© Nico Herzog

Jachmann, Jan / Andrea Welte

„Das hab ich mir anders vorgestellt“

Irritationen und Explorationen von Lehrenden im Projekt ­„ImproKultur“

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2021 , Seite 18

Welche Arten von „Praxisschock“ können beim Einstieg in musika­lischen Improvisationsunterricht mit größeren Gruppen auftreten? Und welche Kompetenzen helfen angehenden Musiklehrkräften im Umgang damit?

Der Einstieg in die Praxis ist für angehende Musiklehrende im nichtschulischen Feld oft fließend. Die meisten Studierenden künst­lerisch-pädagogischer Studiengänge unterrichten bereits während ihres Studiums. Sie teilen und diskutieren ihre Erfahrungen in Lehrveranstaltungen und können ihre Umgangsweisen mit praktischen Herausforderungen peu à peu entwickeln. Ein Praxisfeld, das Studierende unserer Erfahrung nach dennoch vor deutliche Herausforderungen stellt, ist der Unterricht mit größeren Gruppen, in dem es darum geht, gemeinsam ergebnisoffen zu musizieren.
Im Folgenden schreiben wir über unsere Erfahrungen mit dem Projekt „ImproKultur“ der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, das einen an Gruppenimprovisation orientierten Ansatz verfolgt: Welche Ziele verfolgt das Projekt? Welche speziellen Herausforderungen ergeben sich aus dem ergebnisoffenen, prozessorientierten Format für die Lehrenden? Welche Kompetenzen1 helfen ihnen, um in der Praxis mit diesen Herausforderungen umzugehen und improvisationsbasierten Unterricht erfolgreich zu gestalten?

Projekt „ImproKultur“

Das Projekt „ImproKultur“ wird seit 2015 von der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover zusammen mit mittlerweile vier Hannoveraner Schulen durchgeführt. Es ermöglicht neu nach Deutschland zugewanderten Kindern und Jugendlichen, gemeinsam mit anderen SchülerInnen allgemeinbildender Schulen und den Musiklehrenden wöchentlich 90 Minuten zu improvisieren. Charakteristisch für die Arbeit in „ImproKultur“ ist ein weit gefasster Improvisationsbegriff: Freie Improvisation findet ebenso statt wie gebundene; Geschichten und Bilder werden vertont, Körperbewegung und Musik in explorativen Übungen miteinander verbunden. Die Gruppen haben eine Größe von maximal 16 Personen und werden von fortgeschrittenen Studierenden und Alumnae bzw. Alumni der Hochschule in Dreierteams unterrichtet.
Neben der Förderung individueller Musizierfähigkeiten verfolgt der „ImproKultur“-Unterricht mit seinem auf Gruppenkreativität ausgerichteten Ansatz das Ziel, die SchülerInnen in ihren Kompetenzen zum gemeinsamen Erfinden von Musik zu stärken: Sie lernen, eigene musikalische Vorstellungen zu entwickeln, sie gegenüber anderen zu artikulieren, die Ideen ihrer MitschülerInnen nachzuvollziehen und im Austausch darüber zu gemeinsamen musikalischen Ergebnissen zu finden.2 Hierzu benötigen auch die Lehrenden spezielle Kompetenzen, die sie im Rahmen des Projekts entwickeln.
Im Folgenden stellen wir zwei Kompetenzfelder vor, die sich im Zuge unserer Forschung zum Projekt3 für die Lehrenden als hilfreich erwiesen haben, um die SchülerInnen in ihren Fähigkeiten zum gemeinsamen Erfinden von Musik zu fördern. Zum einen erarbeiteten sie sich Fähigkeiten darin, mit ihren SchülerInnen zu explorieren, wie das gemeinsame Lehren und Lernen im Unterricht aussehen kann. Zum anderen mussten sie produktive Umgangsweisen damit entwickeln, dass ihre SchülerInnen ganz andere Grundvorstellungen als sie selbst davon haben, was Musik und Musizieren sei.

Lernen und Lehren gemeinsam explorieren

Im Vergleich zu sonst üblichem Musik- bzw. Musizierunterricht sind die Unterrichtsprozesse und -ergebnisse in „ImproKultur“ offener und flexibler. Es gibt keinen Lehr- oder Rahmenplan, der Unterricht wird als ergebnisoffene Kooperation begriffen. Dass es keinen vordefinierten roten Faden gibt, erwies sich für die Lehrteams als produktive Herausforderung und ständige Quelle von Irritation. So konnten sie ihr Bewusstsein dafür vertiefen, dass Unterricht ergebnisoffen und schülerabhängig ist. Sie erweiterten ihre didaktischen Kompetenzen darin, Unterricht flexibel und mit SchülerInnen und KollegInnen gemeinsam „lernorientiert“ zu gestalten.
Der explorativ-improvisatorische didaktische Ansatz von „ImproKultur“ erzeugte produk­tive Irritationen auf drei Ebenen: 1. im Umgang der Lehrenden mit Planung, 2. in ihrem Umgang mit dem Unvorhersehbaren und 3. im Bereich der gemeinsamen Exploration und Reflexion des Lehrens und Lernens.

1. Voll verplant?
Die Funktion von Unterrichtsplanung liegt in einem Projekt wie „ImproKultur“, bei dem mehrere Lehrende im Team Gruppenunterricht ohne festen Rahmenplan gestalten, auf der Hand: Sie bietet Sicherheit für die Lehrenden, hilft bei der Orientierung, ermöglicht ein zielorientiertes Vorgehen und eine strukturierte, systematische und effektive Vermittlung („roter Faden“).4 Planung und Vorbereitung gehen dabei meist Hand in Hand, z. B. durch das Beschaffen oder Bereitstellen nötiger Medien oder das Durchdenken einer lernförderlichen Raum- oder Gruppeneinteilung. Zu den Problemen von Unterrichtsplanung gehört, dass sie die Illusion vermitteln kann, der Lernprozess könne genau gesteuert und kontrolliert werden. Wird eine Planung starr befolgt, kann sie zudem das flexib­le Eingehen auf konkrete SchülerInnen in konkreten Situationen verhindern.
Dabei ist Planung an sich nicht problematisch. Entscheidend ist, wie die Lehrenden damit umgehen. Wird stur versucht, einen Plan durchzuführen? Wie wird auf Abweichungen reagiert? Sind sie erlaubt, ja sogar erwünscht, oder gelten sie vielmehr als Störungen, die es zu vermeiden gilt? Und sind Alternativen Bestandteil der Planung?
Speziell im Blick auf unser Projekt und dessen künstlerischen Kern, die Improvisation, stellte sich die Frage, ob eine gemeinsam improvisierte Musik nicht auch eine improvisierende Didaktik benötigt.5 Ohne Zweifel benötigt Improvisation Freiräume. Eine lustvolle kollektive Improvisation kann nicht erzwungen, sondern nur geschickt angebahnt werden. Mut zum Experiment und zur Improvisation gehören darum für uns auch hinsichtlich der Planung und Durchführung des Unterrichts zu den didaktischen Leitlinien.
Ein enorm wichtiger Lernschritt hin zu einer Balance zwischen Struktur und Freiheit war für unsere Teams, den Unterricht zwar möglichst detailliert zu planen, bis hin zur Vorformulierung sprachlicher Impulse, sich dann aber bei der Durchführung nicht streng an den Entwurf gebunden zu fühlen. Vielmehr mussten die Lehrenden lernen, als Einzelpersonen wie auch als Team, mit dem Plan auf eine entspannte, neugierige, offene und spielerische Art und Weise umzugehen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich in einigen Teams eine Vorbereitung, die neben der – nach wie vor als sinnvoll und nötig empfundenen – Stundenplanung einen Pool an Methoden und Materialien enthielt, aus dem flexibel in der konkreten Unterrichtssituation geschöpft werden konnte.

2. Umgang mit ­Unvorhergesehenem
In einem auf Improvisation ausgerichteten Unterricht ist das Unvorhersehbare erwünscht.6 Die Improvisation nicht nur in einem eng gesteckten didaktischen Rahmen, mit von den Lehrenden vorgegebenen Spielregeln zuzulassen, sondern – auch bei der Arbeit mit einer großen, heterogenen, herausfordernden Gruppe – tatsächlich offen zu sein für das Unvorhergesehene, das heißt sich bietende Chancen in der konkreten Situation auch zu erkennen und zu ergreifen, erfordert von den Lehrenden eine hohe Präsenz sowie Mut und Flexibilität. Sie müssen bereit sein, Unterschiede zu akzeptieren, Scheitern in Kauf zu nehmen, eigene Vorstellungen und Planungen über den Haufen zu werfen, und sich möglichst unvoreingenommen und mit einer freundlichen, aufgeschlossenen Grundhaltung auf Einfälle, Vorschläge und Aktionen der SchülerInnen wie der Mitlehrenden einlassen.

1 vgl. zum Kompetenzbegriff im Musizierunterricht ­Ulrich Mahlert: Wege zum Musizieren. Methoden im ­Instrumental- und Vokalunterricht, Mainz 2011, S. 96-104.
2 vgl. Andrea Welte: „ImproKultur oder die Kunst der Flexibilität. Erfahrungen aus einem musikalischen Bildungsprojekt mit neu zugewanderten Kindern und ­Jugendlichen“, in: Katharina Bradler (Hg.): Vielfalt im Musizierunterricht. Theoretische Zugänge und prak­tische Anregungen, Mainz 2016, S. 247-260.
3 vgl. zu unserem Forschungsansatz ausführlich Andrea Welte/Jan Jachmann: „Transformationen im Musik­improvisationsunterricht. Wie Schüler*innen und Lehrer*innen aus kulturellen Differenzen heraus Musikkultur verändern“, in: Thade Buchborn/Eva-Maria Tralle/ Jonas Völker (Hg.): Interkulturalität – Musik – Pädagogik, Hildesheim 2020, S. 189-199.
4 vgl. Barbara Busch/Barbara Metzger: „Instrumentalunterricht planen“, in: Barbara Busch (Hg.): Grundwissen Instrumentalpädagogik. Ein Wegweiser für Studium und Beruf, Wiesbaden 2016, S. 356.
5 vgl. Ursula Brandstätter: „Experimentelle Musik erfordert experimentelle Didaktik. Das Projekt ‚Querklang‘ an der Universität der Künste Berlin“, in: Diskussion Musikpädagogik 51/2011, S. 12-16.
6 vgl. Reinhard Gagel: Improvisation als soziale Kunst. Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität, Mainz 2010.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2021.