Bradler, Katharina / Annemarie Michel (Hg.)

Musik und Ethik

Ansätze aus Musikpädagogik, Philosophie und Neurowissenschaft

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Waxmann, Münster 2020
erschienen in: üben & musizieren 1/2021 , Seite 60

„Denn nichts auff Erden krefftiger ist, den Neid und Hass zu mindern, denn die musica“: Was für Martin Luther Gewissheit war, verdient mittlerweile ein Fragezeichen. Die Gleichung „gutes und richtiges Musizieren führt zu ethisch und moralisch richtigem Verhalten“ geht nicht in jedem Fall auf. So kann Musik die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung senken oder manipulatives Potenzial entfalten.
Zahlreiche musikpädagogische Projekte vertrauen dennoch auf die ethisch positiven Kräfte von Musikausübung. Katharina Bradler und Annemarie Michel sind deshalb der Ansicht, es sei an der Zeit, „sich (erneut) mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern musikpädagogisches Tun zu einer Gesellschaft beitragen kann, die integrativ, freundlich, offen, friedlich und frei ist“. So geschehen auf einem Symposium, das 2018 an der TU Cottbus Denkansätze aus Philosophie, Neurowissenschaft und Musikpädagogik diskutierte.
Dagmar Fenner plädiert für eine Bewertung von Musik vorrangig nach ästhetischen Kriterien, weist ihr aber auch ethische Funktionen zu. Die Stärken von Musik sieht sie „eher im individualethischen Bereich“ (im Unterschied zum „sozialethischen Bereich“). Sie schaffe Freiräume etwa für Kreativität und differenzierte Wahrnehmung. Peter Rinderle versteht das Hören von Musik als Zugang zu ethischen Werten. Er erläutert das mittels der Theorie der „imaginären Person“, die sich ein Hörer beim Hören von Musik vorstelle. Auch Eva Weber-Guskar fasst Musikhören als Schulung in Empathiefähigkeit auf, bleibt aber zurückhaltend: Musikpädagogische Erziehung könne die Entwicklung von Empathie „unterstützend begleiten“. Und Dieter Mersch erkennt in der Improvisationstätigkeit eine moralische Dimension: Wie das gesamte soziale Leben nehme auch das Improvisieren seinen Ausgang immer „vom Anderen her“ und bewege sich „auf den Anderen zu“.
Auf der Basis neurowissenschaftlicher Studien plädiert Thomas Hans Fritz für gemeinsames Musizieren, das als Stimulus für sozialen Zusammenhalt fungieren könne. Annemarie Michel zeigt, dass Musikunterricht und Musizieren einen „möglichen Weg zu einem guten und glücklichen Leben“ eröffnen können. Zum Abschluss listet sie eine Reihe wertvoller „Impulse“ für die unterrichtliche Praxis auf. Peter W. Schatt diskutiert das Potenzial einer „transkulturellen“ Musikpraxis, exemplarisch verwirklicht durch John McLaughlin und das indische Ensemble „Shakti“.
Katharina Bradler wirbt für einen Musikunterricht, der menschliche „Beziehungen“ ins Zentrum rückt. Ähnlich argumentiert Daniela Bartels (auf der Basis von Hannah Arendts Handlungsbegriff). Ulrich Mahlert schließlich wünscht sich Lehrende als „Resonanzseismographen“ (mit Blick auf die Resonanztheorie von Helmut Rosa). Fazit: Dass Musik Menschen gut macht, ist nicht garantiert. Aber es spricht sehr viel dafür, es zu versuchen.
Mathias Nofze