wie möglich davon zu erfüllen. Im Zentrum steht der Wunsch nach Verbindung mit sich selbst und anderen, um dadurch zur Erfüllung von Bedürfnissen beitragen zu können. Die entscheidende Motivation entspringt aus dem Wunsch nach Wohlbefinden. Natürlich werden niemals alle TeilnehmerInnen immer mit allen Entscheidungen der Leiterin oder des Leiters einverstanden sein. Dennoch kann die Haltung angestrebt werden, Rücksicht auf die Bedürfnisse aller zu nehmen. In einem solchen System wird den Autoritäten Respekt entgegengebracht unter dem entscheidenden Kriterium: Werden Bedürfnisse erfüllt? Verbindlichkeiten, die es zum gemeinsamen Musizieren braucht, entstehen auf dieser Grundlage.
Der Unterschied zwischen beiden Systemen tritt besonders deutlich hervor, wenn jemand sich nicht an die Regeln halten möchte: In dominanzorientierten Systemen existieren Sanktionen, die häufig durch Bestrafungen durchgesetzt werden. In bedürfnisorientierten Systemen sind Regeln eine Folge gegenseitiger Übereinkünfte. Hier greift man ein, um zu schützen und nicht um zu strafen. Der Aspekt der inneren Haltung ist hier zentral.

„Macht mit“ oder „Macht über“ Menschen?

Wir üben Macht über Menschen aus, die wir musikalisch anleiten, wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse hierarchisch über diejenigen der anderen stellen. Wenn wir mit Bestrafungen drohen oder Belohnungen versprechen, nutzen wir unsere Macht, um andere zu den Handlungen zu bewegen, die wir uns von ihnen wünschen. Wir nutzen Macht so, dass – wenn auch nur kurzfristig – unsere eigenen Bedürfnisse erfüllt werden, ohne dabei die Bedürfnisse der anderen im Blick zu haben.
Wenn wir gemeinsame, auf Kooperation basierende Macht, also Macht mit Menschen anstreben, sind die Bedürfnisse aller (auch unsere eigenen!) wichtig. Wir nutzen unsere Macht, indem wir unsere Kräfte, Ressourcen und Fähigkeiten mobilisieren, um gemeinsame Ziele anzustreben, Beschlüsse zu fassen und Dinge auf den Weg zu bringen, die zum Wohle aller dienen sollen. Natürlich gibt es in einem Ensemble häufig unterschiedliche Meinungen und Interessenkonflikte, die sich nicht immer leicht lösen lassen und manchmal Kompromisse erfordern. Dennoch kann eine von der anleitenden Person vorgelebte Haltung, die signalisiert, dass alle Bedürfnisse willkommen sind, diese Aushandlungsprozesse sehr begünstigen.
Die „Gewaltfreie Kommunikation“ unterscheidet daher bewusst zwischen konkreten Strategien und den zugrunde liegenden Bedürfnissen. Interessenkonflikte entstehen laut Rosenberg auf der Ebene der Strategien und nicht bei den Bedürfnissen. In diesen liegt das Potenzial, in Verbindung zu kommen. Gemeinsames Musizieren ist eine großartige Ressource, um diese Art von gemeinsamer Macht zu stärken.

1 Der Begriff „gewaltfrei“ ist streitbar und aus meiner Sicht problematisch. Rosenberg wählte ihn, um deutlich zu machen, wie oft Menschen in ihrer Sprache bewusst oder unbewusst Gewalt ausüben. Dennoch halte ich andere Bezeichnungen wie etwa „bedürfnisorientierte Kommunikation“ oder „empathische Kommunikation“ für geeigneter, weil sie klarer ausdrücken, wofür Rosenbergs Idee steht. Wegen des offiziellen Namens und dem Verweis auf Rosenberg verwende ich trotzdem den Terminus „Gewaltfreie Kommunikation“. Vgl. Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, Paderborn 2016; Marshall B. Rosenberg: Kinder einfühlend unterrichten, Paderborn 2009.
2 Natürlich gehören hierzu auch die körperlichen Grundbedürfnisse, die aber hier nicht im Vordergrund stehen.
3 Für die Unterscheidungen vgl. Liv Larsson/Katarina Hoffmann: 42 Schlüsselunterscheidungen in der GFK. Für ein tieferes Verständnis der Gewaltfreien Kommunikation, Paderborn 2013.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2021.