Herbst, Sebastian

Potenzial von Quatschphasen

Der Kommentar

Rubrik: Kommentar
erschienen in: üben & musizieren 4/2021 , Seite 33

Die (Fachbereichs-)Konferenz, der Gruppenunterricht oder die Ensembleprobe – alle diese für die Musikschularbeit üblichen Gruppenkommunikationssituationen scheinen in einigen wesentlichen Punkten übereinzustimmen: In einer Konferenz trudeln die Kolleginnen und Kollegen nach und nach ein; man schenkt sich noch einen Kaffee oder Tee ein, begrüßt die eine oder andere Kollegin und bespricht im Vorfeld mehr oder weniger wichtige berufliche oder private Themen, die außerhalb der Tagesordnung der Konferenz liegen. Ähnlich gilt dies für eventuelle Pausen sowie für das Verlassen der Konferenz im Anschluss an die offizielle Verabschiedung.
Im Präsenzunterricht und in Ensembleproben vor Ort lässt es sich vergleichbar be­obachten: Die Schülerinnen und Schüler kommen nach und nach in den Raum, begrüßen und unterhalten sich, lachen, spielen, packen ihre Instrumente aus, stimmen sie und spielen sich ein – eine zum Teil von Lehrenden als anstrengend erlebte, aber absolut natürliche und erfreuliche Geräuschkulisse. Und auch hier ist nach dem offiziellen Probenende nicht einfach Schluss: Es ergeben sich eine Vielzahl von anschließenden Kommunikations- und Interaktionssituationen in Kleingruppen, bis diese nach und nach ausklingen.
Dieser natürliche und aus meiner Sicht absolut notwendige Auf- und Abbau einer Gruppenkommunikationssituation im Ein- bzw. Ausstieg scheint im digitalen Raum häufig wegzufallen. Es geht gleich zur Sache und wenn die Tagesordnungen abgearbeitet bzw. die Unterrichts- oder Probenzeit vorüber ist, geht es auch gleich wieder aus der Sache heraus. Ein kurzes individuelles „Hallo“ beim Nacheinander-Eintreten in den Meetingraum, eine mithilfe von Handzeichen vermittelte Abfrage des ­Gesundheits- bzw. Gemütszustands und eventuell zwei bis drei individuelle Berichte einzelner Personen müssen meist zum Einstieg genügen. Der Ausstieg fällt häufig noch kürzer aus: Einer eventuellen Reflexionsrunde folgen oft nur noch kurze, chorisch geäußerte Verabschiedungsfloskeln, gepaart mit einem Winken in die Kamera, bevor die Kommunikationssituation durch einen Klick auf „Meeting beenden“ von Hundert auf Null zurückgefahren wird und sich jeder wieder allein im heimischen Arbeits-, Wohn- oder Kinderzimmer bzw. in der heimischen Küche wiederfindet.
Nicht selten hört man insbesondere in Bezug auf Konferenzen, dass nun effizienter, weil zielgerichteter gearbeitet werde, da als nicht notwendig erachtete Zwischengespräche wegfallen. Und sicher kann dieser Eindruck auch für den Unterricht und für Proben gewonnen werden, da Zwischen­gespräche und die Vorbereitung der mitgebrachten Instrumente zum Teil entfallen. Aber zu welchen Kosten erkauft man sich das Gefühl zielgerichteten Arbeitens?
Aus meiner Sicht geht dies mit einem negativ zu bewertenden Quatschverlust in mehrfacher Hinsicht einher: Weniger Quatschen führt zu weniger neuen und zufällig entwickelten Ideen, weniger Quatschen führt zu weniger Feedback an Lehrende bzw. Proben- oder KonferenzleiterInnen und weniger Quatschmachen in dafür vorgesehenen Phasen kann zur Reduzierung der Motivation und Konzentration in Arbeitsphasen führen. Klagen über als unkonzentriert oder störend wahrgenommene Schülerinnen und Schüler in Videokonferenzen hängen damit zusammen.
Insbesondere in einer Zeit wie dieser, in der die soziale Interaktion im nicht digitalen Raum auf ein Minimum begrenzt sein muss, sollte den kommunikativen Bedürfnissen der TeilnehmerInnen Raum gegeben werden. Die gemeinsame Videokonferenz ist zurzeit meist die einzige Gelegenheit, in der Personen einer festen, größeren Gruppe zusammenkommen; und damit die einzige Gelegenheit, in der in dieser Konstellation gequatscht und Quatsch gemacht werden kann.
Es wäre gut, Möglichkeiten zu finden, wie die üblichen Räume zum Quatschen und Quatschmachen auch im digitalen Raum hergestellt werden können. Die vermehrte Verwendung interaktiver Formate der synchronen Zusammenarbeit sowie die Bereitstellung von frei wählbaren oder gar von den Teilnehmenden interaktiv selbst zu ge­nerierenden und wechselbaren Quatsch­räumen (z. B. über die Plattform wonder.me) wären sinnvoll, um den Bedürfnissen der TeilnehmerInnen gerecht zu werden. Erst auf diese Weise ist effizientes Arbeiten überhaupt denkbar, da sich die Effizienz von Konferenzen, aber insbesondere von Musizierproben und -unterricht nicht an der Menge abgearbeiteter Gegenstände messen lässt.

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