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Lätzer, Raika

Gleichwürdig und respektvoll

Überlegungen zu einer inklusionsorientierten Instrumental- und Gesangspädagogik

Rubrik: Diskussion
erschienen in: üben & musizieren 4/2021 , Seite 44

Bei Überlegungen zu Inklusion in der Instrumental- und Gesangspädagogik geht es meist um den Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen, mit unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Hintergründen, um Gender­sensibilität oder Heterogenität im Gruppenunterricht. Jedoch spielt Inklusion auch im traditionell orientierten Einzel­unterricht eine zentrale Rolle. Raika Lätzer spürt den Möglichkeiten inklusionsorientierten Instrumental- und Gesangs­unterrichts nach und untersucht den Einzelunterricht auf seine inklusiven Potenziale.

Der Begriff Inklusion stammt von dem lateinischen Verb „includere“ (= einschließen). Und in der Tat lässt sich Inklusion grundsätzlich zusammenfassen als „Einschluss“: Alle Menschen haben teil, alle Menschen können mitmachen und alle Menschen gehören dazu. Im Gegensatz zu den Begriffen „Integra­tion“ oder „Assimilation“ geht Inklusion per se von einer heterogenen Gesellschaft mit vielfältigen und individuellen Mitgliedern aus. Zusätzlich beschränkt sich Inklusion in einem umfassenderen Verständnis nicht auf gesellschaftliche Teilhabe. Inklusion zielt vielmehr auch auf eine umfängliche Gleichberechtigung und Partizipation aller Menschen ab.1 Inklu­sion ist grundsätzlich wertneutral.2 Die in der Regel positive Konnotation des Begriffs entsteht durch den Zusatz, der mit dem Begriff der Inklusion mitgedacht wird: Inklusion bezieht sich auf eine Gesellschaft, ein bestehendes System oder eine Dominanzkultur und damit auf die sogenannte gesellschaftliche Teilhabe.
In der realen gesellschaftlichen Umsetzung ist Inklusion ausgesprochen vielschichtig, wandelbar und wechselhaft. Inklusion kann es nie ohne Exklusion geben. Inklusion ist subjektiv, mehrdimensional und situationsgebunden. Manche Situationen, Äußerungen und Gegebenheiten wirken für einige Menschen in- und für andere exkludierend. Manche Exklusivitäten sind bewusst herbeigeführt und erwünscht wie etwa exklusive Restaurantbesuche oder Reisen. Allerdings wirkt Exklusivität auch und insbesondere auf Menschen zurück, die ungefragt exkludiert sind – es entsteht Exklusion.

Zur Exklusivität einer Musizierform

Grundsätzlich ist Instrumental- und Gesangsunterricht für alle Menschen offen: Angesichts des grundrechtlich verankerten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (Art. 3 GG) dürfen Kinder, Jugendliche und Erwachsene aller ethnisch-kulturellen Hintergründe, Hautfarben und Geschlechter, aller körperlichen und psychischen Fähigkeiten, Abstammung, Altersstufen und Religionen nicht benachteiligt werden.3 Positiv formuliert: Alle Menschen müssen grundsätzlich Instrumental- und Gesangsunterricht besuchen dürfen.
Über diese generelle Offenheit hinaus ist Ins­trumental- und Gesangsunterricht allerdings an Voraussetzungen geknüpft: Es bedarf der Fähigkeit, eine Lehrkraft ausfindig zu machen, Kontakt mit der Lehrkraft aufzunehmen, ein Unterrichtsvertrag muss unterzeichnet werden, es muss der Unterrichtsort aufgesucht und die Unterrichtsgebühr entrichtet werden. Hierfür braucht es in der Regel Medien-, Lese-, Schreib- und Sprachkompetenzen, Geschäftsfähigkeit oder gesetzliche VertreterInnen, keinen Freiheitsentzug und Liquidität seitens der SchülerInnen. Doch diese Voraussetzungen können nicht alle Menschen erfüllen: Verschiedene Formen von Beeinträchtigung erschweren oder ver­unmög­lichen Kontaktaufnahme und Unterrichtsbesuch. Instrumental- und Gesangsunterricht wird überwiegend von Kindern aus bildungsnahen Familien4 oder sozial und wirtschaftlich gut gestellten Erwachsenen besucht.
Hieran anknüpfend haben viele Menschen im Zusammenhang mit Ins­t­rumental- und Gesangsunterricht eine große Hemmschwelle, da „klassische Musik“ im allgemeinen Verständnis als exklusive „Hochkultur“ betrachtet wird. Und vielen Kindern sind manche Fächer aufgrund eines komplexen Gemischs aus gender- und kulturspezifischen Gründen als unangemessene Möglichkeit musikalischer Betätigung verwehrt (z. B. Ballett für Jungen oder Tuba für Mädchen). Instrumental- und Gesangsunterricht ist somit bei genauerer Überlegung nur für eine gewisse Anzahl an Menschen grundsätzlich offen.
Zur grundsätzlichen Exklusivität von Instrumental- und Gesangsunterricht treten Personen hinzu, die über eine Teilnahme am Ins­trumental- und Gesangsunterricht entscheiden können: Instrumental- und GesangspädagogInnen sind zumindest teilweise in der Lage, SchülerInnen abzulehnen. Jedenfalls aber sind sie immer in der Lage, den Instrumental- und Gesangsunterricht so zu gestalten, dass der Kreis der SchülerInnen vielfältig und heterogen ist und bleibt – oder eben nicht. Anders formuliert: Jeder Unterricht ist so inklusiv wie die Lehrperson.
Jede Lehrkraft ist also persönlich für den Grad der Inklusionsorientierung ihres Instrumental- und Gesangsunterrichts verantwortlich: Die Website kann barrierefrei gestaltet sein, die Räumlichkeiten können barrierefrei zugänglich sein, eine gestaffelte Gebührenordnung oder (Teil-)Stipendien können den Unterricht für Menschen mit geringerem Einkommen finanzierbar machen. Noten in Braille-Notenschrift und vergleichsweise wenig komplexe Werke für Menschen mit Lernbeeinträchtigungen können angeboten werden, ebenso Werke mit vereinfachter Notenschrift oder Audioaufnahmen zum Üben zu Hause. Kopfhörer für Menschen mit eingeschränkten Hörfähigkeiten können bereit gehalten werden, Onlineunterricht erlaubt Menschen mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit die Teilnahme, ein Hinweis auf das BUT (Bildungs- und Teilhabepaket) kann manchen Familien die Finanzierung erleichtern und mehrsprachige Flyer mit sprechenden Bildern laden auch Menschen mit nicht-deutscher Muttersprache zum Instrumental- und Gesangsunterricht ein. Nicht zuletzt können Flyer in Flüchtlingsunterkünften, förderpädagogischen Einrichtungen, Jugendzentren, Frauenhäusern und Familienzentren ausgelegt und über deren Verteiler verbreitet werden, um eine Vielzahl von Menschen zu erreichen.

1 vgl. Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberech­tigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik, Wiesbaden 1993/ 2019, S. 4; Karsten Herrmann/Meike Sauerhering/ Susanne Völker: Vielfalt leben und erleben! Chancen und Herausforderungen der Heterogenität, Osnabrück 2018, S. 11.
2 vgl. Matthias Burchardt: „Inkludieren“, in: Franz Kasper Krönig (Hg.): Kritisches Glossar Kindheitspädagogik, Weinheim 2018, S. 130.
3 vgl. auch Irmgard Merkt: „Das Musizierquadrat des guten Tons. Inklusion und Integ­ration in der instrumentalen Musikpädagogik“, in: Katharina Bradler (Hg.): Vielfalt im Musizierunterricht. Theoretische Zugänge und praktische Anregungen, Mainz 2016, S. 135-150, hier: S. 136.
4 vgl. Kirsten Witt: „,Mein Haus, mein Auto, mein Geigenunterricht‘ – Distinktionspotenziale Kultureller Bildung. Ein Tabuthema und wie wir trotzdem gute Bildungsarbeit machen können“, 2012/2014, www.kubi-online.de/artikel/mein-haus-mein-auto-mein-geigenunterricht-distinktionspotenziale-kultureller-bildung (Stand: 16.6.2021).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2021.