© Katharina Meier

Mahlert, Ulrich

„Interreligiöses Singen“

Gespräch mit Bernhard König über das Projekt „Trimum“

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 5/2021 , Seite 52

Bernhard König ist als Komponist, Interaktionskünstler und Musikpädagoge bestrebt, Musik in der Arbeit mit diversen Zielgruppen gesellschaftlich wirksam werden zu lassen. Besondere Anliegen sind ihm das gemeinsame Singen von Gläubigen verschiedener Religionen und der Beitrag des Musizierens zu einem gedeihlichen Zusammenleben von Menschen diverser Herkunftsländer. In jüngster Zeit beschäftigt er sich verstärkt mit der Frage, wie Musikerinnen und Musiker fantasie- und verantwortungsvoll im Zusammenhang mit der absehbaren Klimakatastrophe handeln können.

Lieber Herr König, Sie sind Initiator des 2012 unter dem Dach der Internationalen Bachakademie Stuttgart ins Leben gerufenen Projekts „Trimum“, in dem Christen, Juden und Muslime gemeinsam mit- und voreinander singen. Sie haben dafür den Begriff „interreligiöses Singen“ gefunden. Können Sie diesen Begriff bitte etwas erläutern?
Um den Begriff sinnvoll verwenden zu können, müssen drei Dinge gegeben sein. Erstens, dass die beteiligten Menschen verschiedenen Religionen angehören. Dies genügt aber nicht, denn das kann ja beispielsweise auch in einem Sinfonieorchester der Fall sein, ohne dass es sich deshalb als interreligiöses Ensemble verstehen würde. Die Beteiligten müssen sich deshalb zweitens auch in diesen Religionen verorten und sich mindestens für die Dauer der Zusammenarbeit entscheiden, diese Religion, ihre Werte und Überlieferungen zu repräsentieren. Das heißt nicht, dass alle Mitwirkenden in allen Bereichen ­ihres Lebens praktizierende Gläubige sein müssen. Aber die interreligiöse Begegnung ergibt nur dann einen Sinn, wenn sich ein Großteil der Akteure in diesem Moment als Repräsentant oder Repräsentantin einer Wertegemeinschaft und ihrer Überlieferungen versteht. Erst dies führt nämlich dazu, dass sie in der Summe unterschiedliche Werte und Glaubensinhalte repräsentieren. Drittens bedarf es auch eines gewissen musikalischen Traditionsbewusstseins. Man sollte Freude an der Differenz mitbringen und die eigenen musikalischen Überlieferungen wertschätzen.
Natürlich gibt es auch Beispiele, wo man sich von vorneherein auf eine verbindende musikalische Sprache einigt – das West-Eastern Divan Orchestra beispielsweise oder Battles zwischen christlichen und muslimischen Rappern. Diese ästhetische Vereinheitlichung interessiert uns bei „Trimum“ nicht so sehr. Stattdessen nutzen wir die unterschiedlichen Traditionen, um das Gemeinsame, das Unterschiedliche und das Unvereinbare musikalisch hörbar und gestaltbar zu machen.

„Trimum“ (= „dreijährig“) war zunächst auf die Dauer von drei Jahren angelegt, besteht aber bis heute fort. Können Sie etwas über die Entwicklung und die Verstetigung dieses Projekts sagen?
Begonnen haben wir 2012 als Musikvermittlungsprojekt unter dem Dach der Internationalen Bachakademie Stuttgart. Seit 2015 sind wir ein eigenständiger Verein, der auf allen Ebenen interreligiös und interdisziplinär besetzt ist. Von einer wirklichen Verstetigung kann allerdings leider keine Rede sein. Es ist uns trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen, uns dauerhaft an einem Ort zu beheimaten. Stattdessen hangeln wir uns von einer Projektfinanzierung zur nächsten. Ohne die Bereitschaft einiger weniger, auf eine dauerhafte finanzielle Absicherung des eigenen Lebens zu verzichten, gäbe es uns schon lange nicht mehr.

Als „interreligiöses Chorlabor“ war und ist „Trimum“ offenbar immer auch ein Ort des Experimentierens und der Diskussion. Wie funktioniert diese Interaktion? Gibt es jemanden, der als Leiter fungiert? Wie werden Entscheidungen über die Vorgehensweise und die Gestaltung von Darbietungen getroffen?
Das Leitungskonzept wechselt je nach Zielsetzung und Inhalt. Als „interreligiöses Chorlabor“ haben wir das Format bezeichnet, in dem wir in den ersten Jahren unseres Bestehens gemeinsam der Frage nachgegangen sind, ob und wie ein solches „interreligiöses Singen“ überhaupt möglich ist. Dies geschah anfangs einmal monatlich in monothematischen Workshops unter wechselnder Leitung. Mal tauchten wir einen Tag lang in die jüdisch-sephardische Musik ein, mal in die Welt der klassisch-türkischen Musik oder des gregorianischen Chorals. Einige Jahre später gab es eine Phase, in der aus dem „Chorlabor“ vorübergehend ein kontinuierlich probender „Trimum-Chor“ unter der Leitung von Bettina Strübel wurde, weil wir uns der Herausforderung eines Auftritts auf großer Bühne stellen wollten. Die forschende und experimentierende Arbeit fand in dieser Zeit eher in einem kleinen Team von spezialisierten Profis statt.

Was vor allem erleben Menschen verschiedener Religionen nach Ihrer Erfahrung in einem respektvollen Mit- und Nebeneinander ihrer Singpraxen? Welche Verbindungen gehen Religionen im „interreligiösen Singen“ ein?
Besonders naheliegend ist es ja, im gemeinsamen Singen vor allem nach dem Verbindenden zu suchen. Wir sind bei „Trimum“ von Anfang an ganz bewusst den umgekehrten Weg gegangen: Wir haben uns vor allem mit denjenigen Aspekten auseinandergesetzt, in denen eine Differenz spürbar und greifbar wird. Das kann eine theologische Unvereinbarkeit sein – zum Beispiel der Umstand, dass gläubige Muslime oder Jüdinnen nie in einen Choral einstimmen könnten, in dem Jesus als Gottessohn besungen wird. Es kann aber auch eine ästhetische Differenz sein – zum Beispiel, dass die Koranrezitation, theologisch betrachtet, etwas fundamental anderes ist als unsere christliche Vorstellung von Gesang. In diesen Grenzbereichen kann man sich nicht in einem harmonischen Konsens begegnen, aber man kann die Vielfalt und die Widersprüche mit musikalischen Mitteln gestalten.

Was wird beim „interreligiösen Singen“ gelernt?
Wo das gelingt, was ich gerade beschrieben habe, muss das Fremde und Unvereinbare nicht tabuisiert oder gar bekämpft werden, sondern es kann im Idealfall angstfrei erlebt, gegenseitig wertgeschätzt und miteinander als etwas Schönes besungen und gefeiert werden.

Können bei der Bemühung um interreligiöse Singpraxen auch Widerstände auftreten, etwa das Gefühl, durch Öffnung zur jeweils anderen Religion den Geltungsanspruch der eigenen zu vernachlässigen, vielleicht sogar, sich an ihr zu versündigen? Gibt es spezifische Schwierigkeiten, die Angehörige einer Religion mit dem Singen von Musik einer anderen Religion haben?
Es gibt in jeder Religion Menschen, die den von uns gewählten Weg nicht mitgehen können oder wollen. Da gibt es zum Beispiel den ultraorthodoxen Juden, für den sich das gemeinsame Singen von Frauen und Männern verbietet, den wahhabitischen Muslim, für den jede Musik von vorneherein Sünde ist, oder die evangelikale Christin, die Andersgläubigen nicht anders begegnen kann als in Form von Missionierung. Und es gibt kulturell begründete Widerstände, die sich oft in einer gewissen Scham äußern. Für manche traditionell muslimischen Frauen ist es beispielsweise sehr ungewohnt und ein Stück weit peinlich, sich sängerisch auf einer Bühne zu exponieren. Solche Hürden sollte man unbedingt respektieren. Wir wollen ja niemanden zur Partizipation zwingen.

Welche Formen „interreligiösen Singens“ haben sich im Lauf der Jahre entwickelt?
Viel zu viele, um sie hier alle aufzuzählen. Stellvertretend für diese große Vielfalt nenne ich eine Form, die ich persönlich besonders liebe – vor allem dann, wenn das Publikum kulturell sehr gemischt ist: Wir kommen auf die Bühne, eine 90-minütige Veranstaltung ist angekündigt, wir singen ein Eröffnungslied und erklären dem Publikum dann, dass wir bis auf dieses eine Lied nichts weiter vorbereitet haben. Und dann bitten wir um Vorschläge: Liedwünsche, Gedichte, Geschichten… Alles weitere entsteht dann im Dialog. Man bringt sich die Lieder gegenseitig bei, erfindet spontan neue oder textet Altbekanntes in andere Sprachen um.

Gibt es „Spielregeln“, die beachtet werden sollten?
Vielleicht ist es eine gute Spielregel, sich über die Spielregeln zu verständigen. Was den einen als „normal“ erscheint (zum Beispiel nach Noten zu singen oder eine Probe mit körperbetonten Einsingübungen zu beginnen), kann auf andere höchst befremdlich und verunsichernd wirken.

Aus dem Projekt ist auch ein Liederbuch hervorgegangen. Könnten Sie die Konzep­tion dieses Liederbuchs und die Möglichkeiten seiner Verwendung beschreiben?
Im Liederbuch begegnen sich traditionelle Lieder aus verschiedenen religiösen und kulturellen Traditionen mit neuen Liedern und Neutextierungen aus unserer „Trimum“-Werkstatt. Die traditionellen Lieder wurden so ausgewählt, dass sie interreligiös gut „singbar“ sind, weil sie beispielsweise keine strittigen Glaubensinhalte transportieren, sondern eher das Verbindende thematisieren. Bei den Liedern aus „Eigenbau“ geht es oft eher darum, einen Unterschied zu verdeutlichen oder den interreligiösen Dialog als solchen zu thematisieren.

Was vor allem würden Sie empfehlen, wenn andernorts der Wunsch entsteht, dem „Trimum“-Modell folgend Menschen verschiedener Religionen für „interreligiöses Singen“ zu gewinnen?
Genau dies nicht zu tun: nicht versuchen, „Menschen zu gewinnen“, sondern sich miteinander zu verabreden, um sich gemeinsam auf die Suche zu machen. Dieser kleine Unterschied erscheint mir sehr wichtig. Der Impuls zu derartigen interreligiösen Aktivitäten geht oft von christlichen Gemeinden oder anderen Vertretern der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft aus. Die Vertreter der anderen Religionen finden sich dann automatisch in einer Rolle wieder, in der sie als Minderheit ohnehin schon allzu oft sind, nämlich in der Rolle des Gastes. Viel schöner ist es, wenn jeder mal Gast und jede mal Gastgeberin sein kann. Man kann sogar beides auf einmal sein: Die christliche Kirchenmusikerin stellt den Raum zu Verfügung, gibt die Leitung aber partiell ab, sodass sie in ihren eigenen Räumen zu Gast in einer anderen Kultur sein kann.

Wie sehen Sie die Chancen, mit den Ideen von „Trimum“ auch an Schulen zu experimentieren?
Wir haben bei „Trimum“ ja eine etwas willkürliche Setzung, die für uns in der Anfangszeit wichtig war, damit uns unser Projekt nicht ausufert, die aber in der Schule meines Erachtens nicht funktioniert: den Fokus speziell auf die drei monotheistischen Religionen zu richten. Schulklassen sind ja sehr häufig in sich schon multireligiöse Gebilde und es scheint mir sehr wichtig, mit dem zu arbeiten, was in den Schulklassen selbst oder in ihrem Umfeld an Religion oder Nicht-Religion vorhanden ist. Das haben wir bei „Trimum“ sehr oft getan und Kinder und Jugendliche darin unterstützt, die Religionen ihrer Familien oder Nachbarn zu erforschen und sie beispielsweise in die Rolle von Reportern schlüpfen zu lassen. Auch in einem ganz buchstäblichen Sinn: Für den Deutschlandfunk haben wir mit Kindern und Jugendlichen eine Sendung „Wie klingt, was du glaubst?“ produziert. Aber das geht natürlich auch für die eigene Schülerzeitung oder für das örtliche Lokalradio.

Wenn Sie an die Ausbildung von Musiklehrenden denken – was könnte getan werden, damit der Experimentiergeist, der für Projekte wie „Trimum“ unabdingbar ist, gefördert wird?
Wir arbeiten seit Beginn unserer Arbeit immer wieder intensiv mit verschiedenen Hochschulen zusammen. Besonders fruchtbar sind solche Seminare und Workshops immer dann, wenn zwei Kriterien erfüllt sind: zum einen ein offenes, einladendes Format ohne Frontalvorträge und PowerPoint-Präsentationen und mit so viel schöpferischem Frei- und Spielraum wie nur irgend möglich. Und zum anderen eine möglichst große kulturelle Heterogenität der Beteiligten. Leider ist dieser zweite Faktor ja gerade in der Musikausbildung alles andere als selbstverständlich. So lange sich in der Zusammensetzung der Lehramtsstudierenden nicht die Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegelt, halte ich einen rein akademischen Kontext deshalb für eher ungeeignet, um interreligiöse Begegnung und Interaktion zu lehren. Wir haben deshalb, wo immer es möglich war, Gäste von außen hinzugezogen oder sind raus aus der Hochschule gegangen und haben die Studierenden mit in unseren interreligiösen Chor oder in die Arbeit mit Geflüchteten hineingenommen.

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