Monno, Johannes

Wie lässt sich künstlerischer Einzelunterricht jenseits des Präsenzunterrichts gestalten?

Welche Möglichkeiten und Hindernisse bietet die digitale Welt?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2021 , Seite 12

Dass ein bis dato unbekanntes Virus unser Bildungssystem derart herausfordern und neue Wege der Vermittlung erzwingen würde, hätte vor März 2020 niemand geahnt. Da der Präsenzunterricht an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart auf unbestimmte Zeit unmöglich sein würde, war mein Interesse geweckt, die Möglichkeiten des Onlineunterrichts auszuloten. Wenn nicht jetzt, wann dann? Schließlich würden meine Studierenden so viel Zeit zum Üben und Arbeiten haben wie selten zuvor. Ähnlich wie die meisten KollegInnen betrat ich technisches Neuland und musste sehr schnell auch die Grenzen einer digitalen Unterrichtsumgebung erfahren.

Zwei wichtige Erkenntnisse gewinnt man gleich zu Beginn: Ohne technische Grund­voraussetzungen auf beiden Seiten macht das Ganze keinen Spaß! Außerdem lässt sich die gewohnte Unterrichtssituation nicht einfach so digital transferieren. Bewegungsabläufe, die im Unterricht dreidimensional erfasst werden können, sind auf zwei Dimensionen reduziert; der Fokus ist durch die Kameraeinstellung fest vorgegeben. Der Bildausschnitt ist fixiert und die Bildqualität hängt von den technischen Gegebenheiten ab. Es entfallen außerdem ganz wesentliche atmosphärische Impulse und Reize: das Spiel von Licht und Schatten im Raum, Umgebungs­geräusche, Raumtemperatur, Geruch, Bilder, Mobiliar und Ausstattung des Raums. Auch Nuancen in der Körpersprache und im mimisch-gestischen Bereich sind über den Bildschirm kaum oder gar nicht wahrnehmbar.
Die vielleicht größte Herausforderung betrifft jedoch den auditiven Bereich. Klang findet immer in Relation zum umgebenden Raum statt. Die Akustik bestimmt unser klangliches Empfinden und hat einen entscheidenden Einfluss auf sämtliche musikalische Parameter. Dies betrifft auch die Sprache: Dynamische und artikulatorische Feinheiten in der Aussprache, das Sprachtempo und bewusste Pausen vermitteln sich via Internet oftmals nicht wie intendiert. Letztlich kann man sich nie sicher sein, wie das Gespielte, Gesungene bzw. Gesprochene beim Gegenüber ankommt. Die bisweilen technisch bedingte Verzerrung und Instabilität der Verbindung kann als Ohnmacht und extreme Störung empfunden werden: Schlagartig verschwindet dann alles Subtile, Ätherische, Atmosphärische – Aspekte, die für eine künstlerische Arbeit unverzichtbar sind.
Die Reduktion der sinnlich wahrnehmbaren Reize und Impulse stellt eine enorme Herausforderung dar: Was kann ich in dieser eingeschränkten Situation überhaupt vermitteln und welche Wege bleiben mir? In jedem Fall muss die Sprache äußerst klar und differenziert sein, um Inhalte anschaulich transportieren zu können. Je bildhafter und assoziativer sie ist, desto besser lassen sich auch Klangvorstellung, Fantasie und Gefühle evozieren. Die Studierenden sind in höherem Maße herausgefordert, sich klangliche und interpretatorische Feinheiten selbst zu erschließen.
Trotz aller Einschränkungen und Hindernisse bietet der Onlineunterricht ein großes Potential für Zeiten, in denen Präsenzunterricht unmöglich ist. Außerdem kann er eine effiziente Ergänzung darstellen: Rückfragen zu gestalterischen und technischen Aspekten wie Fingersätze, Bewegungsabläufe etc. lassen sich zwischen den Präsenzstunden sehr gut klären. Für mich haben sich folgende Unterrichtsformate als sehr brauchbar erwiesen:

1. Audioaufnahme mit anschließendem Unterricht (asynchron – synchron)

Die Studierenden erstellen und schicken mir eine Audioaufnahme und wir analysieren diese dann gemeinsam telefonisch oder per Videokonferenz. Es ist ja schon ein Wert an sich, eine Aufnahme zu realisieren, mit der man einigermaßen zufrieden ist und die den Arbeitsprozess gut dokumentiert. Die Tonqualität ist dabei in der Regel sehr gut, da brauchbare Audiorecorder heute sehr günstig erhältlich sind. Um technische Details zu diskutieren und musikalische Strukturen zu analysieren, reicht die Qualität per Internetkonferenz fast immer aus. Persönlich nutze ich drei Kameras, zwischen denen ich sehr flexibel hin und her schalten kann (linke und rechte Hand, Totale). Außerdem genieße ich die Möglichkeit, Noten bei Bedarf via Tablet auf den Bildschirm der Studierenden zu transferieren und mit Anmerkungen zu versehen.
Andrea Mondolfo, eine Studentin von mir im Masterstudiengang Pädagogik schreibt dazu: „Ursprünglich bestand die Idee darin, meinem Professor vor dem Onlineunterricht eine Aufnahme zu schicken, damit er mein zurzeit erarbeitetes Werk in bestmöglicher Qualität hören kann. Dabei stellte sich heraus, dass diese Tätigkeit weitere positive Aspekte zur Folge hatte. Es entwickelte sich ein innerer Ehrgeiz und Anspruch, eine besonders schöne und fehlerfreie Version aufzunehmen. Während des Aufnehmens ergab sich eine Vorspielsituation, welche – wie auch beim Vorspielen vor Publikum – einen gewissen Grad an Nervosität hervorbrachte. Es entstand ein Prozess von genauerem Zuhören, Reflektieren und Verbessern.“

2. Aufnahme mit Audioantwort (asynchron)

Eine mir zugesandte Aufnahme beantworte ich mit einer kommentierten Audioaufnahme. Zunächst importiere ich die Datei der Studierenden in mein Audioprogramm. Anschließend stoppe und schneide ich an den relevanten Stellen, um einen verbalen und/oder gespielten Kommentar einzufügen. Außerdem kann die eine oder andere Stelle exemplarisch „vor- und mitgeübt“ werden. Die fertige Unterrichtsdatei wird dann an die Studierenden zurückgeschickt. Auf diese Weise können klangliche und musikalische Aspekte oftmals einfacher und präziser als nur mit Worten dargestellt werden. Kim Sulkowski, Studentin im Bachelorstudiengang Gitarre schreibt dazu: „Dieses erbrachte mir unvorhersehbare Vorteile, denn ich konnte die Aufnahme stets von vorne anhören. Das ermöglichte mir auch zu einem späteren Zeitpunkt, mich nochmal kritisch mit dem Feedback meines Lehrers auseinanderzusetzen.“

3. Schriftlicher Austausch (asynchron)

Eine Audioaufnahme schriftlich zu diskutieren, ist aufwendig und verlangt eine tiefer­gehende Auseinandersetzung mit dem Werk und der Interpretation. Aber betrachtet man in der Musikgeschichte den oftmals wundervollen und inspirierenden Schriftverkehr vieler Komponisten mit Kollegen, aber auch ihren Interpreten, weiß man um die Bedeutung eines solchen Gedankenaustauschs. Auch diese Form fand mehrfach Anwendung in dieser besonderen Zeit.

4. Seminar „Geschichte der Gitarre“ (synchron)

Das Seminar „Geschichte der Gitarre“ lief von Beginn des Sommersemesters an online. Insbesondere die komfortable Einbindung von Präsentationen, Musikbeispielen und verschiedenen Kommunikationsstrukturen bietet enorme Möglichkeiten. Dabei ist mir aufgefallen, wie wichtig die Raumgestaltung ist. Durch eine hochwertige Webcam, eine angenehme Lichtsituation und eine entsprechende Gestaltung des Hintergrunds lässt sich eine ansprechende visuelle Atmosphäre schaffen.

Während ich dies schreibe, im November 2020, befinden wir uns im Lockdown 2.0. Für die Möglichkeit, wieder Einzelunterricht in Präsenz an meiner Hochschule durchführen zu können, bin ich sehr dankbar. Dennoch baue ich regelmäßig Onlineformate für erkrankte oder sich in Quarantäne befindende Studierende sowie mein Seminar „Geschichte der Gitarre“ via Onlineplattform in meinen Wochenplan ein. Wenngleich der Präsenz­unterricht in seiner Unmittelbarkeit und Feinheit unersetzlich ist, hat das Onlineformat durchaus seine Berechtigung: nicht nur als Notlösung in Krisenzeiten, sondern auch als sehr brauchbare Ergänzung im normalen Unterrichtsalltag.

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