Caskel, Julian

Die Theorie des Rhythmus

Geschichte und Ästhetik einer Denkfigur des 20. Jahrhunderts

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: transcript, Bielefeld 2020
erschienen in: üben & musizieren 3/2021 , Seite 56

„Alles hat einen Anfang, nur der Rhythmus hat zwei.“ Was klingt wie ein kölsches Karnevalslied ist der erste Satz einer großen Untersuchung zur Theorie des Rhythmus, die der Musikwissenschaftler Julian Caskel 2017 als Habilitationsschrift vorlegte und die kürzlich im transcript-Verlag erschien. Inhaltlich beschreibt die Aussage das Phänomen, dass es erst der zweite Impuls ist, der in einer rhythmischen Ereignisfolge unsere Zeitwahrnehmung bestimmt. Erst ab dem zweiten Schlag ist der Rhythmus da, definiert wird er von seinem Doppelanfang her.
Nach diesem hier äußerst vereinfacht dargestellten Auftakt (!) fächert der Autor, der im Bereich der systematischen und historischen Musikwissenschaft in Köln und Essen lehrt und zu dessen Arbeitsschwerpunkten die intermediale Musikästhetik sowie die neuere Musikgeschichte zählen, in seinem Werk eine große Vielfalt an rhythmusrelevanten Themenfeldern auf.
Auf die Einführung in die entsprechende Theoriebildung im 20. Jahrhundert folgen mehrere große Kapitel, die in Breite und Ausführlichkeit bestimmte Phänome beschreiben, einordnen und kritisieren, die im weitesten Sinne rhythmischer Natur sind. Diese eher locker strukturierte Reise führt uns in ganz unterschiedliche Zeiten und Kontexte. Einerseits wird die Musik des 20. Jahrhunderts behandelt, etwa die Zeitschichtungen bei Ligeti, Nørgård und Messiaen oder die metrische Ereignisverteilung bei Strawinsky und Cowell. Andererseits begegnen wir Konzepten der bildenden Kunst (z. B. das Verhältnis von Punkt und Linie bei Paul Klee) oder antiken Mythen wie dem Gesang der Sirenen und dem Wettrennen des Achilles mit einer Schildkröte. Beide starten zum selben Zeitpunkt, aber die Schildkröte erhält anfangs einen Vorsprung. Obwohl Achilles viel schneller ist, kann er sie niemals einholen. Denn Achilles muss immer zuerst den Punkt erreichen, an dem die Schildkröte gestartet ist. Bis zu diesem Zeitpunkt wird sich die Schildkröte, wenn auch nur um eine kleine Strecke, zu einem anderen Punkt vorwärts bewegt haben. In der Folge wird ihr Vorsprung immer kleiner, er bleibt aber bestehen. Ein rhythmisches Paradoxon scheint auf: das der extremen Verknappung und Verkürzung von Zeit.
So wandelt Julian Caskel auf gut 400 Seiten durch die Geschichte und Ästhetik einer Denkfigur des 20. Jahrhunderts, stets im angemessen wissenschaftlichen Duktus. Der hohe Komplexitätsgrad des Dargestellten erfordert ein konzentriertes Lesen, wobei das Vokabular erfreulicherweise mit einem auffällig geringen Anteil an (musik-)wissenschaftlicher Terminologie auskommt. Belohnt werden alle, die sich auch ohne ein explizit wissenschaftliches Interesse dem Thema nähern wollen. Sie werden Vergnügen darin finden, den geist- und assozia­tionsreichen Gedankenschleifen zu folgen. Bis hin zur Quintessenz: Alles hat ein Ende, nur der Rhythmus hat keins.
Stephan Froleyks