Prantl, Daniel / Anila Mannl / Johanna Merker

Wassertropfen und knarzende Türen

Vom Geräusch zum eigenen Stück: Streicherklassen komponieren

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 5/2021 , Seite 30

„Frau Lehrerin, wo sind die Noten?“ – „Heute spielt ihr mal was Eigenes!“ Im herkömmlichen Musikklassen­unterricht werden meist auskomponierte Stücke gespielt. Beim hier dargestellten Projekt erschaffen Schüle­rInnen ihre eigene „Kollektivkompo­sition“1 auf der Basis einer literarischen oder musikalischen Vorlage.2 Die gemeinsam ausgehandelte ästhetische Qualität des Produkts steht dabei von Anfang an im Mittel­punkt.3

Das Projekt wurde mehrfach mit Streicherklassen der Klassenstufen 3-7 im Rahmen des regulären Musikklassenunterichts durchgeführt.4 Bei zwei Unterrichtsstunden pro Woche hat sich eine Gesamtdauer von ca. drei Monaten als sinnvoll herausgestellt. Den Abschluss bildet die Aufführung der Eigenkomposition. Basale Vorkenntnisse am jeweiligen Streichinstrument, aber auch die Offenheit, Neues auszuprobieren, und die Bereitschaft, eigene Ideen begründet zu verteidigen, sind eine wichtige Voraussetzung von Seiten der SchülerInnen. Für die Lehrenden ist es wichtig, sich auch auf ungewohnte Klänge einzulassen und offene Dialogstrukturen im Unterricht zuzulassen. Das Projekt gliedert sich in fünf Phasen (siehe Tabelle 1).

Phase I: Experimentieren mit Klängen und Notationen

Nach einer knappen Einführung in das Gesamtvorhaben und z. B. dem Vorstellen der literarischen Vorlage sollten die SchülerInnen, je nach den Voraussetzungen der Klasse, auf das Erfinden von Klängen und deren Notation vorbereitet werden.
Die SchülerInnen arbeiten in Kleingruppen (instrumentenhomogen, ca. fünf Minuten) an einer Klangfindungsaufgabe: Sie sollen sich überlegen, wie sie ein vorgegebenes Wort oder Bild, welches in Zusammenhang mit der Vorlage steht, an ihrem Instrument realisieren können.5 Anschließend präsentieren die einzelnen Gruppen ihre Klänge, die anderen SchülerInnen sollen jeweils überlegen und begründen, um welchen Impuls es sich dabei gehandelt haben könnte. Die Lehrperson steht in diesem Streitgespräch moderierend zur Seite. Schließlich bringt die Gruppe dem Plenum den Klang bei und bespricht, wieder moderiert von der Lehrperson, wie sich der entwickelte Klang am besten notieren lässt.
Hilfreich ist dabei die Verwendung von Assoziationen. Dabei sollte auf größtmögliche Offenheit bei gleichzeitiger Präzision geachtet werden: Wenn die SchülerInnen den Klang eines Wassertropfens col legno battuto6 realisieren möchten, genügt es nicht, nur einzelne Punkte oder Bögen darzustellen. Wird jedoch zusätzlich ein umgedrehter Bogen gezeichnet und eine von den SchülerInnen gewählte Assoziation notiert, so kann dies ausreichen, um den Klang später wieder abzurufen (vgl. Tabelle 2 und Abb. 1).7

Eine weitere Möglichkeit zur Klangfindung bietet die offene Arbeitsform. Alle Mitglieder der Gruppe verteilen sich im Raum. Eine Situation wird benannt, z. B. „Am Strand“. Jede und jeder überlegt sich einen kurzen und leicht wiederholbaren Klang, beispielsweise Wind durch Pusten in den Korpus des Instruments oder Wellen durch Legato über zwei leere Saiten. Nun wird ein „Dirigent“ oder eine „Dirigentin“ festgelegt. Er oder sie läuft durch die Klasse und kann die einzelnen Klänge durch Antippen der jeweiligen SchülerInnen „einschalten“ oder „ausschalten“, kann also diesen „Wald“ aus verschiedenen Klängen individuell gestalten.8 Nach jedem Durchgang empfiehlt sich ein Wechsel der dirigierenden Person und ein kurzes Unterrichtsgespräch dazu, wie der Klangwald noch ansprechender gestaltet werden kann.

Phase II: Szenen in Kleingruppen vertonen

Im Vorfeld wird die Vorlage in einzelne Szenen oder Themenfelder unterteilt,9 die in Kleingruppen mit drei bis fünf Personen in Klänge und Klangkonstellationen umgesetzt werden. In dieser Phase werden die SchülerInnen besonders herausgefordert, ihre eigene ästhetische Wahrnehmung zu reflektieren und sich darüber auszutauschen. Dies geschieht nach Möglichkeit in getrennten Räumen und instrumental heterogen zusammengesetzten Gruppen.
In der Gruppenarbeitsphase wird zunächst besprochen, welche Elemente in der Szene vorkommen bzw. für die Thematik relevant sind. Anschließend erfinden die SchülerInnen durch Ausprobieren passende Klänge, welche gemäß den Überlegungen aus Phase I notiert werden. Die zeitweise anwesende Lehrperson ist nur in moderierender Form beteiligt. Als hilfreich erwiesen hat sich eine Orientierung an den Prinzipien des „ästhetischen Streits“,10 bei dem es vor allem darum gehen soll, dass jede klangliche Entscheidung wohlbegründet sein sollte. Anschließend sollen die SchülerInnen ihre gefundenen und notierten Klänge in eine zur Szene passende Reihenfolge bringen und diese ebenfalls notieren.
Beispiel: Die SchülerInnen haben zum Kapitel „Regen, wo bist du?“ aus dem Buch Der kleine Wassermann11 zunächst ein Motiv für den Regen erarbeitet, welches mit Fingersätzen auf der D-Saite notiert wurde. Weitere Elemente der Szene – des kleinen Wassermanns Suche nach dem „Regen“ (er denkt, der „Regen“ sei eine Person) sowie sein Rennen bei der Suche – wurden ebenfalls vertont und die drei Elemente zu einer kurzen Klangkonstellation komponiert (Abb. 2).12

1 zum Begriff vgl. Matthias Rebstock: „Notierte Kollek­tive. Funktion musikalischer Notation bei kollektiven Kompositionsprozessen“, in: Hajo Kurzenberger/Hanns- Josef Ortheil/Matthias Rebstock (Hg.): Kollektive in den Künsten, Hildesheim 2008, S. 61-71.
2 z. B. Der Josa mit der Zauberfiedel (Janosch), Ophelias Schattentheater (Michael Ende), Der kleine Wassermann (Ottfried Preußler) oder auch Die Geschichte vom Soldaten (Igor Strawinsky).
3 Der Impuls für die Entstehung des Projekts entsprang Forschungsarbeiten zu ästhetischer Praxis im Streicherklassenunterricht, vgl. Daniel Prantl: „,Die Musikschule im Klassenzimmer‘. Streicherklassen aus der Perspektive von Prozess-Produkt-Didaktik“, in: Bernd Clausen (Hg.): Teilhabe und Gerechtigkeit, Münster 2014, S. 159-173.
4 Im Rahmen der Ausbildung Lehramt Musik an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig wird das Projekt seit mehreren Jahren in Kooperation mit dem Gewandhaus zu Leipzig und verschiedenen Leipziger Streicherklassen durchgeführt.
5 Bei Bedarf kann die Übung auch auf einer eher lehrendenzentrierten Ebene durchgeführt werden: So gibt beispielsweise eine Lehrperson unbekannte Spieltechniken als Vorschläge für die Impulse und bespricht im Plenum Fragen zur Notationsweise.
6 Mit dem Holz des Bogens auf die Saite geschlagen.
7 Zur Verwendung von Fachbegriffen vgl. die Überlegungen bei Anselm Ernst: Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht. Ein pädagogisches Handbuch für die Praxis, Mainz 2012, S. 73-74 zum methodischen Prinzipienpaar Anschaulichkeit – Begrifflichkeit und bei Christian Rolle und Christopher Wallbaum: „Ästhetischer Streit im Musikunterricht“, in: Johannes Kirschenmann/Chris­toph Richter/Kaspar H. Spinner (Hg.): Reden über Kunst, München 2011, S. 507-535, hier: S. 519 zur Rolle der Kontextinformation bei Gesprächen über die ästhetische Qualität von Klangereignissen.
8 Ein Video zu dieser „Klangwald“-Übung ist zu sehen unter https://klangwald.comparing.video (Stand: 17.8.2021). Neben diesem liegen weitere Videoaufnahmen meist von ganzen Unterrichtseinheiten des Projekts in verschiedenen Realisierungen vor, deren Veröffentlichung in Vorbereitung ist. Bei Interesse kontaktieren Sie gerne den Erstautor des Artikels.
9 zum Beispiel ausgewählte Szenen bzw. Kapitel oder auch zentrale Themenfelder der Vorlage – etwa das Figurenpaar Soldat/Teufel oder die Rolle von Tänzen bei der Geschichte vom Soldaten (Strawinsky) bzw. die Tiere, der Mond und die Figur des Königs bei Der Josa mit der Zauberfiedel (Janosch).
10 Zum „ästhetischen Streit“ als Terminus für die verbale Aushandlung der ästhetischen Qualität von Klangwahrnehmungen vgl. Rolle und Wallbaum 2011. Als beobachtende Lehrperson kann es hilfreich sein, auf die Einhaltung der dort genannten Kriterien zu achten: So sollte der persönliche Höreindruck zentraler Gesprächsgegenstand bleiben, eine symmetrische Kommunika­tionsstruktur angestrebt werden und die Argumente entweder auf die Veränderung des Produkts oder die Veränderung der Sichtweisen auf dasselbe abzielen. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang die anschaulichen Beispiele bei Rolle und Wallbaum 2011, S. 510-515.
11 Ottfried Preußler: Der kleine Wassermann, Stuttgart 2013, S. 45-49.
12 Zur Diskussion, ob solche Prozesse als „Komponieren“ bezeichnet werden können, vgl. Andreas Doerne: Umfassend musizieren. Grundlagen einer Integralen ­Instrumentalpädagogik, Wiesbaden 2010, S. 84, der eine Komposition als „ein aus Klängen (Tönen und/oder Geräuschen) zusammengesetztes Artefakt, das als Folge der Entäußerung des schöpferischen Wollens eines Menschens entsteht“, versteht.

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