Bellmann, Kathrin

Probespiel auf dem Prüfstand

Ergebnisse aktueller empirischer Studien zur Evaluation des ­Auswahlverfahrens für OrchestermusikerInnen

Rubrik: Forschung
erschienen in: üben & musizieren 3/2021 , Seite 48

Probespiel: Hinter dem harmlos anmutenden Begriff verbirgt sich in den Augen vieler eines der härtesten Auswahlverfahren der Welt. Dabei kommt es trotz eines Überangebots hervorragend ausgebildeter Musike­rInnen auf dem Arbeitsmarkt derzeit nicht selten vor, dass Probespiele ergebnislos abgebrochen werden oder die ausgewählte Person die Probezeit nicht besteht. In meiner Promotions­studie1 erarbeitete ich Verbesserungs­vorschläge für das in der Kritik stehende Verfahren. Darüber hinaus gebe ich Anregungen, welche Folge­rungen sich aus den vorliegenden Ergebnissen für die musikpädagogische Arbeit in Musikschulen ableiten lassen.

Auf der ganzen Welt werden in Probespielen mittels extrem kurzer, aus dem musikalischen Zusammenhang gelöster und überwiegend solistisch performter Stückchen Musik neue Orchestermitglieder ausgewählt; den Probespielenden stehen in einer ersten Runde dabei kaum mehr als fünf Minuten für die musikalische Vorstellung zur Verfügung. Als Jury fungiert ein Großteil der zukünftigen Kol­leginnen und Kollegen; 50 MusikerInnen und mehr sind keine Seltenheit. Wie auch bei musikalischen Wettbewerben – z. B. „Jugend musiziert“ – üblich, existieren keine vorab festgelegten Bewertungskriterien. Die Entscheidungsfindung erfolgt meist in Form einer offenen Abstimmung. In dieser Form ist das Probespiel seit den 1970er Jahren nahezu unverändert.

Anforderungsprofil für OrchestermusikerInnen

Um das Probespiel in seiner Eigenschaft als Personalauswahlverfahren zu evaluieren, ist ein Abgleich mit den später im Beruf relevanten Kompetenzen ausschlaggebend: eine sogenannte Anforderungsanalyse.2 In einem ersten Schritt nahm ich eine inhaltliche Analyse verschiedener Experteninterviews, Zeitungsartikel und wissenschaftlicher Studien zu dieser Fragestellung vor, deren Resultat in Abbildung 1 dargestellt ist. Die Relevanz des jeweiligen Kompetenzbereichs lässt sich leicht an der Häufigkeit der Erwähnungen in den untersuchten Quellen ablesen, in der Grafik von links nach rechts abnehmend.3

Dass auch „Schnelles Lernen und Vom-Blatt-Spiel“ seinen Platz in diesem Anforderungsprofil findet, mag zunächst verwundern – schließlich stehen Spielpläne von Opernhäusern und Sinfoniekonzerten monatelang im Voraus fest. Die Anforderung, auch spontan für erkrankte Kolleginnen und Kollegen einspringen zu können, volle Spielpläne sowie besonders langes Repertoire (etwa Opern von Richard Strauss oder Richard Wagner) machen es jedoch unmöglich, Repertoire lange im Voraus vollständig und gründlich zu üben.
OrchestermusikerInnen müssen also mindestens in der Lage sein, innerhalb kürzester Zeit eigenständig eine große Menge an Noten zu sichten und die wichtigsten Stellen daraus vorzubereiten („Blattspiel plus“4).
In einem empirischen Setting ließ ich Live-Probespiel-Performances von vorbereitetem Repertoire und Vom-Blatt-Spiel durch professionelle OrchestermusikerInnen bewerten und stellte dabei fest, dass diese nicht signifikant miteinander korrelierten: Das heißt ein Geiger, der ein fantastisches Mozartkonzert spielte, überzeugte nicht unbedingt auch im Vom-Blatt-Spiel und umgekehrt.

Offenes und geschlossenes Musizieren

Erklären lässt sich dieser Befund unter anderem damit, dass Vom-Blatt-Spiel im Unterricht selten praktiziert wird, Repertoire hingegen (vor allem auch das im Probespiel häufig abgefragte) oft monate- oder sogar jahrelang eingeübt wird. Aus der Sportpsychologie wissen wir jedoch, dass beide Fähigkeiten grundlegend unterschiedliche Anforderungen an das Gehirn stellen:5 Beim Abrufen eingeübten Repertoires handelt es sich um eine geschlossene Fähigkeit, vergleichbar beispielsweise dem Turmspringen im Sport; beim Vom-Blatt-Spiel dagegen um eine offene Fähigkeit, vergleichbar mit jeder beliebigen Teamsportart. Letztere ist dadurch gekennzeichnet, dass das Gehirn stark aktiv konstruieren muss, statt ein eingeübtes motorisches Programm abzurufen – im Fußball muss ich den in diesem Moment perfekten Spielzug erkennen und ausführen; beim Vom-Blatt-Spiel die musikalische Fortführung einer Phrase antizipieren und spontan umsetzen.

1 Kathrin Bellmann: Das Probespiel im Orchester als Personaleignungsdiagnostik. Problemstellungen und Lösungsansätze (= „Schriften des Instituts für Begabungsforschung in der Musik“, Band 16), LIT, Münster 2020.
2 vgl. Heinz Schuler: Lehrbuch der Personalpsychologie, Göttingen 2006, S. 45 f.
3 Im Abgleich mit dem aktuell gängigen Probespielprozedere verwundert dabei vor allem, dass weder die beiden nicht-musikalischen Kompetenzbereiche persönliche Kompetenzen (v. a. Gewissenhaftigkeit, Selbstbewusstsein) und Sozialkompetenzen (z. B. Empathie, Konfliktmanagement) in irgendeiner Form im Probespiel geprüft werden noch, und dies ist besonders eklatant, orchestrales Zusammenspiel – die offensichtlich mit Abstand wichtigste Kompetenz im Orchester. Im Gegenteil: Im Rahmen eines Probespiels wird jegliches Repertoire vom Probespielenden unter Entfernung des ursprünglichen musikalischen Kontextes solistisch performt. Einige wenige Orchester, z. B. die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, gehen diesbezüglich bereits neue Wege und haben mit sehr guten Erfahrungen eine Kammermusikrunde in ihr Probespielverfahren integriert.
4 Diesen Begriff prägte Martin Wulfhorst in The orchest­ral violinists’s companion (Kassel 2012) für eine Vorbereitungstechnik, die aus Sichtung des gesamten Notenmaterials, auditivem Vorstellen relevanter Passagen, Identifizieren der wichtigsten Stellen und Üben derselben besteht (S. 56 f.).
5 vgl. Andreas C. Lehmann/Rolf Oerter: „Lernen, Übung und Expertisierung“, in: Herbert Bruhn/Reinhard Kopiez/Andreas C. Lehmann (Hg.): Musikpsychologie. Das neue Handbuch, Hamburg 2008, S. 105-128.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2021.