© Jenny Marielle Dilg

Dilg, Jenny Marielle

Corona und die Folgen

Wie können Musikerinnen und Musiker die Krise gut überstehen?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2021 , Seite 06

Im Frühjahr des Jahres 2020 begann sich eine Pandemie nie gekannten Ausmaßes in der ganzen Welt auszubreiten. Schnell wurde klar, dass die Corona-Krise für freischaffende KünstlerInnen wie für die gesamte ­Kultur­branche sehr schwierig werden würde. Niemand ahnte, wie es weiter­gehen würde. Keiner weiß, was kommen wird. Klar ist einzig, dass es sich um eine Krise ­handelt, die für jede und jeden eine persönliche Heraus-forderung darstellt und nach Hilfe zur Selbsthilfe verlangt.

Es ist August 2020 und ich sitze im Zuschauerraum der Schwartzschen Villa in Berlin. Kiyeon Kim spielt in der Durchlaufprobe die Estampes von Claude Debussy, später spielen wir als Duo Robert Schumanns Märchenbilder. Es ist das erste Konzert nach dem sogenannten Frühjahrs-Lockdown, in dem von heute auf morgen das Spielen vor Publikum unmöglich wurde. Die Klangwucht der Berliner Orchester hat sich in dieser Zeit für mich auf den Klang eines Klaviers reduziert. „Wenn man sich Reisen nicht leisten kann, muss man sie durch Fantasie ersetzen“, schreibt Debussy in einem Brief, während er die Estampes komponiert.1 So lasse ich mich in die Welt der Klänge entführen und lausche unendlich dankbar den Regentropfen, die De­bussy in Jardins sous la pluie wie Tränen auf die Tasten tropfen lässt.
Was kann uns MusikerInnen jetzt helfen? Dieser Artikel sollte ursprünglich thematisieren, wie wir Freischaffenden unseren Lebensunterhalt online verdienen können. Doch schnell wurde mir klar, dass Online-Aktivitäten das vorherige Konzertleben nicht ersetzen können. Selbst jene MusikerInnen, die sich online etablieren konnten, sehen sich durch die Corona-Krise vor persönlichen Herausforderungen.
Besondere Situationen, Erlebnisse oder Begegnungen können dazu führen, dass eine (erneute) intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun unausweichlich wird. So ist beispielsweise an der Universität der Künste Berlin die folgende Geschichte den Studierenden bestens bekannt: Ein berühmter Flötenprofessor gibt sein Leben lang leidenschaftlich gerne Konzerte. Er tourt durch die ganze Welt. An dem Tag aber, an dem seine Frau stirbt, nimmt er seine Flöte, legt sie in ihr Etui und hat seither nie wieder einen Ton gespielt. Diese Erzählung dürfte Generationen von angehenden MusikerInnen beeindruckt haben, denn sie zeigt deutlich, dass es Situationen gibt, die uns in unserem Schaffen tiefgehend erschüttern können.
Doch diese Geschichte kann uns jetzt helfen, denn wenn wir sie uns im Kontext der Corona-Pandemie vor Augen rufen, gibt sie uns ein Warnzeichen: Wer sich mit Kunst und Kreativität beschäftigt, weiß, dass manchmal eine Situation, eine Begegnung, ein Satz, ja sogar nur ein Wort oder ein Blick genügen, um den Verlauf der Karriere maßgebend zu beeinflussen – im positiven wie im negativen Sinn. Mit diesem Wissen können wir uns vorsichtig an die aktuelle Situation herantasten. Wir müssen die Situation sowie die damit einhergehenden Gefühle verstehen.
Was macht die Pandemie mit uns, wie können wir unser Können schützen und bewahren, damit es nicht von der Angst, sei es vor Arbeitslosigkeit oder dem Virus, zerfressen wird? Wie und warum üben wir, wenn wir weniger Aufträge oder Übeziele haben? Wenn Lethargie uns ergreift, wie kommen wir aus dieser wieder heraus? Wie können wir die „Corona-Zeit“ sinnvoll nutzen? Kann ich zuhause, alleine vor dem Computer mit der gleichen Leidenschaft spielen wie vor 10000 Zuschauern? Können wir in dieser Zeit wachsen und eine positive Veränderung erleben? Diese und ähnliche Fragen gilt es zu klären – jede und jeder für sich, aber auch im Austausch mit anderen.

Erste Hilfe

Wer viel auf Tournee war, kann die Sicherheitshinweise aus Flugzeugen bereits auswendig, und das oft in mehreren Sprachen. Besonders zu Beginn der Krise habe ich mich wie in einem Flugzeug gefühlt, das in Turbulenzen gerät: Man ist in das Jahr 2020 gestartet und dachte, alles wird wie immer. Es war, als hätte man sich in ein Flugzeug gesetzt und wäre zu einer Tournee aufgebrochen: Alles ist geplant, die Zeiten sind verabredet, die MusikerInnen gebucht, die Hotelzimmer stehen bereit, an Noten muss man nicht denken, denn sie werden einem aufs Pult gestellt, und man bekommt einen Plan für die Essenszeiten. Man kennt den Namen der Pultnachbarin oder des Pultnachbars. Doch plötzlich gerät das Flugzeug ins Wanken. Panik kommt hoch. Nichts ist wie immer. Fluggesellschaften haben hierfür standardisierte Sicherheitshinweise, für MusikerInnen gibt es diese jedoch nicht. Wir können uns aber „psychologische Sicherheitshinweise“ überlegen, die uns im Fall von durch die Corona-Krise ausgelösten psychologischen Turbulenzen helfen mögen.

1. Sich selbst helfen
Welche Schritte können mich stützen, wenn ich mich in der Krise nicht wohlfühle? Basierend auf den Erkenntnissen von Stefanie Kunz, Ulrike Scheuermann und Ingeborg Schürmann2 sowie auf eigenen Beobachtungen aus meiner Tätigkeit in der psychologischen Krisenintervention halte ich vier Punkte zur Stabilisierung im Alltag für besonders bedeutsam. Bezogen auf die aktuelle Situation könnte man an einen Musiker denken, dem alle Konzerte abgesagt wurden und der deshalb Angst vor der Zukunft hat. Die folgenden vier Punkte sind für jene konkrete Situation und die Tage danach gedacht. Im Prinzip kann man sie auf ein Stück Papier schreiben und immer bei sich tragen oder ins Handy einspeichern, damit man in schwierigen Situationen eine Hilfestellung hat – ausgehend von der Frage: Was könnte mir jetzt, in diesem konkreten Augenblick Freude bereiten?
– Struktur schaffen: z. B. früh aufstehen, jeden Tag üben mit Überoutine, Medienkonsum (Soziale Medien u. a.) reduzieren.
– Soziale Kontakte aufnehmen: z. B. sich mit lieben Menschen umgeben und Schönes unternehmen, für andere Menschen da sein, Witze machen, Kontakte (auch) online oder telefonisch pflegen.
– Ziele und Perspektiven überlegen: z. B. Aufnahmen, Übeziele, Träume, Dinge tun, die man sich noch nie getraut hat, für die man nie Zeit hatte oder die einem eigentlich peinlich sind.
– Mit sich selbst beschäftigen: z. B. fühlen, was man braucht und welche Bedürfnisse man hat, sich selbst lieben lernen und auf sich achten, Gedanken in positive Richtung lenken; Wohnung aufräumen, umgestalten, Sport machen, gutes Essen kochen, sich über kleine Dinge freuen, in die Natur fahren.
Einen weiteren Gedankenanstoß geben Kunz, Scheuermann und Schürmann mit ihrer sogenannten Wunderfrage, mit der Gedanken in eine neue Richtung gelenkt werden können.3 Was würde passieren, wenn jetzt ein Wunder geschehen würde? Was würde ich tun? Was würde ich mir wünschen? Dieses Mittel erinnert an die Form des musikpädagogischen Arbeitens mit Bildern und Assoziationen.
Ein Ansatz der psychologischen Krisenarbeit ist die Aktivierung von Ressourcen, die einem Menschen, der sich in einer krisenhaften Situation befindet, wieder Zugang zu positiven „Bewältigungsstrategien“ erlaubt.4 Da eine psychologische Krise häufig eine „Einengung […] der Wahrnehmung“ darstellt, ist es sehr wichtig, andere Perspektiven mit einzubeziehen und somit Gedankenteufelskreise zu durchbrechen.5 Wenn sich etwa immer wieder (berechtigt) quälende Fragen nach der Zukunft aufdrängen, könnte man zum Beispiel Freunde anrufen. Zudem ist es wichtig, Gefühle zuzulassen, denn nur das „Ausdrücken von Gefühlen ermöglicht ihre distanzierte Verarbeitung“.6 Bezogen auf unsere Situation ist es sehr wichtig, sich vor Menschen in seinem Umfeld zu öffnen und ehrlich zu sagen, wie man sich gerade fühlt, auch wenn es nicht immer positiv ist.

2. Anderen Unterstützung geben
Der Psychotherapeut Charles Benoy beschreibt das Konzept des „watchful waiting“. Damit ist ein beobachtendes Abwarten gemeint, bei dem wir in unserem Umfeld Personen erkennen, die sich nicht gut fühlen, und in regelmäßigen Abständen mit ihnen Kontakt aufnehmen, um die Gefährdung abzuklären und möglicherweise Hilfestellung zu geben – zum Beispiel durch ein Gespräch, durch Zuhören oder eine gemeinsame Aktivität.7 Dieses Konzept des „watchful waiting“ erscheint mir als besonders bedeutsam für uns MusikerInnen. Wenn wir regelmäßig mit Menschen aus unserem beruflichen und privaten Umfeld in Kontakt bleiben, so hat dies einen doppelt-positiven Effekt: Zum einen fühlen wir uns selbst besser durch die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte, zum anderen helfen wir eventuell anderen in schwierigen Situationen. Man kann verschiedene Möglichkeiten nutzen, zu Menschen aus seinem Umfeld Kontakt aufzunehmen, sei es ein Anruf, eine WhatsApp-Nachricht oder eine E-Mail. Dieser Austausch kann für beide Beteiligten einen stimmungsaufhellenden Effekt haben.

1 Debussy zitiert von Katharina Höhne in: Die ganze Welt im Kopf. Musikstück der Woche vom 24.10.2016, SWR2 online.
2 Stefanie Kunz/Ulrike Scheuermann/Ingeborg Schürmann: Krisenintervention. Ein fallorientiertes Arbeitsbuch für Praxis und Weiterbildung, Weinheim 2009.
3 ebd., S. 91.
4 ebd., S. 188 f.
5 ebd., S. 42 f.
6 ebd., S. 194.
7 Charles Benoy (Hg.): COVID-19. Ein Virus nimmt Einfluss auf unsere Psyche. Einschätzungen und Maßnahmen aus psychologischer Perspektive, Stuttgart 2020, S. 44 f.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2021.