© Gesa Riedel

Riedel, Gesa

Mut zur Videoanalyse

Multiperspektivische Betrachtung eines digitalen synchronen Instrumentalunterrichts

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 4/2021 , Seite 30

Der digitale synchrone Instrumental­unterricht wurde durch den corona-bedingten Shutdown über Nacht un­abdingbar. Erfahrungen damit gab es zuvor allerdings kaum. Viele Plattformen und Zeitschriften hielten den Notfallkoffer bereit.1 Nun ist es an der Zeit, das musikbezogene Lehren und Lernen im Onlineunterricht durch multiperspektivische Reflexionen genauer zu betrachten und damit zur Professionalisierung in diesem Feld beizutragen.

Mir ist es ein wichtiges Anliegen, InstrumentalpädagogInnen dazu anzuregen, eigene Reflexionen ihres Digitalunterrichts zu wagen, denn – wie Peter Knodt schrieb –: Mit dem Video sieht man anders. Er beobachtete bei der Verwendung von Videoaufnahmen im Unterricht, dass durch die wiederholte Auseinandersetzung mit den Aufnahmen das Video für ihn eine große Hilfe war.2 Für diesen Artikel habe ich daher meine multiperspektivischen Analysen und Reflexionen zum digitalen Unterricht, die ich auf der Grundlage videografierter eigener Unterrichtsstunden durchgeführt habe, zusammengefasst.
Die Unterrichtsstunden fanden über Zoom statt und wurden nach Genehmigung der SchülerInnen und Eltern mitgeschnitten. Dadurch, dass die Kamera bei Zoom-Konferenzen fest installiert ist, handelt es sich meist um konstante Nahaufnahmen. Vorteilhaft ist jedoch, dass die Videoaufnahmen im digitalen Instrumentalunterricht ungestört nebenbei entstehen.
Mit dem Ziel einer angemessenen Distanzierung zum eigenen Videomaterial habe ich die Videos aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet: aus Sicht der Lehrkraft, aus Sicht der Schülerin oder des Schülers und der Interaktion zwischen Lehrkraft und SchülerIn. Zudem habe ich mich dem Material zunächst deskriptiv, also beschreibend genähert. Dazu habe ich Videomaterial in thematische Abschnitte gegliedert und im Einzelfall von Sekunde zu Sekunde beschrieben, bevor ich mich dem Analyseprozess mit den unterschiedlichen Perspektiven gewidmet habe.

Potenzial der multi­perspektivischen Analyse

Die Lehrenden-Perspektive stellt im Analyseprozess das Lehren und damit die Lehrperson in den Mittelpunkt. Dabei wurde beobachtet, wie die Lehrkraft Unterrichtsziele verfolgt und dabei berücksichtigt, welche unterschiedlichen Unterrichtsziele vorab definiert sind. Anselm Ernst benennt folgendes Ordnungsprinzip von Zielen, die ich bei der Analyse ebenfalls betrachtet habe: motorische Ziele, emotionale Ziele und kognitive Ziele.3
Die Lernenden-Perspektive rückt das Individuum der Schülerin bzw. des Schülers ins Zentrum. Mit einer Orientierung am pädagogischen Konstruktivismus, als Wende von der Wissensvermittlung hin zur Unterstützung selbstgesteuerter Lernprozesse,4 steht daher die Aneignungsperspektive, der Selbstbildungsprozess der SchülerInnen im Fokus.
Die Interaktionsperspektive schließt die ge­nannten Perspektiven mit ein. Es wird angenommen, dass alles, was im Unterricht – also auch im Digitalunterricht – passiert, grundlegend Interaktion ist, sodass beobachtet werden kann, wie die SchülerInnen und die Lehrkraft in der Interaktion agieren. So rückt eine Mikrostruktur von Unterricht in den Blickpunkt.5
Diese multiperspektivische Herangehensweise erwies sich im Rahmen meiner Analysen als hilfreiche Strukturierung. Dank dieser Herangehensweise konnte ich bei der Auswertung des Videomaterials aber auch erkennen, dass die einzelnen Perspektiven ineinanderfließen. Beispielsweise findet sich in meinen Videomaterial eine Sequenz, in der ich mir als Unterrichtsziel das Erlernen einer neuen Position auf dem Cello gesetzt hatte. Ich zeige dazu die Fingersätze in der neuen Lage direkt in die Kamera (Lehrenden-Perspektive), womit sich zugleich eine Interaktionsperspektive eröffnet. Die Schülerin nimmt parallel einen Stift zur Hand und schreibt synchron mit (Abb. 1, siehe oben). Hier kann aus der Lernenden-Perspektive der Aneignungsprozess der Schülerin beobachtet werden.
Darüber hinaus eignet sich das Einnehmen einer Perspektive für einen möglichst detaillierten Einblick in den Unterricht. Aus der Interaktionsperspektive lassen sich hier beispielsweise aufeinander reagierende Gesichtsausdrücke und Gesten von SchülerInnen und Lehrkraft beobachten, die ich auf diese Weise im Unterricht kaum und vor allem nicht ausreichend reflektiert wahrnehmen kann. An dieser Stelle ein Auszug aus meinem Material: John hebt fragend seine linke Hand, ob es so richtig war, und ich bestätige im Folgenden, dass er den Rhythmus richtig gesprochen hat. Es zeigt sich anschließend eine aufhellende Gesichtsmimik. Die Lippen formen sich erneut zu einem „Ah“, ohne die Stimme einzusetzen. Die Zunge, die John dann beim Spielen zwischen die Lippen presst, zeigt mir seine Anstrengung. Es folgt der fragende Blick in die Kamera, ob der Rhythmus jetzt richtig war. Ich blicke ebenfalls in die Kamera und reagiere mit einem „sehr gut“.

1 z. B. die Materialsammlung von üben & musi­zieren online: Vernetzt. Tipps & Materialien für Onlineunterricht, www.uebenundmusizieren.de/ ausgabe/vernetzt (Stand: 1.6.2021).
2 Peter Knodt: „Mit dem Video sieht man anders. Über die Verwendung von Videoaufnahmen im Unterricht“, in: üben & musizieren 5/2012, S. 31-34, www.uebenundmusizieren.de/artikel/mit-dem-video-sieht-man-anders (Stand: 1.6.2021).
3 vgl. Anselm Ernst: Lehren und Lernen im Instru­mentalunterricht. Ein pädagogisches Handbuch für die Praxis, Mainz 2013, S. 27.
4 vgl. Horst Siebert: Pädagogischer Konstruktivismus. Lernzentrierte Pädagogik in Schule und Erwachsenenbildung, Weinheim 32005.
5 vgl. Herbert Blumer: Symbolic Interactionism, Perspective and Method, Berkeley 1969.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2021.