Helms, Dietrich (Hg.)

Musik in Konfrontation und Vermittlung

Beiträge zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2018 in Osnabrück

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: epOs, Osnabrück 2020
erschienen in: üben & musizieren 2/2021 , Seite 59

Herausgeber Dietrich Helms leistete sein Möglichstes, um den Eindruck von Einheitlichkeit zu erreichen. Aber dies hat natürlich Grenzen: Er wollte sein gastgebendes Institut gut positionieren, aber auch der Heterogenität der Beiträge – thematisch, methodisch wie qua­litativ – gerecht werden.
In diesem Buch glitzern einige Kleinodien, z. B. aus der Regionalmusikforschung: ein Bericht von Louis Delpech über Musikermigration und Kulturtransfer in Osnabrück im Spät-Absolutismus, der mit sorg­fältigsten Materialstudien so manchen Historiker-Vorurteilen den Boden entzieht. Oder der Versuch „empirischer Interpretationsvergleiche“ von Julian Caskel am Beispiel von Werken von Andrzej Panufik, Isang Yun und Bernd Alois Zimmermann, wo versucht wird, mit diffizilen Messmethoden den Beitrag unterschiedlicher Interpretationen für die Konstituierung eines Werks zu bestimmen.
Praxisrelevant ist auch Jieun Kims Analyse von zwei koreanischen Chorwerken, die deren Komponisten – Young Jo Lee und Texu Kim – für andere Musikkulturen und Klangwelten öffnen wollten und sich dabei diesseits und jenseits traditioneller koreanischer Musikkultur bewegen. Daran hätte sich eine Debatte postkolonialer Musikpraxis und -theorie anschließen können. Diese Debatte fällt insgesamt aus, auch dort, wo sie nach der Systematik dieses Kongressberichts hätte stattfinden müssen, nämlich wenn es um kulturelle Identitätskonzepte geht.
Im Schwerpunkt Musikvermittlung/Musikpädagogik sind vor allem die „Betrachtungen zum musikvermittlerischen Praxisfeld ‚Schulmaterialien‘“ von Kerstin Unseld anregend. Als aufregend und neu entpuppt sich der Kongressschwerpunkt „Der erste Weltkrieg in der musikwissenschaftlichen Forschung“. Zum einen überzeugt die Annäherung von Seiten aller am Krieg beteiligten Länder, zum anderen die Vielfalt der Musikbezüge. Atemberaubend der Text von Esteban Buch, „Seeing the Sound of Silence in the Great War“: Wie wird das Schweigen der Waffen hörbar und – tatsächlich – sichtbar?
Wütend könnte man darüber werden, dass immer noch Recherchen zu den Verstrickungen einiger Musikwissenschaftler mit dem Nationalsozialismus nötig sind und dabei Un- oder wenig Bekanntes zutage fördern; Diskussionen provozieren sicher die interessanten Thesen über die Vereinnahmung von Carl Orffs Carmina burana durch Rechts­extreme (Yvonne Wasserloos).
Und die „Zunft“ sollte sich auseinandersetzen mit den Ergebnissen der Fachgruppe „Nachwuchsperspektiven“ über Ist-Stand und Zukunft der musikwissenschaftlichen Lehre. In Hinblick auf den augenblicklichen Zustand der Unis und ihres Lock-down-Geworfenseins auf Online-Kommunikation ist vieles von dem 2018 diskutierten Stand of the Arts prophetisch und niederschmetternd. Vielleicht gibt Corona einen Zwangsschub.
Dorothea Kolland