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Laack, Isabel

Sich beheimaten in religiösen Traditionen

Anregungen für die musikalische Praxis

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2021 , Seite 10

Sind Sie religiös musikalisch? Viele Menschen fühlen sich nicht mehr in einer religiösen Tradition zuhause. Musikalische Praxis kann helfen, Gefühle von Gemeinschaft, Verbundenheit und Zugehörigkeit zu entwickeln und langfristig eine körperlich-sinnlich empfundene Beheimatung in einer religiösen Tradition aufzubauen.

Ich schreibe diesen Beitrag aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft. Reli­gionswissenschaftliche Lehre und Forschung folgt dem Ideal, religiösen und säkularen Weltanschauungen wertneutral gegenüberzutreten, sowohl in Fragen der religiösen Wahrheit als auch in der ästhetischen Wertung von Kulturpraktiken und Medien. Sie vertritt keine eigene religiöse oder ästhetische Position, anders als die christlichen Theologien. Und anders als die Interkulturel­le Theologie beteiligt sich Reli­gionswissenschaft nicht aktiv am interreligiösen Dialog, außer als Mediatorin, als Übersetzerin kulturell-religiöser Ausdrucksweisen der beteiligten AkteurInnen oder als außenstehende Ins­tanz zur Reflexion der kommunikativen Prozesse. Allerdings gibt es eine anwendungsbezogene Religionswissenschaft, die in Deutschland zugegebenermaßen recht klein ist und bisher nicht im Bereich meines Profils liegt. Aber für diesen Artikel lasse ich mich gerne auf die Frage ein, welche Erkenntnisse meiner Forschung über Religion und Klang für die musikalische Praxis relevant sein können.
Welche Anregungen kann ich der Zielgruppe dieser Zeitschrift, sprich MusikpädagogInnen, MusikstudentInnen und HochschuldozentInnen, darunter eventuell auch KirchenmusikerInnen geben? Zur Beantwortung dieser Frage lasse ich mich auch von meinen eigenen praktischen Musikerfahrungen und meiner nebenberuflichen Ausbildung zur Kirchenmusikerin (Orgel und Chorleitung, C-Prüfung, in der Evangelischen Kirche Deutschlands) inspirieren.
In diesem Artikel skizziere ich zunächst Forschungs­ergebnisse über die Bedeutung des Körpers, der Sinne und von Medien wie Musik für die religiöse Praxis und die Bildung von personalen und gemeinschaftlichen Identitäten. Darauf aufbauend entwickele ich drei Anregungen: Erstens ist gemeinsames Musizieren und der Musikunterricht ein wichtiges Medium, um Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen der heutigen Zeit zu ermöglichen, sich in ihrer eigenen religiösen Tradi­tion zu beheimaten, sich in einem sinnlich empfundenen religiösen Zuhause zu verwurzeln. Zweitens ermöglicht das Musizieren, sich mit fremden religiösen Traditionen auseinanderzusetzen und damit eine größere Offenheit gegenüber den Lebenswelten von MigrantInnen aus kulturell weit entfernten Kulturen und Religionen zu entwickeln. Schließlich kann das gemeinsame Musizieren mit anschließender Reflexion der Erfahrungen ein Weg des interreligiösen Dialogs sein.

Religiös mit Körper und Sinnen

Unser Alltagsverständnis von Religion bezieht sich meist auf religiöse Inhalte in Form sprachlicher Äußerungen, Weltdeutungen, Glaubensvorstellungen und theologischen Ausführungen. Das ist eine typisch moderne euro­päische Vorstellung von Religion mit Wurzeln im Protestantismus und der Aufklärung. Auch die Religionswissenschaft war lange von diesem Bild geprägt und beschäftigte sich hauptsächlich mit der Interpretation sogenannter Heiliger Schriften. Erst in den letzten Jahren entdeckte die Forschung die mit allen Sinnen gelebte Alltagsreligiosität. Für die meisten Menschen ist die kog­nitive Ebene nicht die einzige Dimension ihrer Religiosität; sie hat sogar oft eine weitaus geringere Bedeutung als sinnliches, körperliches Erleben und der Umgang mit materiellen Gegenständen und Medien wie Bildern und Musik.
Unser Umgang mit Körper, Sinnen und Medien, unsere Sinneswahrnehmungen, deren kognitive Verarbeitung und Interpretation wie auch ästhetische Wertungen werden von unserer Kultur geprägt. Viele Kulturen und religiöse Traditionen bevorzugen bestimmte Sinne und entwickeln Sinneshierarchien. Sie erzeugen charakteristische Sinnesprofile, Körperbilder und auch Körpertechniken:1 Wie gehe ich mit meinem Körper um? Was gilt als intime Zone, was als Tabubereich? Wie werden körperliche Bedürfnisse bewertet? Welche innere und äußere Haltung vermitteln wir den Kindern? Mit welchen Techniken werden körperliche Regungen hervorgerufen oder unterdrückt? In allen sinnlichen Handlungsformen kommt es zu einem Wechselspiel der Sinnesprofile und Körpertechniken aus dem jeweiligen größeren Kulturraum und den dynamischen Komplexen, die wir als religiöse Traditionen bezeichnen, wie „das Christentum“ oder „der Hinduismus“. Innerhalb dieser Traditionen finden sich Strömungen mit zum Teil starken Unterschieden im Umgang mit dem Körper.
Die meisten protestantischen Kirchen in Deutschland sind von einer rituellen Praxis des stillen Sitzens geprägt, das Wort wird betont, das Zuhören gefördert und andere Sinnesreize reduziert. Das unterscheidet sie von hochkirchlichen Ritualen des Katholizismus oder auch den Gottesdiensten evangelikaler Gruppen, von Freikirchen oder Pfingstkirchen. Die in den Ritualen eingesetzten Körpertechniken steuern unsere Wahrnehmung, können situativ Bewusstsein verändern und uns langfristig zu konkreten Handlungen und Lebensführungen motivieren. Alle religiösen Strömungen entwickeln außerdem Traditionen im Gebrauch von Medien wie Bildern, Statuen, Räucherwerk oder Musikstilen inklusive vielfältiger Auseinandersetzungen über legitimen oder unerwünschten Mediengebrauch – wie der Bilderstreit oder die Debatten über angemessene Musik für die Liturgie im Christentum.

1 vgl. Marcel Mauss: „Les Techniques du Corps,“ in: Journal de Psychologie 32/3-4, o. S.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2021.